Montag, 25. Dezember 2023

Gedanken zu Weihnachten

Vorgestern fünf, gestern acht, heute Mittag schon wieder zwei. Jeden Tag überschlagen sich die unerträglichen Meldungen über schwerverletzte und gefallene Soldaten. Ich verkrafte die Nachrichten mit den Namen und Bildern dieser eben noch lebensfrohen Männer im Alter meiner Kinder nicht mehr. In den sozialen Medien folgen oft Fotos der Gefallenen mit ihren Freundinnen oder ihren Verlobten, Bilder von Beerdigungen mit gebrochenenen Familien, oder herzzerreissende Abschiedsbriefe – in extremster Widersprüchlichkeit mit Posts über Weihnachtsdekorationen, Rezepten für Christstollen, oder sonstigen Oberflächlichkeiten. Ich scrolle immer schneller, aber es nützt nichts. Die Schreckensmeldungen sind nicht zu übersehen und die Posts über Oberflächliches drängen sich dazwischen und fühlen sich an wie Ohrfeigen.
An die Posts über Gefallene und Vorschläge für Weihnachtsgeschenke schliessen sich klägliche Ausrufe für die Freilassung der Geiseln. Es schnürt mir die Kehle zu, wenn ich daran denke. Werden sie ihre Familien wiedersehen? Oder werden sie, wie die zwei Israelis, die aus Versehen vor Jahren die Grenze zu Gaza übertreten haben, nie mehr zurückkommen? (Während bis zum 7. Oktober täglich Zigtausende Arbeiter aus Gaza nach Israel ein- und natürlich problemlos wieder zurückreisen konnten)
An Israels Grenzen im Süden, im Norden und auch im Osten folgen Angriffe und militärische Aktionen im Minutentakt, so schnell, dass man gar nicht mehr auf dem Laufenden sein kann. Ich will es auch gar nicht mehr wissen. Wenn der Weltkrieg ausgebrochen ist, werde ich es schon erfahren.
Die ganze Katastrophe wird begleitet und untermalt von absurden Medienberichten und Kommentaren, im In- sowie im Ausland. Alle haben eine Meinung. Alle geben ihren Senf dazu. Die Linken sind schuld, die Rechten sind schuld. Israel soll dies, Israel soll das. Alle schlagen sich die Köpfe ein.

Tel-Aviv im Dezember 

Ich mag im Moment gar nichts mehr. Zum Glück regnet es und ich verbringe das Wochenende, indem ich mir eine Serie und mehrere Filme ansehe.

Aber die Kinder kommen zu Besuch und holen uns zurück in die Realität. Wir diskutieren über Sinn und Unsinn des Krieges, über die Opfer auf allen Seiten, über Nationalismus, über Sinn und Unsinn der Religionen. Über fragliche Hoffnung, für die Geiseln, für uns, für die Soldaten. Über die Zukunft und darüber, was Jüdischsein bedeutet. Was Jüdischsein für Israel bedeutet und welche Wichtigkeit es für uns hat.  

Es gibt so viele Narrative, sogar in der eigenen Familie. Jeder hat andere Ideen und Vorstellungen, aber mir scheint, dass keiner mehr so richtig von irgend etwas überzeugt ist. Unsere Weltordnung ist in ihren Grundfesten erschüttert worden. Wir sind verwirrt und es wird mit jedem Tag schlimmer. Rennen wir nicht mit dem Kopf gegen die Wand? Ich weiss nicht mehr, was wirklich wichtig ist und warum man für Werte, die doch selbstverständlich sein sollten, so viele Menschen opfern muss. Und ausgerechnet ich, die ich als Christin geboren wurde, versuche meinen Kindern zu erklären, warum Jüdischsein mehr bedeuten könnte, als die religionslosen, materialistischen Lebensformen, die in Westeuropa gängig sind. Doch ist das vielleicht auch nur ein Narrativ? Ich habe keine Antworten mehr. Wäre es nicht einfacher, den Bettel hinzuschmeissen?

Ja, vor allem ich. Warum um Himmels willen habe ich meine Familie gerade in dieser vermaledeiten Region gegründet? Diese Frage begleitet mich, seit ich in Israel lebe. Aber jetzt ist es nicht mehr nur ein Gedankenspiel, sondern es geht um Leben und Tod. Was hat dieser Krieg mit mir zu tun? Ich hätte an den Wendepunkten meines Lebens eine oder zwei andere Türen wählen können und schon wäre alles ganz anders gekommen.

Ich könnte heute Abend mit meiner Familie in irgendeinem friedlichen westlichen Land unter einem schön geschmückten Weihnachtsbaum sitzen. 
Ich könnte, Weihnachtsgebäck futternd, denken:
Na ja, es gab schon bessere Zeiten.
Dann noch einen Zimtstern: 
Ja, es stimmt schon, die Kriege rücken näher. 
Noch etwas Sekt:
Aber immerhin sind sie doch noch einige Tausend Kilometer weit entfernt. 

Ich versuche mir vorzustellen, ob das wirklich eine Alternative wäre und wie sie sich anfühlen würde. Und vor allem – ob ich damit zufrieden wäre?

Samstag, 16. Dezember 2023

Unsere Neunzehnjährigen


Liebe Leser, wie geht es ihren Kindern? Insbesondere ihren Neunzehnjährigen? Ich hoffe, es geht ihnen gut. Vielen neunzehnjährigen Israelis geht es gerade nicht so gut.

Unzählige Israelis leiden und sterben jeden Tag in diesem Krieg, den wir nicht gewollt haben. Dutzende Opfer nur letzte Woche. Täglich fallen Soldaten im Kampf, in unerträglicher Häufigkeit. Lang vermisste Geiseln werden tot aufgefunden. Elia, Eden, Nik, Ron, Inbar, Alon, Yotam und Samar, alles junge Menschen, die am 7. Oktober aus den Kibbutzim, den Armeestützpunkten oder von dem Musikfestival von der Hamas brutal verschleppt worden sind, konnten in diesen Tagen nur noch tot aus Gaza geborgen werden. Ich verfolge einige der Meldungen in den Medien, aber sie überschlagen sich, es sind so viele und sie folgen so schnell. Ich komme wirklich nicht mehr nach mit zählen.



Doch die Meldung über den neunzehnjährigen gefallenen Soldaten Eran Aloni schockiert mich ganz besonders. Das Foto – sein Gesicht – es schnürt mir die Luft ab. Ein unschuldiges Kind, mit Flaum auf den Wangen.
Niemand sollte in Kriegen sterben, bestimmt keine Kinder. Auch keine neunzehnjährigen Kinder.

Doch diese Woche sind nicht nur Eran, sondern auch die neunzehnjährigen Soldaten Oz, Oriya und Achia in Gaza im Kampf gefallen.

Zwei weitere neunzehnjährige Soldaten, Nik Beizer und Ron Sherman, mussten tot aus Gaza geborgen werden. Sie sind in palästinensischer Gefangenschaft ermordet worden. Es kursierten Videos, wie sie am 7. Oktober noch lebend von Terroristen verschleppt worden sind. Zwei Monate der nervenzermürbenden Hoffnung der Familien, ihre Kinder wiederzusehen, sind zu Ende.

Über den Verbleib der neunzehnjährigen Geisel Naama Levy hingegen weiss man weiterhin nichts. Naama ist das Mädchen aus dem Hamas-Video, das mit gefesselten Händen, blutverschmierter Hose und nackten Füßen an den Haaren vom Rücksitz eines schwarzen Pickups gezogen wird.



Auch in Gaza geht es den Neunzehnjährigen bestimmt nicht gut. Doch diese – überhaupt die Palästinenser aller Altersklassen – entfernen sich, so scheint mir, gerade immer weiter von einem Weg, der irgendeine Verbesserung der Lebensumstände mit sich bringen könnte. Keine Hoffnung für sie, und damit leider auch für uns.

Das zuverlässigste Meinungsforschungsinstitut auf palästinensischer Seite, das PCPSR, veröffentlichte neuerlich die Ergebnisse von Umfragen, die nach dem 7. Oktober durchgeführt worden sind. Die Resultate sind haarsträubend: Die Zustimmung zu dem Massaker unter den Palästinensern ist eindeutig, die Zustimmung zur Hamas – die einen klaren Sieg erringen würde, wenn nächste Woche Wahlen abgehalten würden – ist enorm. Mehr als zwei Drittel der Menschen im Westjordanland befürworten weitere Angriffe, und im Gazastreifen ist die überragende Mehrheit dafür. Eine Mehrheit von zwei Dritteln der Bevölkerung ist für den bewaffneten Kampf, nur ein Fünftel für Verhandlungen. Ebenfalls zwei Drittel lehnen die Idee einer Zwei-Staaten-Lösung ab. 
Und: Die überwältigende Mehrheit ist der Meinung, dass die europäischen Großmächte ihren moralischen Kompass verloren haben. (Quelle: https://www.pcpsr.org/en/node/961)

So wird der palästinensische Nationalismus auch in absehbarer Zukunft weiterhin scheitern.
Weh unseren Kindern!


Montag, 11. Dezember 2023

Lege deine Hand nicht an den Knaben

Die Bücher, für welche ich mir die Mühe gemacht habe, sie in der hebräischen Originalausgabe zu lesen, kann man an einer Hand abzählen. Eines davon ist die Autobiografie des Rabbiners Israel Meir Lau. 

Israel Meir Lau wurde 1937 in Polen geboren und verlor schon als Sechsjähriger seine Eltern in der Shoah. Der kleine „Loulek“ stand auf allen Todeslisten, die das Schicksal bereithalten konnte und die man sich nur erdenken kann. Er sprang dem Tod immer wieder von der Schippe. Nicht umsonst ist der hebräische Titel seiner Autobiografie der Bibelspruch, mit dem Gott Abraham im letzten Moment davon abhielt, seinen Sohn Isaak zu opfern: „Lege deine Hand nicht an den Knaben“. 
Meines Wissens gibt es die Autobiografie nicht in deutscher Übersetzung, wer das Buch auf Englisch lesen möchte, findet es unter dem Titel „Out of the Depths“.

Im Jahr 1945 wurde Israel Meir aus dem Konzentrationslager Buchenwald befreit, nachdem der US-Armee-Rabbiner ihn hinter einem Leichenhaufen versteckt entdeckt hatte. Israel Meir wurde von anderen Überlebenden als achtjährige Waise 1945 nach Palästina gebracht. Er rappelte sich von den Traumata auf und wurde in Israel zu einer führenden Persönlichkeit. Er amtierte viele Jahre als Oberrabiner der Stadt Tel-Aviv und als aschkenasischer Oberrabiner Israels. Israel Meir Lau ist Versinnbildlichung des sprichwörtlichen Phönix aus der Asche, ein Symbol für wundersames Überleben und für einen zutiefst beeindruckenden Neuanfang nach der grössten aller Niederlagen.


Israel Meir Lau bei seiner Ankunft in Haifa im Juli 1945
 

Am vergangenen Donnerstag feierte der dreizehnjährige Ariel Zohar aus dem Kibbutz Nir Oz seine Bar-Mizwa. An der Feier begleiteten ihn Onkel und Tante und sein Grossvater. Ariel ist der einzige Überlebende des 7. Oktober-Massakers seiner Kernfamilie. Die Eltern Jasmin und Yaniv und seine Schwestern Keshet und Tchelet sind alle von den Hamas-Terroristen ermordet worden, während sich Ariel viele Stunden versteckt hielt. Das Haus der Familie wurde zerstört und abgebrannt. Die Geschichte wiederholt sich: Auch Ariel‘s Grossvater war als Vierzehnjähriger schon Waise, seine Eltern wurden von den Nazis ermordet. Vom Grossvater stammen die Gebetsriemen, die der Bar-Mizwa-Junge gemäss Tradition um seine Arme wickelt und die in einer gefährlichen Aktion aus dem verkohlten Haus der Familie im Kibbutz Nir Oz gerettet werden konnten.

Rabbiner Israel Meir Lau war als Ehrengast auf Ariel‘s Bar-Mizwa-Feier.

Israel Meir Lau und Ariel Zohar

 

Ariel, sein Grossvater und Israel Meir Lau sind drei Waisen, drei vom Schicksal Verbundene, drei Glieder einer langen Kette des jüdischen Überlebens. Ich wünsche Ariel von ganzem Herzen, dass er sich aufrappeln wird und dass er, vielleicht von Israel Meir Lau inspiriert, allen Widrigkeiten zum Trotz zu einem aufrechten und standhaften Menschen heranwächst. Für uns alle hoffe ich, dass Ariel Kinder und Enkel haben wird, wie sein Grossvater und wie Israel Meir Lau, dass diese jedoch in einem sicheren Lande Israel nie mehr um ihr Leben werden fürchten müssen.




Samstag, 9. Dezember 2023

Woche 9




Montag, 4.12.

Immer noch werden Leichen identifiziert. Auch heute wird der Tod von weiteren, seit dem 7. Oktober vermissten Israelis bekannt gegeben. 58 Tage der Ungewissheit für die Angehörigen kommen zu einem bitteren Ende.

Bei der Kaffeemaschine in der Firma schenken sich zwei Mitarbeiterinnen ihre Morgen-Cappuccinos ein. Beide weinen, sie sind in Tränen aufgelöst. Na und? Ich wundere mich nicht.

Dienstag, 5.12.

Die Fotos und Namen der Gefallenen werden täglich veröffentlicht. Junge Burschen in ihren Zwanzigern, einige Familienväter. Sieben israelische Soldaten sind gestern gefallen. Das zieht mir den Boden unter den Füssen weg. Der Preis für den Krieg ist zu hoch, schreit es in mir. Doch als ich am Abend die Zeugenaussage einer Überlebenden des Nova-Festivals höre – schreckliche Schilderungen über unvorstellbare Grausamkeiten an lebenden jungen Frauen – weiss ich, dass wir leider keine andere Wahl haben.

Seit frühmorgens gibt es den ganzen Tag Raketenangriffe auf verschiedene Gebiete in Israel. Am Morgen aus Gaza auf Beersheva, am Mittag auf Ashkelon und Tel-Aviv, am Abend auch im Norden aus dem Libanon, von wo die Hisbollah zehn Raketen auf das evakuierte Kiriat Shmona abfeuert. In Ashkelon gibt es Verletzte von einem direkten Treffer auf ein Wohngebäude. In Tel-Aviv fallen Überreste eines Geschosses wenige Schritte von der Wohnung meines Sohnes auf den Gehsteig. Im Internet kursieren später die Aufnahmen eines mindestens 1,5 Meter langen schweren Metallrohres, das aus dem Himmel fällt und dabei zwei Passanten um Sekundenbruchteile verfehlt! Die Hamasniks sind bedauerlicherweise nicht so zuvorkommend wie die IDF – wir werden nicht vorgewarnt. Ja ich weiss, die Iron Domes sind ein grosser Vorteil für uns, doch es ist absurd, dass wir sie überhaupt brauchen. Man bedenke nur die horrenden Kosten dieser lebensrettenden Einrichtung: Jede Iron-Dome-Abwehrrakete kostet 60.000 $. Für die Abwehr jeder einzelnen Rakete, die die Hamas auf uns schickt, werden mehr als 220,000 Schekel verpufft! Wie viel sinnvoller man dieses Geld doch investieren könnte!

Mittwoch, 6.12.2023

Mein Tagebuch stockt. Ein freudloser trauriger Alltag hat sich eingespielt. Alles wiederholt sich in einer scheinbar endlosen 24-Stunden-Schlaufe. Der Geisel-Alptraum hat kein absehbares Ende. Die Raketenangriffe gehen weiter, mehrmals täglich gibt es Alarm. Der bedrohende Lärm der Kampfflugzeuge über unseren Köpfen ist zur Gewohnheit geworden. Jeden Tag die Schreie der Eltern über neue Todesnachrichten. Dann die Beerdigungen. Ich kenne die Soldaten nicht, doch sie könnten meine Kinder oder Angehörigen sein. Mit jedem Namen, jedem Gesicht fühle ich, dass man mir ein Messer im Herzen umdreht. Am 7. Oktober sind 330 israelische Soldaten ermordet worden, weitere 90 sind bis heute gefallen.
An der Arbeit bin ich abgelenkt, aber freudlos. Abends weiss ich nicht, wie ich die Stunden verbringen soll. Wenn ich das Handy anrühre, verbrenne ich mir die Finger und die Seele.

Donnerstag, 7.12.2023

Im Radio wird tagelang ein endloses Wunschkonzert gesendet. Familien und Angehörige widmen ihren Liebsten, die noch immer in Gaza festgehalten werden, ihre Lieblingslieder und -Musik. Auch hier bricht mir jedes einzelne Lied, jede einzelne Geschichte das Herz.

Auf Fokus Jerusalem werden einige der Geiseln vorgestellt:
Der 19-jährige Rom Braslavski
Die 19-jährige Karina Ariev
Die 26-jährigen Zwillinge Ziv und Gali Berman

Die Chance, dass sie nicht mehr wiederkommen, ist gross. Der Gedanke daran ist nicht auszuhalten.

Freitag, 8.12.2023

Freunde treffen? Ins Restaurant gehen? Reisen gar – mein Traum, einen Trek in Nepal zu machen? All unsere Pläne, unsere freudigen Ereignisse, in näherer und fernerer Zukunft, haben sich in Luft aufgelöst. Oder zutreffender: wurden in Blut ertränkt.

Aber der Krieg hat auch seine guten Seiten: man muss keine Fenster mehr putzen, keinen Müll mehr trennen und man darf bedenkenlos vier Sufganiot (Berliner) zu je 500 Kalorien pro Stück vertilgen. Es kommt jetzt wirklich einfach nicht mehr darauf an.

Samstag, 9.12. 2023

Eine weitere der Geiseln ist in Gaza ermordet worden, der 24-jährige Sahar Baruch.

Falls sich jemand meiner Leser fragt, warum ich selbstbezogen über unser Schicksal in Israel schreibe und kein Wort über die Menschen in Gaza verliere – hier einige Worte dazu:

Es kann sein, dass die Menschen in Gaza sehr leiden. Die Bilder der Zerstörung sind schrecklich. Was in Gaza allerdings genau los ist, weiss niemand genau, da alle Informationen von der Hamas stammen und ob die jetzt noch Zeit haben, geflissentlichst Leichen zu zählen, darf man bezweifeln. Aber es sieht nicht gut aus.

Ich muss jedoch wegsehen, ich kann mich mit der Situation in Gaza nicht beschäftigen, denn meine persönliche Schmerzgrenze ist erreicht. Meine Schmerzgrenze ist nach den Beerdigungen der ermordeten und gefallenen Nitzan und Lidor, Yuval, Shir, Yoni und Roee, Freunde meiner Kinder, erreicht. Meine Schmerzgrenze ist seit dem 14. Oktober, an welchem der beste Freund unseres Sohnes von einer Granate in Stücke gerissen wurde und überlebt hat, nicht nur erreicht, sondern bei weitem überschritten. Zusätzlich staucht mich die Aussichtslosigkeit dieses Krieges, in welchem täglich die besten unserer Kinder fallen, so sehr zusammen, dass ich mich kaum noch erheben kann. Ich habe ganz einfach keinen Funken Schmerztoleranz mehr übrig. 

Des Weiteren bin ich vollkommen davon überzeugt, dass die Hamas und die sie unterstützende „Zivilbevölkerung“ die alleinige Schuld an diesem Krieg und allem Leid tragen, das der Krieg mit sich bringt. Schuld an diesem Krieg sind ihre Befehlshaber, ihre politischen Führer und all jene, die den Terror mit Waffen, Geld, Resolutionen, Narrativen und Lügen versorgen. 
Israel trägt insofern Schuld, als es die Gefahr, die sich jahrzehntelang abzeichnete, vernachlässigt hat, wider vermehrter Warnungen aus verschiedenen Richtungen, aus Ignoranz und vor allem wegen innenpolitischer Zerstrittenheit. 
Ich bin vollkommen davon überzeugt, dass es jetzt noch in der Hand der Hamas liegt, diesen Krieg und alles Leid, das er mit sich bringt, umgehend zu beenden. Sie könnten das Feuer einstellen, die Geiseln freilassen und die Anführer könnten sich ergeben. Der Krieg wäre zu Ende. Ich bin auch sicher, dass die Israelis die Ersten wären, friedlichen Palästinensern die Hand zu reichen, um eine sichere Existenz aufzubauen. Niemand von uns sieht gerne Zerstörung und leidende Menschen. Von ganzem Herzen wünschen wir uns friedliche, prosperierende Nachbarn, auch in Gaza. Von ganzem Herzen will ich hoffen, dass das eines Tages möglich sein wird, wenn auch vielleicht in ferner Zukunft.

Freitag, 8. Dezember 2023

Vorbei, doch nicht vorbei

Das 7. Oktober-Massaker ist für uns alles andere als vorbei. Es ist jeden Augenblick unseres Lebens allgegenwärtig und mit den Erkenntnissen über die Grausamkeiten werden der Schock und die Trauer von Tag zu Tag nur noch grösser. Jeden Tag gibt es neue Nachrichten über Ermordete, die man unter den Geiseln glaubte, und umgekehrt. Jeden Tag erfährt man neue Geschichten. Ich schaue kein Fernsehen und versuche mich fern zu halten, doch man kann den Nachrichten nicht entkommen. Sie verfolgen uns aus dem Radio und aus allen Gesprächen, mit den Nachbarn, mit den Bürokollegen, mit den erwachsenen Kindern.
Dieser Beitrag einer Bloggerkollegin umschreibt unsere Situation und die Geschichten sehr eindrücklich.

Sonntag, 3. Dezember 2023

Woche 8



Samstag, 25.11.

Ein ruhiger Wochenendtag zu Hause. Wir haben keine Lust, irgendwohin zu gehen. Der Krieg ist auf Pause, doch die Ruhe ist trügerisch. Das ungute Gefühl, dass es nach der Pause noch viel schlimmer weitergehen wird, lässt uns nicht los. Wir wissen, dass die Hamas-Terroristen in Gaza während der Feuer- und Überwachungspause fleissig am Wiederaufbau ihrer Infrastruktur arbeiten. Um mich abzulenken, räume ich auf und arbeite im Garten. Auch die Fenster sollten dringend geputzt werden, aber macht das im Krieg noch Sinn?

In der arabischen Stadt Tulkarem lynchen Hamas-Anhänger zwei Männer, die sie der „Kollaboration mit Israel“ verdächtigen. Sie hängen die Männer kopfüber an einen Strommast und misshandeln sie zu Tode, dann werfen sie sie zerstückelt in einen Abfallcontainer. Ein blutrünstiger Mob begleitet die Szene mit Allahu Akbar Rufen. Tulkarem ist dreizehn Kilometer Luftlinie von meinem Wohnort entfernt. Man fühlt sich wirklich nicht gerade wohl in dieser Nachbarschaft. Tulkarem gehört zum Westjordanland, dem Gebiet, von dem einige unverbesserliche Friedensanhänger immer noch glauben, dass es zugunsten einer Zweistaatenlösung ein eigener Staat werden sollte. Aber natürlich kann dieser Staat erst zustande kommen, wenn die Region von Juden (den sogenannten „Siedlern“) und von Israelkollaborateuren gesäubert sein wird. Das ist alles so absurd.

Die Geiselfreilassungs-Seifenoper, die man uns täglich für 16 Uhr versprochen hat, wird leider verzögert und wir müssen heute Abend ohne sie schlafen gehen.

Sonntag, 26.11.

Sofort nach dem Aufwachen suche ich nach Nachrichten auf dem Handy. Tatsächlich sind in der Nacht dreizehn weitere israelische und fünf nicht-israelische Verschleppte freigelassen worden. Die Hamas spielen jetzt die humanen Gönner, aber was genau soll human daran sein, Babys, Kinder, Männer und Frauen, alte und kranke Menschen unter unmenschlichen Bedingungen im Untergrund und ohne Verbindung zur Außenwelt monatelang festzuhalten – und sie dann tröpfchenweise freizulassen?

Die Geschichten jeder einzelnen der Geiseln sind unfassbar tragisch. Der Vater der neunjährigen Emily gab zwei Wochen nach dem 7. Oktober-Massaker schluchzend und vollkommen zerrüttet anlässlich eines Presseinterviews seiner Erleichterung darüber Ausdruck, dass Emily tot sei und ihr deshalb die Qualen der Geiselhaft erspart blieben. Später musste er erfahren, dass die Totgeglaubte doch unter den Geiseln war. Niemand kann sich die Höllenqualen vorstellen, die er durchgegangen ist und immer noch durchgeht. Letzte Nacht konnte er Emily nach der Freilassung wieder lebendig in die Arme nehmen. Ob die leidgeprüfte Familie von Emily vor sieben Jahren, als die Mutter an Krebs gestorben ist, wohl geglaubt hatte, das sei das Schlimmste, das sie je erleben würde? Emily’s Adoptivmutter Narkis wurde am 7. Oktober ermordet. Emily hat zweimal eine Mutter verloren.

Von den Geschwistern Maya und Itay, die vor 50 Tagen brutal von dem Musikfestival entführt wurden, ist nun die verletzte 21-jährige Maya wieder in Freiheit – ohne ihren zwei Jahre jüngeren Bruder Itay. Die Kinder Noam und Alma Or sind ohne Eltern zurück in Israel, ihre Mutter wurde von den Hamasniks am 7. Oktober ermordet, der Vater bleibt weiterhin in Geiselhaft. Die Kinder Yahel und Nave werden mit ihrer Mutter, aber ohne den Vater freigelassen. Auch die dreizehnjährige Hila muss ihre Mutter zurücklassen. Niemand garantiert ihnen, dass sie ihre Angehörigen je wiedersehen werden. Wem drängt sich da nicht das Bild der Selektionen auf den Bahnrampen in den Vernichtungslagern der Nazis auf? Du nach rechts! Du nach links!

Siebzehn weitere Freigelassene gibt es heute gegen Abend. Die Erleichterung darüber ist leider keine richtige. Siebzehn weitere, unfassbar tragische Geschichten.

Montag, 27.11.

In meinem Fitnesszentrum hängen seit ein paar Wochen die Bilder von Matan und Adir, zwei 23-jährigen jungen Männern, die hier trainiert haben, bis sie am 7. Oktober ermordet worden sind. Ich mache noch ein paar Liegestützen mehr, für sie.

Wie Fensterputzen ist auch Mülltrennen zu einer Frage geworden, deren Notwendigkeit und Sinn man unter den jetzigen Umständen bezweifeln könnte. Offensichtlich haben andere die Frage schon für mich beantwortet, der Abfall in den Containern quillt nämlich über, es scheint, dass seit dem 7. Oktober nichts mehr abgeholt wird. Das war’s dann wohl für uns, mit dem Umweltbewusstsein.

Zum dritten Mal ist ein Leserkommentar von mir zu Artikeln in deutschen Zeitungen einfach nicht veröffentlicht worden.
Die Meinungsmacherei überrascht mich nicht, doch über die unverfrorenen Ausmasse bin ich schockiert. Meine Ansichten sind nicht fanatisch, aber offensichtlich lässt man lieber Menschen diskutieren, die Hamas und die Israelis in einer „Spirale der Gewalt“ gleichsetzen. Menschen, deren Kenntnis der Situation meist auf gängige Schlagzeilen fundiert. Während ich, Gott bewahre, realitätsbezogene Ansichten haben könnte. Nun gut, dann ziehe ich mich eben aus der öffentlichen Diskussion zurück. Einmal mehr habe ich mir die Finger verbrannt.

Mittwoch, 29.11.

Am Dienstag war ich mit Freundinnen einen Tag wandern. Es tat gut, Städte, Hügel und Wälder aus der Ferne und von oben zu betrachten. Während ich die Silhouette von Tel-Aviv am Horizont bestaune, wünsche ich mir so sehr, ich könnte Abstand halten, von allem, das abläuft. Das scheint von hier, auf diesem friedlichen Hügel und unter dem wunderschönen Olivenbaum, mit Blick auf die Küste Israels von Ashdod bis Herzliya, absolut umsetzbar.



Aber Wünsche sind eines, Realität etwas anderes. Wie soll ich Abstand halten, wenn Bekannte in Gaza stationiert und dem Inferno ausgesetzt sind? Wenn die Nachbarn über ihre ermordete Tochter trauern? Wenn Bekannte meiner Kinder als Geiseln in Gaza festgehalten werden? Jedes Mal, wenn ich mein Handy zur Hand nehme, springen mich die Gesichter und Geschichten der Betroffenen an. Wir sind leider alle mittendrin.

Donnerstag, 30.11.

Am Mittwochabend ging ich mit der Nachricht schlafen, dass die Feuerpause aufgehoben ist , weil Hamas für die abgesprochenen zehn nur sieben lebende und drei tote Geiseln übergeben will. Am morgen danach hingegen vernehme ich aus den Nachrichten, dass die Feuerpause doch verlängert wird, man hat sich über die Zahlen geeinigt. Was für ein Nerven zermürbender, vermaledeiter Deal! Die Manipulationen der Terrorgruppe sind ein grausames Spiel mit dem Leben der Geiseln und den Angehörigen. Was immer beschlossen wird – es ist zu unserem Nachteil und einfach nicht mehr auszuhalten. So viele Menschen werden immer noch festgehalten. Viele werden wahrscheinlich nie zurückkommen. Einige wurden von Zivilisten aus Gaza entführt und sind gar nicht mehr auffindbar. Andere sind vielleicht ihren Verletzungen erlegen oder wurden ermordet.

Heute Morgen ein Attentat in Jerusalem. Palästinenser erschiessen drei Menschen an einer Bushaltestelle. Aber hey, es sind ja nur drei, das ist im Vergleich zu 1.200 absolut nebensächlich. Da können wir gleich zur Tagesordnung übergehen.

Freitag, 1.12.

Seit heute Morgen früh hageln wieder Raketen auf Israel nieder. Zuerst nur im Süden, dann, im Laufe des Tages, ist das ganze Zentrum um Tel-Aviv unter Beschuss. Wir verschanzen uns zu Hause, in der Hoffnung, oder der Illusion, dass wir hier sicher sind. Noch immer werden fast 140 Israelis in Gaza festgehalten. Was wird jetzt, da die Feuerpause und der Geisel-Deal so offensichtlich zu Ende sind, mit ihnen geschehen?

Samstag, 2.12.

Sieben Todesanzeigen werden dieses Wochenende bekannt gegeben, von Israelis, die am 7. Oktober nach Gaza verschleppt und dann ermordet worden sind, wie man aufgrund von Aussagen der Freigelassenen nun weiss. Sieben Familien, deren Hoffnungen nach 55 Tagen zerbersten und die nicht einmal einen Leichnam haben, den sie begraben können.

Unsere Kinder, die in Tel-Aviv leben, verbringen das Wochenende bei uns. Mit ihnen kommen unvermeidlich all die schrecklichen Storys und Nachrichten, die ich in den sozialen Medien zu vermeiden versuche und auch von ihren Freunden und Bekannte, die in Gaza statioiniert sind. Ich bringe beim Shabbatessen kaum einen Bissen runter. Die Gespräche sind gar nicht ermunternd, aber was soll man tun, sollen wir etwa über das Wetter reden?

Als ich schlafen gehe, vibriert mein Handy: Raketenalarm in Tel-Aviv. Das bedeutet, dass unsere Kinder, jetzt wieder in Tel-Aviv, Schutz suchen müssen. In vielen der älteren Häuser in Tel-Aviv gibt es keine Schutzräume. Den Bewohnern wird empfohlen, sich während dem Alarm in den Hauskorridoren aufzuhalten, die eventuellen Raketeneinschlägen am ehesten standhalten und wo auch die Gefahr von zersplitterten Fensterscheiben am geringsten ist. Etwa zehn Raketen feuert die Hamas auf Israels bevölkerungsdichtestes Gebiet ab. Zum Glück können die Raketen vom israelischen Iron Dome vernichtet werden, bevor sie einschlagen, sonst sähe Tel-Aviv vielleicht ähnlich aus wie Gaza. In Holon gibt es Verletzte von herunterfallenden Trümmern. Auch im Norden feuert die Hisbollah immer stärker auf Israel. Die Detonationen in Tel-Aviv und Umgebung hört man bis hierher. Ich liege noch etwas wach, bis die lauten dumpfen Schläge vorbei sind, die Fenster nicht mehr wackeln und die Kinder in Tel-Aviv auf WhatsApp bestätigen, dass sie wieder in ihren Wohnungen sind, dann schlafe ich ein.

Samstag, 25. November 2023

Woche 7

Montag, 20.11.
Wieder werden die Namen von drei Gefallenen bekannt gegeben: der 21-jährige Eytan Dishon, der 20-jährige Dvir Barazani, der 20-jährige Yinon Tamir.
Der israelische Geheimdienst veröffentlicht, dass die im Gazastreifen tot aufgefundene 19-jährige Verschleppte Noa Marciano offensichtlich etwa 40 Tage, nachdem sie entführt worden war, bei einem Angriff der israelischen Armee auf einen Hamas-Terroristen verletzt wurde. Der Terrorist wurde dabei getötet. Noas Verletzungen waren nicht lebensbedrohend, sie wurde jedoch später im Shifa-Spital von anderen Terroristen ermordet.
Am Abend Raketenalarm im Zentrum Israels. Von Rehovot bis Kfar Saba rennen Hunderttausende in die Schutzräume.

Dienstag, 21.11. 
Wieder die Namen von zwei Gefallenen: der 26-jährige Moshe Vaspi, der 20-jährige Ilya Senkin.
Die seit dem 7. Oktober verschollene Shani Gabay wird tot aufgefunden.

Heute Abend soll im Knesset über den Geisel-Deal mit der Hamas abgestimmt werden. 50 Geiseln im Austausch gegen 150 palästinensische Terroristen und Kriminelle. Ausserdem gehören ein vorübergehender Waffenstillstand, Überwachungspausen und die Lieferung von Treibstoff und weiterer humanitärer Hilfsgüter nach Gaza zu dem Übereinkommen. Ich weiss nicht, was ich über den Deal denken soll. Würde ich als Regierungsmitglied dafür oder dagegen stimmen? Jeder einzelne der verschleppten Kinder, Erwachsenen und Alten ist ein wertvoller Mensch und muss nach Hause gebracht werden, darüber gibt es keine Zweifel. Was wird mit den 200 Geiseln geschehen, die bei diesem Deal nicht freigelassen werden? Wird die Hamas bei zukünftigen Verhandlungen den Preis für die von ihnen festgehaltenen Menschen skrupellos in die Höhe schrauben? Wird Israel nach diesem Präzedenzfall überhaupt noch irgendeine Möglichkeit haben, über die Bedingungen zu diskutieren? Welchen Preis wird man das nächste Mal zahlen müssen? Es ist zweifellos ein Pakt mit dem Teufel. Beim Austausch gegen den festgehaltenen israelischen Soldaten Gilad Schalit wurden 2011 mehr als Tausend Inhaftierte freigelassen, darunter Jahja Sinwar, der heute der Führer der Hamas in Gaza ist. 
Bedeutet der Deal auch eine Gefährdung weiterer Menschen? Aufgrund der angeordneten Überwachungspause werden die Hamas-Terroristen Zeit gewinnen, sich neu organisieren und vielleicht den Kopf aus der Schlinge ziehen und sich irgendwo absetzen können. Durch die Feuerpause wird der Krieg länger dauern, und die Hamas wird sich stärken können. So gefährdet der Deal das Leben weiterer Soldaten, die im Gazastreifen kämpfen. Schon 70 Soldaten sind gefallen. Jeder einzelne bricht mir das Herz.
Am Abend wieder Raketenalarm im Zentrum Israels.

Mittwoch, 22.11. 
Wieder die Namen von zwei Gefallenen: der 28-jährige Eitan Rosenzweig, der 25-jährige Liron Snir.
46 Tage, nachdem sie in den Gazastreifen verschleppt wurde, wird die 77-jährige Hanna Kazir tot aufgefunden.
Der Geisel-Deal ist im Knesset angenommen worden. Etwa 50 Geiseln sollen selektiert und freigelassen werden. Ich verwende absichtlich dieses Wort. 240 Menschen werden festgehalten, wie kann man davon 50 zur Freilassung auswählen? Die Kinder? Was ist mit den Jugendlichen? Werden Geschwister zusammenbleiben? Die Angehörigen sollen in den kommenden Stunden informiert werden. Ab morgen sollen an vier Tagen je etwa zehn Geiseln freigelassen werden. Ich kenne keine der Verschleppten oder der Familienangehörigen, aber sogar meine Nerven sind aufs äusserste angespannt. Wie sollen wir diese Tortur überstehen, geschweige denn die Familienangehörigen?

Die Armee soll Anweisungen an Soldaten herausgegeben haben, die den Umgang mit den Geiseln während der Befreiung zum Thema haben. Das kursiert jetzt in den Medien. Es geht dabei vor allem um den Kontakt mit Kindern. In dem Dokument des Gesundheitsministeriums heißt es unter anderem, dass der Soldat/in sich mit Namen und als Mitglied des israelischen Militärs vorstellen und das Kind nach dem Namen fragen soll. Er/sie soll dem Kind erklären, dass es jetzt an einen sicheren Ort gebracht wird. Körperkontakt muss vermieden werden. Ich stelle mir vor, wie man Körperkontakt vermeiden soll, wenn ein zweijähriges Kind nach 48 Tagen Verschlepptsein die Arme ausstreckt und nach den Eltern ruft. Der Begriff „Zuhause“ darf nicht erwähnt werden, denn viele der Geiseln haben kein Zuhause mehr. Auch auf Fragen nach Familienangehörigen soll man nicht eingehen, denn viele der Eltern oder Geschwister sind ermordet worden, zum Beispiel die Eltern von Avigail. Avigail flüchtete am 7. Oktober vor den Terroristen zu den Nachbarn, dann wurde sie mit der ganzen Familie der Nachbarn nach Gaza verschleppt, während die Terroristen ihre Eltern ermordeten und die zwei älteren Geschwister sich 14 Stunden in einem Schrank versteckt hielten. Wird Avigail ihren vierten Geburtstag am 24. November mit ihren Geschwistern in Sicherheit und in Freiheit erleben?

Von mindestens einem Dutzend der in den Gazastreifen Verschleppten weiss anscheinend nicht einmal die Hamas, wo sie sich befinden, eventuell werden sie von Zivilisten oder von rivalisierenden Fatah-Zugehörigen festgehalten. Was für ein Durcheinander. So perfekt organisiert wie die Nazis, die auch in den letzten Kriegsmonaten noch jeden einzelnen zu Ermordenden genau registriert hatten, sind sie dann eben doch nicht.

Sivan geht an die Shiv‘a ihres Bekannten Roee Biber, der vor einigen Tagen im Gazastreifen gefallen ist. Roee hatte seit fünfeinhalb Jahren eine Freundin. Sivan weint schon, bevor sie an die Shiv‘a geht und sagt, sie würde sich umbringen, wenn ihr Freund fallen würde. Was kann ich dazu sagen? Wir sind alle ein riesengrosser Scherbenhaufen. Nach der Shiv‘a fährt sie weiter an einen Anlass zur Erinnerung an ihre ermordeten Freunde Nitzan und Lidor.

Donnerstag, 23.11. 
Ich erwache, wie fast jede Nacht, wegen dem Lärm der Kampfflugzeuge, um drei Uhr und kann danach nicht mehr schlafen. Wilde Gedanken an Geiseln und an Soldaten in lebensgefährlichen Situationen spuken mir durch den Kopf. 
Frühmorgens Raketenalarm in Ashqelon. 
Beim Wäscheaufhängen auf dem Balkon sehe ich Eltern, die ihre Kinder zur Schule begleiten, einige der Väter schieben Kinderwagen mit jüngeren Geschwistern und tragen Sturmgewehre auf dem Rücken. Es ist ein groteskes Bild, doch offensichtlich sind sie im Reservedienst und verbringen etwas Zeit mit den Kindern, bevor sie wieder an die Grenze gehen. Der Schulbus hat nun eine riesige Israelflagge auf dem Kühler.

Sivan hat bei uns übernachtet und erzählt von den traurigen Anlässen, die sie gestern besucht hat. Die Schreie am Massaker des Rave-Festivals verfolgen sie, obwohl sie gar nicht dabei war. Es gibt bei uns zu Hause keine anderen Themen mehr. Nur Krieg, Ermordete, Gefallene, Geiseln, Beerdigungen. Tod, Mord und Trauma.

Es zeichnet sich ab, dass der Geisel-Freilassungs/Waffenstillstanddeal auf morgen verschoben wird. Um 7 Uhr morgens soll die Feuerpause in Kraft treten, um 16 Uhr sollen dreizehn Geiseln freigelassen werden.

Freitag, 24.11. 
Um 7.15 Uhr, wohlgemerkt eine Viertelstunde nach Inkrafttreten der Feuerpause, Raketenangriff im Süden Israels. Na ja, pünktlich wie die Schweizer sind sie eben auch nicht. 
Heute ist der 4. Geburtstag der verschleppten Avigail.
Am Mittag kaufe ich Gemüse von Bauern aus dem Süden, die jetzt ihre Ware direkt in den Dörfern im Zentrum Israels feilhalten. Diese Bauern stammen aus den zerstörten Kibbutzim in der Nähe des Gazastreifens, viele ihrer Angehörigen sind ermordet worden, ihre Häuser zerstört und abgebrannt. Ausserdem haben sie keine Arbeiter mehr, denn die verbliebenen thailändischen Fremdarbeiter sind abgereist und die Arbeiter aus Gaza fallen aus verständlichen Gründen aus. Dafür habe ich nun 7 Kilo Süsskartoffeln, Avocado und Cherry-Tomaten.

Im Laufe des späteren Nachmittags steigert sich die extreme Anspannung ins Unerträgliche. Das ganze Land hält den Atem an. Weil wir in der Stube keinen Fernseher haben, hängen wir alle an den Handys. Dann wird bestätigt, dass dreizehn israelische Geiseln frei gelassen worden sind. Dazu gibt es, sozusagen im Black-Friday-Sonderangebot, zwölf thailändische Staatsangehörige, von denen, meines Wissens, im Deal gar nicht die Rede war. Wir alle freuen uns mit den Familien, aber die Enttäuschung und Erniedrigung ob diesem Pakt, der uns Menschen zurückbringt, die gar nie anderswo als in ihren Heimen hätten sein dürfen, ist nicht zu leugnen. Die Hamas sitzt einfach am längeren Hebel. Kurz nach 18 Uhr sehe ich die Fotos der Freigelassenen. Es sind hauptsächlich ältere Frauen und nur vier der etwa dreissig verschleppten Kinder. Die vor zwei Tagen tot gemeldete Hanna Kazir ist überraschenderweise lebendig unter den Freigelassenen. Yoni Asher, aus unserem Nachbardorf, darf seine Frau und seine beiden zwei- und vierjährigen Mädchen wieder umarmen, nachdem er am 7. Oktober ihre Verschleppung in einem Video mitansehen musste, das in den Medien die Runde machte. Die heute vierjährige Avigail, der zehn Monate alte Kfir und viele weitere Kinder sind noch nicht dabei. Vielleicht morgen?
Lianne ist den ganzen Tag erschreckend ruhig. Wie gross sind die Chancen des 21-jährigen Omer Shem-Tov, ihrem Kollegen aus dem Militärdienst, nach Hause zurückzukehren?

Montag, 20. November 2023

Danach

Das Leben in Israel unterteilt sich in vorher und nachher. Das vorher ist eine vage Erinnerung an eine Welt, die ich als leicht und beschwingt, aber auch als oberflächlich und belanglos im Gedächtnis habe. Das nachher ist von einer schweren schwarzen Wolke überschattet, die uns zu erdrücken droht.

In meinem neuen Alltag sind Trauer, Angst und Schock immer gegenwärtig, deshalb verbringe ich möglichst viel Zeit mit Ablenkung. Aber spätestens, wenn ich abends im Bett liege, erdrückt mich die Last der Opfer, zu denen jeden Tag neue hinzu kommen. Jeden Tag werden die neuen Namen bekannt gegeben, von meist jungen Menschen, die in Gaza gefallen sind. Gestern sechs, heute zwei, und so weiter. 19 Jahre, 22 Jahre, 28 Jahre jung, manche auch älter. Jeden Morgen lese ich mit grosser Angst und Trauer die Namen. Dieses mal ist es Roee Biber, ein Bekannter meiner Tochter, gleich alt wie sie, aus dem Nachbardorf und damals in der Parallelklasse der gemeinsamen Oberstufe. Wieder brutal und abrupt beendete Hoffnungen. Wieder eine zerstörte Familie. Wieder eine Beerdigung für Sivan, ausgerechnet an ihrem Geburtstag. Jeden Tag neue Schläge in die Magengrube, dabei stehen wir doch auch so kaum noch aufrecht.

Vergangene Woche bin ich für einen Tag (und zwei Nächte) für den Geburtstag meines Vaters in die Schweiz gehüpft, in die Vorher-Parallelwelt. Es gibt tatsächlich noch ein Leben dort, in diesem Vorher. Die Menschen führen ihren Alltag einfach weiter, wie gewohnt. Länger als einen Tag wollte ich nicht bleiben, ich wusste, dass mir die Konfrontation schwerfallen würde.

Vor der Reise habe ich mir Antworten zurechtgelegt, auf unbequeme Fragen, die eventuell kommen würden. Ich habe etwas recherchiert und mir die treffendsten Argumente herausgesucht. Das war unnötig, denn niemand fragte etwas. Entweder haben alle die Antworten schon, oder es interessiert sie nicht. Die meisten beteuerten, wie schrecklich das alles sei, dass sie aber macht- und hilflos seien.
Jemand ganz besonders schlauer sagte, dass man Konflikte nicht mit Waffengewalt lösen könne. Vielen Dank für den erhellenden Tipp! Ich nickte nur müde. Es ist ein tiefer Graben, zwischen meinen Bekannten in der Schweiz und den Menschen hier in Israel. Auch ich, als gebürtige Schweizerin, musste in Israel eine grundlegende Metamorphose durchmachen, um zu verstehen, dass nicht alle Völker das Privileg haben, in Frieden zu leben oder, genauer gesagt, in Frieden zu überleben.




Nach 48 Stunden landete ich wieder in Tel-Aviv und freute mich über die Wärme und die Sonne und vor allem, unter Menschen zu sein, die das Leid mit mir teilen und mich verstehen. Menschen, die wissen, dass es leider keine Option ist, eine E-Mail an eine Völkermordende Dschihadistengruppe zu schicken, mit der Bitte, uns in Ruhe zu lassen. Obwohl ich gefühlt sehr lange weg gewesen war, gab es keine Neuigkeiten aus dem Krieg. Die 240 Geiseln sind immer noch in den Fängen der Hamas, nur dass nun jeden Tag einer oder zwei der Entführten in Gaza tot aufgefunden werden. So zum Beispiel der 86-jährige Arye Zalmanovich, verschleppt am 7. Oktober aus Kibbutz Nir Oz und die 19-jährige Noa Marciano, ebenfalls am 7. Oktober von der Hamas als Geisel genommen und später (vermutlich im Shifa-Spital in Gaza) ermordet wurde.

Nach der Landung fuhren wir zuerst ins Spital, um Alon und seine Familie zu besuchen. Alon, ein bester Freund unseres Itay seit der Grundschule, wurde in der zweiten Oktoberwoche bei einem Verteidigungsmanöver von einer Granate im Norden Israels schwerst verletzt. Die List der Verletzungen ist lang. Ein Bein, ein Arm, die Finger der rechten Hand, beidseitiger Pneumothorax, die Trommelfelle, ein Auge und vieles mehr. Aber er hat überlebt und ausdrücklich gesagt, dass er froh darüber sei. Wir sprechen mit den Eltern und ich bin zutiefst beeindruckt von der Ruhe und Kraft, die sie ausstrahlen. Seit dem Vorfall befindet sich die erweiterte Familie mit Freunden und Bekannten rund um die Uhr in den Vorräumen der Intensivstation, unter ihnen unser Itay. Im Gang stehen Tische und Bänke, Menschen kommen und gehen, sie essen, spielen Karten und Backgammon, unterhalten sich und spenden sich vor allem gegenseitig Kraft. Alon ist nun ihr neuer Lebensmittelpunkt. An den Tischen auf der gegenüberliegenden Gangseite spielt sich genau dasselbe Schauspiel mit einer anderen Familie ab. Auch hier Eltern mit schwarzen Ringen unter den Augen und viele junge Leute, die kommen und gehen, einige mit den Sturmgewehren der IDF. Im Gespräch mit den Eltern und angesichts der Besucher wird mir klar, wie stark die Menschen hier sind und wie wichtig der Zusammenhalt für die Genesung ist, nicht nur die körperliche. Der Vater erzählt, dass Alon schon wenige Tage nachdem er zu sich gekommen ist, angeboten hat, mit weniger optimistischen verletzten Soldaten zu sprechen, um ihnen Mut zu machen. Er reisst auch schon makabre Witze. Als seine Mutter ihn nach zwei Wochen Koma ängstlich fragte, ob er sie erkenne und wer sie sei, nahm Alon sie auf den Arm und antwortete „Tante Sara“.

Das Spital verlassen wir  Richtung Norden gerade noch rechtzeitig, um der Gefahrenzone im Zentrum Israels zu entkommen, wo in den späteren Nachmittagsstunden die Alarmsirenen heulen und die Menschen von Rehovot bis Kfar Saba in die Schutzräume rennen. Wie kann es nur sein, dass die IDF schon sechs Wochen in Gaza operiert und Gaza, laut Medien, in Trümmern liegt, die Hamas aber immer noch in der Lage ist, Dutzende Raketen auf uns Zivilisten abzufeuern?

Mir ist – obwohl Alon schon wieder Witze macht – gar nicht zum Spassen zumute, aber ich muss einfach stark bleiben, wir haben keine andere Wahl. Manchmal falle ich in ein tiefes Loch, aber ich rapple mich jedesmal auf, sammle alle meine Kräfte, um diese Gedanken bewusst zur Seite zu schieben und nur die Hoffnung zuzulassen. Dafür sind wir, die Überlebenden und die Gesunden, jetzt da – um diejenigen zu stärken, die es nötig haben. Der Gedanke, dass es auch nach der Shoah irgendwie weiter gegangen ist und der Kontakt mit Kindern im Bekanntenkreis helfen mir, auf eine bessere Zukunft zu hoffen. Es wird auch jetzt irgendwie weitergehen. Solange noch Kinder auf die Welt kommen, die mit humanistischen Werten erzogen werden, gibt es Hoffnung.



Die treffenden Argumente und Erklärungen, die ich mir für die Reise in Schweiz bereitgelegt habe, behalte ich für mich selbst. Ich habe keine Kraft für Aufklärungsarbeit. Es gibt unterdessen genügend korrekte Informationen aus glaubhaften Quellen, man müsste sie nur konsultieren. Wer jetzt noch glaubt, es gehe um "Landnahme", Kolonialismus, oder eine "Spirale der Gewalt", soll bitte seine Hausaufgaben machen. Man muss taub auf beiden Ohren sein, um die sehr klaren Deklarationen der Hamas zu überhören. Die Verzerrungen und der Hass sind überwältigend. 

Wenn ich mir die Medienberichte über die Zustände und die Opferzahlen in Gaza ansehe, empfinde ich nur eine riesengrosse Wut. Eine riesengrosse Wut, vor allem auf die Terrororganisation Hamas, deren grausames Kalkül wunderbar aufgeht. Sie haben Israel in einen ausweglosen Krieg verwickelt. Einen Krieg, in dem es nur Verlierer geben kann. Wie soll man die Satansbrut ausrotten können? Ein einziges Hamasmitglied, das überlebt, wenn auch schwer verletzt, könnte sich erheben und langsam neue Anhänger um sich scharren. Ausserdem befindet sich die Hamas nicht nur in Gaza. Auch Jenin, im Westjordanland, ist eine Hamas-Hochburg. Trotz dieser Ausweglosigkeit kämpft Israel diesen schweren Krieg, leider mit sehr hohen Verlusten, um die Terrorinfrastruktur zu zerstören und in der Hoffnung auf Befreiung der Geiseln. Die Hamas stellt unterdessen Israel als Kriegsverbrecher hin und nutzt dies politisch zu ihren Gunsten aus.

Israel wird nach diesem Krieg nicht nur wirtschaftlich am Boden zerstört sein. Die ganze Welt ist zerstritten und es scheint nicht viel zu fehlen, bis dieses Pulverfass explodiert – auch das ist das Kalkül der Hamas! Wenn die Welt in Schutt und Asche liegen wird, werden sie ihren „Waqf“ (religiöses Land) gründen.



Von meinen Bekannten in der Schweiz, die bedauern, machtlos zu sein, würde ich mir aber doch wünschen, dass sie Stellung nehmen.

Die Menschheit steht jetzt am Scheideweg zwischen grundlegender menschlicher Moral und purer Bosheit. Die Ausgeburten der Hölle bedrohen nicht nur uns in Israel, sie bedrohen die ganze Menschheit. Wir dürfen sie in diesem Kampf nicht gewinnen lassen. Jedermann sollte sich jetzt klar darüber werden, auf welcher Seite er steht und wie diese Welt für ihn persönlich in der nahen und auch in der ferneren Zukunft aussehen soll. Wem die elementaren westlichen Werte wichtig sind, muss für Israel einstehen.

Ich würde mir wünschen, dass Menschen Erkenntnis und Mut an den Tag legen und ihre Stimme  erheben. Es ist schön und einfach, gegen Krieg zu sein. Jeder Mensch mit humanistischen Werten ist gegen Krieg. Aber wenn wir schweigen, wird uns das Böse einverleiben.

Lieber Leser, ich bitte dich, sei mutig und mache den Mund auf. Es schmerzt uns so sehr zu sehen, wie vielerorts das Leben einfach normal weiter geht. Unterstützung und Zusammenhalt sind enorm wichtig, das habe ich bei den Schwerverletzten im Spital erfahren. Setze die Israelfahne auf dein Facebook-, Instagram-, Twitter- oder E-Mail-Konto. Setze irgendein Zeichen. Es gibt viele Möglichkeiten, auch wenn du nicht in diesen Medien unterwegs bist. Halte nur einen Moment inne und setze ein klares Zeichen für Israel, und dann führe dein gewohntes Leben wieder weiter. 

Falls du noch Zweifel hast, auf welcher Seite du stehst, lies bitte diesen Artikel:
Auszüge aus der Charta der Hamas:

„Israel existiert und wird weiter existieren, bis der Islam es ausgelöscht hat, so wie er schon andere Länder vorher ausgelöscht hat.“ (Präambel)

„Die Islamische Widerstandsbewegung ist eine ausschließlich palästinensische Bewegung, die Allah die Glaubenstreue hält und deren Weg der Islam bestimmt. Sie strebt danach, das Banner Allahs über jedem Zentimeter Palästinas zu entfalten.“ (Artikel 6)

„Das jüngste Gericht wird nicht kommen, solange Muslime nicht die Juden bekämpfen und sie töten. Dann aber werden sich die Juden hinter Steinen und Bäumen verstecken, und die Steine und Bäume werden rufen: ‘Oh Muslim, ein Jude versteckt sich hinter mir, komm’ und töte ihn.“ (Artikel 7)

„Palästina ist ein islamisches Land … Deshalb ist die Befreiung Palästinas für jeden Muslim die höchste persönliche Pflicht, wo immer er sich befindet.“ (Artikel 13)

„Friedensinitiativen und so genannte Friedensideen oder internationale Konferenzen widersprechen dem Grundsatz der Islamischen Widerstandsbewegung. Die Konferenzen sind nichts anderes als ein Mittel, um Ungläubige als Schlichter in den islamischen Ländern zu bestimmen … Für das Palästina-Problem gibt es keine andere Lösung als den Jihad. Friedensinitiativen sind reine Zeitverschwendung, eine sinnlose Bemühung.“ (Artikel 13)

„Der Jihad ist die persönliche Pflicht eines jeden Muslim, seit die Feinde Teile des muslimischen Landes geraubt haben. Angesichts des Raubes durch die Juden ist es unvermeidlich, dass ein Banner des Jihad gehisst wird.“ (Artikel 15)

„Die Hamas betrachtet sich selber als Speerspitze und Vorhut des gemeinsamen Kampfes gegen den Welt-Zionismus … Islamische Gruppen in der ganzen arabischen Welt sollten das gleiche tun, da sie für ihre zukünftige Aufgabe, den Kampf gegen die kriegstreiberischen Juden, bestens gerüstet sind.“ (Artikel 32)

Donnerstag, 2. November 2023

Im Schrank versteckte Kinder


1400 Ermordete, 240 Geiseln, Tausende Verletzte, an einem Tag. Die Zahlen allein sind nicht erfassbar.

Diese erstaunliche Webseite zeigt die Fakten über die grauenhaften Taten der Hamas-Barbaren auf. Die Webseite beinhaltet die Ortschaften und Fundorte der Ermordeten und der nach Gaza Verschleppten, mit Namen und detaillierten Angaben. Ein roter Punkt für jeden Ermordeten, ein schwarzer Punkt für jeden Verschleppten. Das Punktemeer visualisiert die Ausmaße des Massakers etwas, macht es aber nicht fassbarer. Ich schaue mir die interaktive Webseite in verschiedenen Zoomstufen an, suche die mir bekannten Namen hervor. Ich entdecke, wo Nitzan, Lidor und Yoni aufgefunden worden sind und betrachte wahllos die mir unbekannten Namen. Es gibt keine Worte für meine grenzenlose Bestürzung und Abscheu. Ich bin einfach fassunsglos.

Was man auf der Webseite nicht sehen kann, sind die Schicksale der Überlebenden. Zum Beispiel das der sechs- und achtjährigen Kinder Michael und Amalia aus Kfar Aza, die sich vierzehn Stunden in einem Schrank versteckten, während die Schlächter draussen wüteten. Vierzehn Stunden kauerten die Geschwister in ihren Exkrementen im Versteck, ohne Wasser, ohne Essen, gelähmt vor Angst vor den Monstern, die sie sich in ihren schlimmsten Kinderfantasien nicht hätten erträumen können. Während sie im Schrank ausharrten, schlachteten die Scheusale ihre Eltern ab und verschleppten ihre dreijährige Schwester Avigail in den Gazastreifen (ein schwarzer Punkt mit dem Namen Idan Avigail auf der oben verlinkten Webseite).



Ein Hunderte-Kilometer umfassendes belüftetes Tunnelsystem haben die Hamas-Terroristen im Gazastreifen angelegt (es soll dem Metronetz von Berlin und London zusammen entsprechen) – und keinen einzigen Schutzraum für die Zivilbevölkerung. In gut ausgebauten unterirdischen Stockwerken unter dem Shifa Krankenhaus haben sie ihren zentralen Terrorstützpunkt erschaffen – und keinen einzigen Bunker für die Zivilbevölkerung. Treibstofftanks mit zigtausenden Litern gebunkertem Treibstoff haben sie erstellt – und nur ein mickriges Elektrizitätswerk, dem nach drei Tagen der Treibstoff ausgegangen sein soll. Tausende Raketenabschussanlagen haben sie gebaut. Diese werden seit Jahren fast täglich genutzt, um israelische Bürger und zivile Einrichtungen zu schädigen. Die Anlagen sind erstaunlicherweise auch jetzt noch funktionstüchtig und fleissig in Gebrauch, während in den Medien schon Berichte über zerstörte Infrastrukturen in Gaza dominieren. Etwa 8000 Raketen sind allein seit dem 7. Oktober auf israelische Zivilisten und Zivileinrichtungen abgefeuert worden.

Wo war die palästinensische Zivilbevölkerung in all den Jahren, während die Hamas unter ihren Füssen ein ausgeklügeltes Tunnelnetz gegraben und ein nicht zu erschöpfendes Kriegswaffenarsenal angelegt hat? Haben sie nichts geahnt? Nichts gehört? Nichts gesehen? Haben die Hamasleute etwa in einem Vakuum gearbeitet? Haben sie nachts nicht bei ihren Familien geschlafen und tagsüber mit ihnen gegessen? Wo war der Aufschrei der Zivilbevölkerung in Gaza über die so extrem missbrauchten Ressourcen? Keinen Mucks haben sie gemacht, nur tausende Kinder in die Welt gesetzt und sie zu hasserfüllten Mördern grossgezogen. Anstatt auf die Barrikaden zu gehen, haben sie die Terroristen und ihre Schergen geduldet, gefördert, unterstützt, aus ihrer Mitte grossgezogen. Erst jetzt, wo es für uns alle zu spät ist, schreien sie Zetermordio.

Armut und Hoffnungslosigkeit sollen sie zu diesen Verzweiflungstaten getrieben haben? Ich glaube nicht, dass ich, meine Kinder oder meine Kindeskinder auch nach Generationen der Hoffnungslosigkeit und Armut fähig wären, ein Baby in einen Ofen zu stecken und bei lebendigem Leib zu backen, Kindern Extremitäten abzusäbeln und sie verbluten zu lassen, oder einer schwangeren Frau den Bauch aufzuschlitzen und das Ungeborene zu enthaupten.

Ich verstehe nicht, warum jetzt ausgerechnet wir – die Israelis – als Vorhut in die Tunnel-Todesfallen steigen müssen, um diese Satansbrut zu bekämpfen. Hamas-ISIS bedroht uns Alle weltweit. Ich würde erwarten, dass sich alle Armeen der aufgeklärten Welt hier an unserer Seite einfinden, um mit uns zu kämpfen, oder uns wenigstens mit allen möglichen Mitteln zur Seite zu stehen, während wir unsere Kinder in diesem Krieg opfern.

Schaut euch die Karte an! Zoomt rein! Schaut euch die Namen an! Die Schicksale, unfassbar jedes einzelne! 
Bitte lasst euch von den Bildern der ausgebombten Menschen in Gaza nicht in die Irre führen. Es geht in diesem Krieg nicht um Opferzahlen. Es geht um westliche Werte, um Frieden, Freiheit und Humanismus gegen Barbarei und perverse Freude am Töten.

Wer jetzt nicht auf unserer Seite ist, ist auf der Seite der Ausgeburten der Hölle. Wer jetzt von uns verlangt, die Waffen niederzulegen und in einem „Akt der Menschlichkeit der anderen Seite entgegenzukommen“ (so eine Journalistin auf deutschlankfunk.de), der tritt die zerstückelten, geschändeten Leichen unserer Kinder, Brüder und Schwestern mit den Füßen. Wer jetzt nicht zu Ende denken will, was geschehen wird, wenn wir diesen Krieg verlieren, ist irgendetwas zwischen grenzenlos naiv und emotional verwahrlost. 

Wer jetzt nicht auf unserer Seite ist, der soll bitte den Mut aufbringen, Michael und Amalia in die Augen zu sehen und ihnen das Ganze zu erklären.

* * * 

In einem nächsten Beitrag werde ich über meinen Schwiegervater Razi schreiben, der als Zweijähriger 1941 während dem Farhud auch in einem Schrank versteckt das Pogrom an der jüdischen Bevölkerung in Bagdad überlebte. Auch damals waren die Juden Schuldenböcke für irgendetwas, obwohl es noch kein Israel, keine "besetzten" Gebiete und kein Gaza gab.


Montag, 30. Oktober 2023

Tut mir leid Fatima

Dieser Tag beginnt mit der Meldung, dass die deutsch-israelische 22-jährige Shani Louk offenbar tot  ist. In einem Video posierten am 7. Oktober die Hamas-Bestien über dem Körper der jungen Frau, sie lag bäuchlings halbnackt auf einem Pick-up und schien bewusstlos und schwer verwundet. Die Mutter sprach in der deutschen Presse ihre Hoffnung aus, dass ihre Tochter unter den Geiseln und am Leben sei. Jetzt bestätigten aufgefundene Leichenteile mit der DNA von Shani, dass sie offenbar von den Hamas-Terroristen nach grausamen Misshandlungen durch einen Kopfschuss getötet wurde.

* * *

Ich kann keine Kinder mehr ansehen, ohne an die von der Hamas in den Gazastreifen verschleppten Geiseln zu denken. Dreissig Kinder sind unter den 239 Geiseln. Einige von ihnen mussten sich ansehen, wie die Terroristen ihre Eltern ermordeten, dann wurden sie verschleppt. 
Ich betrachte meine Schwiegermutter beim Füttern ihrer neunmonatigen Urenkelin. Ella ist ein süsses Kind mit wachen, hellen Augen und rosigen Wangen, man möchte sie einfach nur knuddeln. 
Ich muss wegsehen. Die Gedanken an den etwas jüngeren Kfir – ein Baby, seit drei Wochen in Gefangenschaft der Hamas – schnüren mir die Luft ab. Füttert ihn auch jemand? Einer der Terroristen? Eine der anderen Geiseln? Und wer beruhigt ihn, wenn er weint? Lebt er überhaupt noch?

 
Kfir, eines von dreissig Kindern in Gefangenschaft der Hamas

* * *

Aber eigentlich will ich heute über das Leben einer jungen Frau in Israel schreiben, die so alt ist wie die brutal ermordete Shani Louk. Sie ist kein Kind mehr, aber sie ist mein Kind. Mit zweiundzwanzig kann das Leben auch in friedlichen Zeiten recht verwirrend sein, so habe ich das jedenfalls von mir selbst in Erinnerung, auch wenn ich damals noch in der sicheren Schweiz lebte. In Israel hat man in diesem Alter meistens gerade den Militärdienst abgeschlossen und alle Türen in die Zukunft stehen offen. Das kann überwältigend sein. Lianne verbrachte den Sommer nach ihrem zweijährigen Militärdienst in Kanada, wo sie als Leiterin in einem Sommercamp für Jugendliche arbeitete. Auf ein Studium wollte sie sich nach ihrer Rückkehr noch nicht festlegen. Zur Überbrückung fand sie bald eine temporäre Arbeit. Die Eltern des kleinen Lev, einem Erstklässler, der als Neueinwanderer noch kein Hebräisch spricht und auch abgesehen von der Sprachbarriere eher unaufmerksam zu sein scheint, suchten für einige Wochen eine persönliche Begleitung für ihren Sohn während den Unterrichtsstunden. Lianne freute sich sehr auf die Arbeit, die am 8. Oktober hätte beginnen sollen...

Aber am 7. Oktober änderte sich unser Leben komplett. Ein Meteor namens Hamas schlug ein und warf die Erde in einem unsäglichen Zivilisationsbruch aus ihrer gewohnten Bahn. Lianne’s junges Leben entgleiste in jeder Hinsicht. Anstatt sich schrittweise eine vielversprechende Zukunft aufzubauen, besuchte sie Beerdigungen von ermordeten Gleichaltrigen, von Freunden und Freundinnen aus der Schule und dem Militär. Selbst noch bis vor kurzem in Uniform, war es für sie besonders schockierend, dass junge Soldatinnen zu Dutzenden brutalst abgeschlachtet wurden, während sie schlafend auf ihren Pritschen lagen oder ihre Kontrollfunktion vor den Bildschirmen ausführten. Noch vor wenigen Monaten hätte Lianne an ihrer Stelle sein können. Ihre Freundin Shir, mit der sie im Militär ein Zimmer geteilt hatte, wurde tagelang vermisst, bis die traurige Gewissheit eintraf, dass sie an dem Musikfestival in der Negev-Wüste von den islamistischen Hamas-Terroristen ermordet worden war. Lianne zeigt mir die Fotos und Videos auf ihrem Handy, auf denen Shir, ein strahlendes Mädchen mit langen Locken, mit ihrem fröhlichen Temperament immer im Mittelpunkt steht. Ein weiterer Freund aus dem gemeinsamen Militärdienst befindet sich offensichtlich unter den Geiseln.

Das sind nun die Rahmenbedingungen im Leben meiner Tochter. Wir verbringen viele traurige Momente miteinander. Oft setze ich mich zu ihr und wir schweigen gemeinsam, mit einem grossen Kloss im Hals und Tränen in den Augen. Ich weiss nicht, wie ich sie stärken oder trösten soll. Mir fehlen nicht nur die Worte, sondern auch die Hoffnung. Ohne Arbeit, sich nutzlos fühlend, um ermordete Freunde trauernd, von Beerdigung zu Beerdigung eilend, im Wissen um eine Terrororganisation, die uns nach dem Leben trachtet und die kaum auszulöschen ist, im Wissen um erschreckend viele antisemitische Schreihälse weltweit, ohne Aussicht auf ein sicheres Leben, auf irgendeine absehbare Lösung in der Zukunft. So sieht ihr junges Leben seit dem 7. Oktober aus.

Drei Wochen nach dem Massaker nimmt die Schule ihres Erstklasse-Schützlings den Betrieb wieder auf – ein Hoffnungsschimmer! Das bedeutet endlich ein bisschen Normalität, auch wenn der Unterricht am frühen Morgen mit einer Raketenalarmübung beginnt. „Übung, Übung“, ertönt es aus dem Mikrofon, die Kinder und das Personal begeben sich in den Luftschutzraum. Erst danach fängt der reguläre Unterricht an. 

Kurz nach Mittag ertönen tatsächlich die Sirenen. Jetzt ist es ein Ernstfall! An Treibstoff für Raketen, die absichtlich auf israelische Zivilisten gerichtet werden, fehlt es anscheinend im Gazastreifen noch nicht. 
Die Kinder haben die morgendliche Übung schon längst vergessen und brechen ob dem markerschütternden Sirenengeheul in Panik aus. Aber das Lehrpersonal, darunter meine Lianne an ihrem ersten Arbeitstag, bleibt stark und besonnen. Sie nehmen die Kinder an den Händen und sprechen beruhigend auf sie ein, während sie sich in den Schutzraum drängen. Auch als sie nach Hause kommt, scheint Lianne völlig unaufgeregt. Aber ich weiss, dass sich das alles in ihr Bewusstsein brennt. Ich kann einfach nicht fassen, dass dies jetzt unser Alltag ist. Wie stark meine Kinder sind! Sie scheinen viel stärker zu sein, als ich selbst.

* * *

Dieser Tag endet mit der Meldung, dass die Geisel Ori Megidish (19) von der IDF während der Bodenoffensive aus den Fängen der Hamas befreit werden konnte und sich in Sicherheit bei ihrer Familie befindet. Das ist für viele von uns die erste erfreuliche Nachricht seit dem 7. Oktober. 
Tut mir leid, Fatima, in deiner ausgebombten Wohnung im Gazastreifen – über die ich heute einen Artikel im Stern.de gelesen habe, während ich vergeblich einen Bericht über die von der Hamas abgeschlachteten Israelis oder die Geiseln suchte – aber das war es wert!




Mittwoch, 25. Oktober 2023

Der grosse Knall



Ich bin keine grosse Militärstrategin, wie man sich denken kann. Von Kriegsführung verstehe ich rein gar nichts. In meiner Ahnungslosigkeit verbringe ich die Tage und Stunden seit dem 7. Oktober angespannt in Erwartung eines Urknalls, eines gigantischen Donnerschlags. Der Schock über das Geschehene, die Mobilmachung von mehreren Hunderttausend Reservisten, die Notvorrateinkäufe, das Instandstellen des Schutzraums, die Sirenen  das alles erzeugt eine immense Anspannung und die Erwartung einer gewaltigen Entladung. 

Die Ereignisse des 7. Oktobers haben mich geschlagen und gebeutelt in eine dunkle Ecke geschleudert. In dieser traurigen Ecke liegen mit mir all die Ermordeten, die Geschändeten, die Entführten, die gebrochenen Hinterlassenen, die verzweifelten Angehörigen. Diese Last ist kaum zu ertragen und in Erwartung des Feindes, der vielleicht noch kommen wird, um uns endgültig abzumetzeln, habe ich noch nicht einmal daran denken können, mich zu erheben. Ich befinde mich an einem toten Punkt. Schon 19 Tage verharre ich gelähmt in Erwartung des grossen Knalls, der jeden Tag eintreffen kann, sich bis jetzt aber immer nur weiter hinauszuzögern scheint.

Denn entgegen meiner Erwartungen auf den alles erschütternden Donnerschlag zeichnet sich eine klitzekleine Normalisierung ab. Wir befinden uns im Krieg, die Soldaten stehen an der Front, Hunderttausende sind evakuiert. Nun soll der Schulunterricht stundenweise wieder aufgenommen werden und unsere Geschäftsleitung tönt an, dass wir demnächst wieder tageweise ins Büro fahren sollen.

Es scheint, dass ich mich aus meiner Ecke werde aufrappeln müssen. Aber woher die Kraft und die Hoffnung dazu nehmen? Bilder, denen ich nicht entkommen konnte, verfolgen mich. Beschreibungen von Gräueltaten verfolgen mich. Nitzan und Lidor, Yoni, Sivan, Shir, Yuval, Omer, Peleg, die nicht mehr wiederkommen werden. Alon, der immer noch eingeschläfert ist und nicht weiss, dass er nie mehr ganz sein wird. An die Geiseln darf ich gar nicht denken. Ohad, ein neunjähriger Junge mit Brille, der gerne Schach spielt und ein Meister im Zauberwürfel ist, hatte diese Woche Geburtstag, in Gefangenschaft der Hamas in Gaza.

Ich weiss wirklich nicht, woher man jetzt die Kraft nehmen soll, aufzustehen, den Staub der Trümmer und das Blut der Toten abzuwischen und mit all diesem Schmerz einigermaßen das Leben in die Hände zu nehmen.

Im Versuch, mich auch zu normalisieren gehe ich laufen. Aber dann ertappe ich mich dabei, in Gedanken den kürzesten Fluchtweg zu suchen, für den Fall, dass über den Zaun am Dorfrand auf mich geschossen wird. Hier ist eine Böschung, da könnte ich hinunterrollen.

Irgend ein grosser Knall wird kommen müssen, ich weiss nicht auf welcher Ebene. Ein alles Vernichtender oder ein alles aufbauender Knall, vielleicht beides. Einfach so weiterzumachen, kann ich mir im Moment nicht vorstellen.



Meine Gefühle sind diffus und verwirrt. Yuval Noah Harari schafft es ein bisschen besser, logische Sätze zu bilden. Man kann sich über Yuval Noah Harari streiten, aber seine  differenzierten Gedankenanstösse finde ich bemerkenswert.

Sonntag, 22. Oktober 2023

Entkommen

Es ist vier Uhr morgens und ich schreibe, weil ich nicht schlafen kann. Mir geht es körperlich etwas besser, aber der Lärm von Kampfflugzeugen und Helikoptern bricht diese Nacht nicht ab und hält mich wach.

Meine anfängliche Schockstarre hat etwas nachgelassen. Die geringfügige Besserung meines Befindens steht aber in keinem Bezug zu der nach wie vor katastrophalen Situation im Land. Und weiterhin ist die Angst vor dem, was uns die nächsten Tage und Wochen bringen könnten, abgrundtief.

Die Identifizierung der Leichen ist noch immer im Gange. Das von den Hamas-Bestien angerichtete Gemetzel erschwert die Arbeit. Täglich treffen neue Namen ein, täglich werden Hoffnungen, Familien zerstört. Man sagt, dass es von etwa zwei Dutzend Toten keine identifizierbaren Überreste gibt. Nicht einmal eine Fingerkuppe, kein Restchen DNA.

 

Ich hoffe, dass die Welt da draussen von diesen Greueltaten weiss. Und dann wieder  –  was nützt es? Ich weiss nicht, was schlimmer ist, 1400 abgeschlachtete Menschen oder die Tatsache, dass die Hälfte der Menschheit die Täter unterstützt.


Am Freitagabend treffen wir uns mit unseren Freunden A und S und ihrem Sohn Yotam. Yotam war mit Freunden am Musikfestival in der Nähe des Gazastreifens. Er hat das Massaker durch ein grosses Wunder überlebt.

Als in den frühen Morgenstunden nach dem Festival die ersten Schüsse fielen, rannten Yotam, Tomer und Yoav sofort zu ihrem Auto. Viele der Festivalbesucher schafften es nicht zu den Autos und sie versuchten, zu Fuss die Flucht zu ergreifen. Andere wurden von den Sicherheitsleuten aufgefordert, sich in den „miguniot“ (kleine Betonschutzräume) zu verstecken. Das wurde ihnen zum Verhängnis. Aber Yotam, Tomer und Yoav rasten im Kugelhagel davon. Den drei jungen Männern gelang es, im durchlöcherten Auto mit zerbrochenen Scheiben aus dem Gebiet des Massakers zu entkommen. Die drei konnten den erbarmungslos um sich schiessenden Terroristen in einer wilden Zickzackfahrt entfliehen. Im Versuch, den Bestien auszuweichen musste Yoav zweimal wenden. Dann wurde ihm klar, dass sie keine andere Wahl hatten und er steuerte kurzentschlossen auf das Inferno zu. Mit eingezogenen Köpfen und dem Tod vor Augen rasten sie in kühner Fahrt durch den Kugelhagel. Eine Kugel traf Yotam während der Amokfahrt an der linken Brust, sie drang knapp einen Zentimeter über dem Herzen ein und unter der Achsel hinaus. Yotam’s Freunde, Yoav, mit Fahrkünsten, die man sonst nur in Actionfilmen sieht, und Tomer, Sanitäter der Armee, retteten ihm das Leben. Als ein auf dem Rücksitz liegender grosser Sitzsack von Schüssen zerfetzt wurde, füllte sich das Auto mit Styroporkügelchen. Tomer, der Sanitäter, konnte während der verrückten Fahrt Yotam’s Blutung unter Kontrolle halten. (Hier möchte ich mit etwas Stolz noch anmerken, dass Yoav im Militär ein Schüler unserer Tochter Sivan war, die ihren Dienst als Ausbilderin von Sanitätern geleistet hatte.)

Etwas weiter nördlich trafen die drei auf eine südwärts fahrende Ambulanz, die sie nach Beersheva ins Spital brachte. Yotam war unter den ersten zehn Verletzten, die dort eintraffen. Tomer und Yoav erzählen, dass kurz darauf in der Notaufnahme das totale Chaos ausbrach. Jetzt lachen sie darüber, dass sie beide nicht einmal untersucht worden sind, obwohl sie durch die Scheibensplitter auch verletzt worden waren.

Yotam sah viele Minuten lang dem Tod in die Augen. Die Schusswunde ist gross und hässlich, zu allem Unglück hatten sich die Styroporkügelchen grossflächig mit dem zerfetzten Gewebe vermischt. Aber sie wird heilen. Man sieht Yotam an, dass er noch nicht einmal angefangen hat, das Geschehene zu verdauen. Vor allem die Tatsache, dass sich die Clique seiner Freunde im Chaos aus den Augen verloren hat, belastet ihn besonders. Mit Nitzan und Lidor, die nicht überlebt haben, war er kurz vor dem Überfall noch zusammen.

Auch das Schicksal von Yotam ist nur eines von Tausenden, aber ihm gegenüber zu sitzen und die Geschichte aus seinem Mund zu vernehmen, ist haarsträubend.




Nach dem Gespräch mit Yotam suche ich das Foto hervor, auf welchem er (rechts) und unsere Tochter Sivan im Schoss der stolzen Väter liegen. Ich schaue sie an und kann einfach nicht begreifen, dass diese unfassbaren Horrorgeschichten tatsächlich mit uns, mit unseren Babies auf diesem Bild, zu tun haben sollen. Seit der Aufnahme sind 28 Jahre vergangen, aber das macht keinen Unterschied. Für mich sind sie immer noch meine Kinder.


Wer jetzt etwas zu den Kindern in Gaza sagen möchte, soll bitte zuerst hier nachlesen.


In diesem Video spielen Soldaten der IDF in den Überresten eines Hauses im zerstörten Kibbutz Be'eri die Ha'tikva (die Hoffnung), die Nationalhymne Israels. Im Kibbutz Be'eri wurden 130 Menschen massakriert. Viele andere wurden als Geiseln genommen, darunter die 85-jährige Yaffa Adar, die zuletzt in einem Golfwagen wegfahrend, umgeben von bewaffneten Terroristen, gesehen wurde.







Mittwoch, 18. Oktober 2023

Have a wonderful weekend

Die Schlagzeilen und Nachrichten überschlagen sich und werden für Bekannte und Familie in der Schweiz und anderswo sehr unübersichtlich. Oft werde ich gefragt, wie wir die jetzige Situation erleben, was wir mitbekommen, wie das für uns persönlich aussieht. Das möchte ich gerne beschreiben.

Heute morgen bin ich seit langem wieder einmal laufen gegangen, nach einer längeren Pause aufgrund von Verletzungen. Die Felder und der nahegelegene Wald sind jetzt zu unsicher, deshalb umrunde ich nur unseren Wohnort, ohne ihn zu verlassen. Sonst laufe ich ohne Musik, ich liebe es, nur meine Schritte zu hören und meinen Atem zu spüren. Aber jetzt habe ich grösste Mühe, die Horrorbilder und Schreckgedanken fernzuhalten. Aber dass ich jetzt wieder laufen und auch schreiben kann, empfinde ich als ein Zeichen, dass es mir im Moment gerade etwas besser geht.

Unser Dorf im Zentrum Israels mit etwa 12,000 Einwohnern ist auch zu „normalen“ Zeiten vollkommen eingezäunt. Es gibt vier befahrbare Eingänge mit Schranken, die sonst nur nachts geschlossen werden. Jetzt sind drei dieser Eingänge rund um die Uhr geschlossen, der vierte Eingang wird Tag und Nacht von zwei bewaffneten Männern bewacht. Schulunterricht findet keiner statt.

Ich arbeite im Home office und bin froh, durch die Arbeit abgelenkt zu werden. Wenn immer ich es wage, eine kurze Pause zu machen, holt mich die Realität ein und lässt mich einknicken. Seit dem 7. Oktober habe ich unser Haus nur wenige Male verlassen, zweimal war ich an Beerdigungen, zweimal an einer Shiv’a und einmal habe ich unseren Soldatensohn und dessen schwerstverletzten Freund im Spital in Naharyia besucht.

Bei uns zuhause arbeitet auch mein Mann jetzt im Home office und mit uns leben unsere jüngste Tochter Lianne (22) und jetzt auch abwechslungsweise meine Schwiegermutter (83) und die Tochter Sivan (28) und ihr Freund, deren Wohnung in Tel-Aviv nun leer liegt. Alle müssen essen, aber ich habe keine Kräfte, ich koche kaum, putzte nicht, der Garten liegt brach, Einkäufe erledige ich online.

Unser Sohn Itay (26) ist als Reservist eingezogen, er dient in einer Kampfeinheit an der nördlichen Grenze Israels.

Auch Sivan ist als Reservistin eingezogen, sie bildet Notfallsanitäter aus, kommt aber nachts nach Hause. Sie ist ausserordentlich froh, dass sie eine Tätigkeit hat, denn in der PR-Agentur in der sie arbeitet, gibt es im Moment nichts zu tun. Ihr Freund arbeitet zu Hause oder fährt ins Büro. Sein jüngerer Bruder ist ebenfalls Soldat der Reserve und in der Nähe des Gazastreifens stationiert.

Unsere Jüngste, Lianne (22), hätte letzte Woche eine neue Arbeit beginnen sollen. Das war dann leider nicht mehr aktuell. Jetzt schlägt sie die Zeit tot und wird wahnsinnig.

Unsere Supermärkte funktionieren noch, aber viele Waren fehlen. Viele andere Läden sind geschlossen, die meisten Restaurants haben auf Mahlzeitenproduktion für die Reservisten umgestellt, mit Hilfe von Spendern und Freiwilligen.

Raketenalarm gab es in unserem Dorf seit dem 7. Oktober nur zweimal. Aber ich habe die App des Heimatfront-Kommandos auf meinem Handy und bekomme Push-Nachrichten auch für andere, ausgewählte Regionen. Bei Rakentenalarm heulen die Sirenen, dann gehen wir schnell in den Schutzraum, welchen wir jetzt in Ordnung gebracht haben. Die Türe lässt sich zwar noch immer nicht abschliessen, aber Eyal gibt mir pragmatisch zu verstehen, dass wir den Schutzraum wahrscheinlich nicht mehr brauchen, wenn der Feind bis hierher kommt. Das würde bedeuten, dass wir vermutlich keine Armee mehr haben und dann wären wir eh verloren..

Am Morgen des Massakers arbeitete ich in der Küche. Nach einer Weile stellte ich das Radio ab, da wegen der Durchsagen über die Raketenalarme kein einiziges Lied durchgespielt werden konnte. Dann rief Sivan an und teilte mit, dass einer ihrer Freunde, die an dem Musikfestival waren, an welchem 260 junge Leute brutal ermordet wurden, angeschossen wurde und er und zwei Kumpel Hals über Kopf fliehen konnten. Gegen elf Uhr verstanden wir, dass da etwas sehr Grosses und Uneinschätzbares im Gange war und Eyal fuhr nach Tel-Aviv, um die dort wohnenden Kinder zu uns zu holen.

Seither reissen die Horromeldungen nicht mehr ab. Schlag auf Schlag folgen die unfassbaren Mitteilungen, Nachrichten, Bilder.

Mindesten sechs sehr gute Freunde meiner Kinder sind tot, sie wurden als Partygänger an dem Festival oder als junge Soldaten an dem Massaker brutalst ermordet.

Ich war an zwei Beerdigungen von jungen Menschen und an einigen Trauerbesuchen, meine Kinder an vielen mehr. Was für ein simpler Satz. Was für ein unfassbares Leid. Über Nitzan habe ich hier geschrieben. Nitzan’s Mutter brach während der Beerdigung dreimal zusammen.

Ein weiterer junger Freund meiner Töchter wird noch immer vermisst. Vielleicht ist er unter den Geiseln? Die Identifizierung der Leichen ist immer noch im Gange. Viele davon sind entstellt, zerstückelt, verbrannt. Jeden Tag treffen neue Namen ein.

Irgendwann wurden die unaufhörlichen Schläge in die Magengrube zuviel. Seither versuche ich mich von den Medien fernzuhalten. Unser persönliches Leid ist auch so mehr als genug, ich habe keine Kraft, Tausende von bestialischen Morden zu verarbeiten.

Zum ersten mal so richtig zusammengebrochen bin ich vor einigen Tagen, als wir kurz vor dem Shiv’a Besuch bei Yonis Familie die Nachricht erhalten haben, dass Alon schwerst verletzt worden ist. Alon (26) ist einer der besten Freunde unseres Sohnes Itay. Erst vor Kurzem haben wir uns ein Video angesehen, in welchem Itay an seinem ersten Schultag im neuen Wohnort in der zweiten Klasse von Alon herzlich empfangen wird und die beiden Jungs irgendwelche Sammelkarten austauschen. Damals waren sie ahnungslose, glückliche Kinder. Jetzt sind sie gezwungen, Uniformen und Waffen zu tragen, um ihre Familien und ihr Volk zu verteidigen. Im Gegensatz zu anderen Völkern in unserer Nachbarschaft erziehen wir unsere Kinder nicht zum Töten, sondern wir schicken sie schweren Herzens ins Militär, weil es keine andere Möglichkeit gibt. Itay und Alon haben ihre ganze Schullaufbahn zusammen verbracht, sie waren zusammen bei den Pfadfindern, reisten einige Male ins Ausland, und letztes Jahr einen ganzen Monat nach Mexiko. Alon ist ein Sohn unseres Hauses, seine Eltern und Geschwister sind gute Freunde.

Vor einigen Tagen ist Alon bei einem Verteidigungsmanöver schwerst verletzt worden. Eine Soldatin wurde von einer Granate sofort getötet, Alon wurden Extremitäten weggerissen. Seit dem Vorfall weilt unser Itay mit der Familie von Alon im Spital. Nachts legt er sich irgendwo auf den Boden, um einige Stunden die Augen zu schliessen, sein Sturmgewehr dabei fest umarmt. Die Ärzte glauben, dass Alon einmal eine Braue und einmal eine Zehe bewegt hat, daran klammert sich die Familie. Itay wird bald zu seiner Einheit zurückkehren müssen. Ich werde ihn dabei unterstützen, so unendlich schwer mir das als Mutter fällt.

In jeder Sekunde, in der ich mich nicht ganz bewusst mit irgendetwas ablenke, sehe ich  Alon vor mir. Nachts habe ich Angst, mich hinzulegen und wenn ich schlafe, habe ich Angst, aufzuwachen. Die Gedanken an Alon verfolgen mich. Dabei ist das schwere Schicksal von Alon und seiner Familie nur eines von Tausenden in diesen Tagen.

Am Montag fuhren mein Mann und ich nach Naharyia, um Itay und Alon's Familie zu unterstützen. Es war das erste mal, dass wir Itay wiedergesehen haben, seit er am 8. Oktober eingezogen worden ist. An diesem Montag konnte er auch das erste mal wieder duschen. Die Uniform steckt seither in einer Tasche, Bekannte haben ihm eine alte Hose und ein rosa T-Shirt ausgeliehen.

Auf der Fahrt nach Hause spielten alle Navigationsgeräte verrückt. Man sagt, die Armee würde absichtlich die Satelliten unterbrechen. Ausserdem gab es in Tel-Aviv Raketenalarm, während Lianne an der Beerdigung ihrer Freundin Shir teilnahm, die am Festival ermordet wurde. Die Trauergemeinde, welche Shir's Leib auf dem letzten Weg begleitete, musste sich schutzsuchend zu Boden werfen, denn auf Friedhöfen gibt es keine Schutzräume. Wir wurden natürlich in Echtzeit per WhatsApp auf dem Laufenden gehalten. 

Es ist alles wie in einem katastrophalen Horrorfilm, nur spielen darin ausnahmsweise, nebst vielen anderen, wir selbst und unsere Kinder mit.
 
 
Die kurzgehaltene Whatsapp Meldung unserer Tochter: "Raketenalarm während der Beerdigung"



Das Leid ist in diesem Ausmass nicht mehr zu erfassen und nicht mehr zu ertragen. Ich versuche, mich von den Nachrichten fernzuhalten, aber leider holen mich viele davon ein. Mein Fass ist übervoll. Ich versuche Bücher zu lesen, aber wir haben jetzt alle ein schweres Aufmerksamkeitsdefizit und können keinen Satz fertiglesen. Meine Stimmung schwankt zwischen totaler Verzweiflung und Momenten der Hoffnung. Ich schlafe nachts nicht, habe konstant Atemnot und fühle mich wie ein alter Waschlappen. Sivan raucht jeden Abend einen Joint, ich trinke eher öfter ein Gläschen, Lianne frisst Unmengen von Zucker in sich hinein. Das ist jetzt alles egal, solange es uns einigermassen auf den Beinen hält.

Meinen Geschwistern in der Schweiz habe ich mitgeteilt, das ich nicht mehr telefonieren kann. Wie soll man sich am Telefon unterhalten, wenn eine Person im Krieg ist und die andere in der Schweiz beim Apéro? Ich weiss, dass sie sich machtlos fühlen, dass sie sich um uns sorgen und in Gedanken bei uns sind. Aber ich weiss auch, dass das Leid nicht mehr nachvollziehbar und nicht komunizierbar ist, vor allem nicht am Telefon.

Ich fühle mich schlecht dabei, diesen Bericht in den Blog zu stellen. Wenn ich ihn durchlese, bin ich selbst schockiert. Ich will keinen Kriegsporno betreiben, aber warum soll ich dieses Leid für mich behalten? Eine Arbeitskollegin in den USA wünschte mir in einer Mail am letzten Freitag "Have a wonderful weekend!" Dieser bestimmt nicht absichtlich gemachte schlechte Witz hallt immer noch nach. Für Leute wie sie veröffentliche ich diesen Beitrag. Nein, ich habe kein wunderbares Wochenende verbracht. Wir sind am Boden zerstört.

Und habe ich eigentlich über die Angst geschrieben, dass alles noch viel schlimmer werden könnte?

Für Öffentlichkeitsarbeit oder den zusätzlichen Krieg, der sich in den Medien abspielt, habe ich keine Kraft und noch viel weniger für Aussagen wie „...aber die Zivilisten in Gaza...“. Darüber können wir ein andermal sprechen, vielleicht, wenn wir wieder einigermassen bei Kräften sind.

Bitte betet für Alon, für alle Verletzten, für die Geiseln, für alle Betroffenen, für Israel und für bessere Zeiten.



Samstag, 14. Oktober 2023

Nitzan



Am Donnerstag haben wir Nitzan zu Grabe getragen, Klassenkameradin und gute Freundin meiner älteren Tochter. Ihr Leib wurde neben Lidor, ihrem Verlobten, der einen Tag vor ihr beerdigt wurde, zur Ruhe gelegt. Nitzan’s Geschwister, die Zwillinge Ofri und Omri waren in der Klasse meiner jüngeren Tochter. Das Haus ihrer Familie liegt in der Strasse hinter uns.

Nitzan und Lidor waren an der Rave-Party im Süden. Der Kontakt zu Nitzan brach am Samstagmorgen des 7. Oktobers ab, aber schon bald erhielt die Familie ein Video, in welchem Nitzan, Lidor und einige Freunde in einem offenen Betonbunker Schutz suchend erkennbar sind. Sie scheinen verängstigt, aber wohlauf. Das Video gibt der Familie Hoffnung in den zermürbenden vier bis fünf Tagen der Ungewissheit. Vielleicht halten sich die jungen Leute irgendwo versteckt. Später, am Tag, der die Gewissheit bringt, kursiert in den Medien ein weiteres Video desselben Betonbunkers (er trägt einen grossen gemalten Vogel auf seiner Vorderseite) vor welchem einige schwer bewaffnete Terroristen ihr grausames Werk treiben und einer der Unmenschen eine Handgranate in den Bunker wirft. Nach der Beerdigung von Nitzan wird auch die Aufnahme ihres letzten Telefongesprächs mit ihrer Mutter publik gemacht. Nitzan schreit, dass geschossen wird und dass sie hier weg will.

Erst vor wenigen Tagen hatte Nitzan ihrer Familie mitgeteilt, dass sie schwanger war und die Familie begann freudig die Hochzeit zu planen.

Nun ziehen sich meine Mädchen an und treffen ihre Freundinnen, aber sie gehen nicht an eine Hochzeit oder eine Party, wie es für ihr Alter normal wäre, sondern an die Beerdigung und später die Schiv’a von Nitzan.

Die Geschichte von Nitzan ist nur eine von einer nicht nachvollziehbaren Zahl an unfassbaren Horrorgeschichten.



Rabbi Jonathan Sacks schreibt in seinem Buch „A Letter in the Scroll“: „Das Judentum vertritt die kühne Idee, dass Mensch und Gott Partner im Schöpfungswerk sind.“
„Gott steckt nicht in der Antwort, sondern in der Frage. Auf die Frage "Warum leiden die Unschuldigen?" gibt es auf der Ebene des Denkens keine Antwort. Die einzige angemessene Antwort liegt auf der Ebene der Tat, auf dem langen Weg zu einer Welt, in der die Unschuldigen nicht mehr leiden. Das jüdische Gesetz fordert uns auf, nur das zu akzeptieren, was nicht geändert werden kann, und es gibt kein Übel in der Zukunft, das nicht geändert werden kann.“ 
Wir müssen diesen langen Weg gehen. Wir müssen jetzt die Antwort sein.


Ich bin kein religiöser Mensch, aber ich habe, seit ich das Judentum zu begreifen versuche, eine tiefe Hochachtung und Liebe für die Werte dieser schon in ihren Anfängen revolutionären Religion. Schon länger, seit ich mich bewusst damit befasse, die jüdische Identität zu verstehen, sowohl im Zusammenhang mit dem Lande Israel als auch im Bezug auf die Weltgeschichte, bin ich religiösen jüdischen Menschen in den mannigfaltigen Facetten der Religiösität dankbar. Sie nehmen die nicht immer einfache Arbeit auf sich, diese Religion zu leben, am Leben zu erhalten und weiterzugeben. Ich selbst fühle mich den Werten der Religion aus tiefstem Herzen verbunden, aber die Traditionen bleiben mir  obwohl sehr bekannt  fremd, vielleicht weil sie nicht in mir verwurzelt sind (ich bin konvertierte Jüdin). 

Den Kiddusch (das Sabbatgebet) beten wir sonst nur, wenn meine Schwiegermutter zu Besuch kommt, und auch dann nur halbherzig. Aber meine Kinder kennen das Gebet auswendig, sie haben es bei meinen Schwiegereltern jeden Freitag ihrer Kindheit gemeinsam gebetet. Diesen Freitag beten wir auch wieder gemeinsam: meine Töchter, der Freund, mein Mann, meine Schwiegermutter. Unser Sohn, als Reservist im Norden an der libanesischen Grenze stationiert, nimmt per Videoanruf teil. Sein Handy muss dunkel bleiben, deshalb sehen wir im Dunkel der Nacht nur seine Umrisse. Er spricht das ganze Gebet auswendig vor, sein Grossvater wäre stolz auf ihn. Dieser Zusammenhalt gibt uns nun Kraft und ich hoffe, dass auch meine Töchter zuversichtlich bleiben können „auf dem langen Weg zu einer Welt, in der die Unschuldigen nicht mehr leiden.“