Mittwoch, 14. Juli 2021

Proportionen


Urlaub bedeutet für mich immer auch Stress. An was man alles denken muss! Die vielen Vorbereitungen! Die Reservationen, letzte Besorgungen, das Haus und der Garten wollen versorgt sein. Auch Vorfreude ist eine Art Stress, wenn auch positiver Art. Es ist wahr, dass man ein Leben erstreben sollte, von dem man gar keinen Urlaub braucht. Aber davon träume ich bis anhin nur. Aussteigerabsichten, die täglich aufgeschoben werden.

Noch mehr als der bevorstehende Urlaub bereitet mir ein Projekt an der Arbeit schlaflose Nächte. Ein Projekt, das viel zu gross ist für mich. Und das viel zu schnell vorangetrieben wird. Ja, das eigentlich in vollem Karacho gegen die Wand getrieben wird. Die Katastrophe ist absehbar. Trotzdem gebe ich mir grosse Mühe, mein Bestes daranzugeben. Und mir dabei immer wieder klarzumachen, dass die Verantwortung für das neue Dokumentensystem nicht alleine auf meinen Schultern liegt.

Aber nachts entziehen sich die Gedanken meiner Kontrolle. Dann liege ich wach, weil die Bedenken und Zweifel in meinem Kopf wilde Reigen tanzen und den Schlaf fernhalten.

Erst beim Laufen am Morgen werden die Sorgen wieder übersichtlich und unscheinbar.

Heute Morgen führt meine Laufrunde einmal mehr zum Friedhof am entfernten Ende unseres Nachbardorfes. Ich mag diesen Ort der letzten Ruhe, der mit wunderbarer Aussicht auf einer kleinen Anhöhe liegt. Umgeben von schattigen Hainen und Feldern, die je nach Jahreszeit bestellt werden, hat dieser Ort – besonders zu früher Morgenstunde – eine besondere Ausstrahlung. An den hinteren Teil des Friedhofs grenzend liegt ein kleines Naturschutzgebiet, das von hohem Schilf überwachsen für Menschen unbegehbar ist. Vielleicht tanzen dort nachts die toten Seelen. Jetzt quaken Frösche ihr lautes Morgenkonzert. Es wird ein heisser Tag. Die sich bis zum Horizont ausdehnenden Felder liegen im Dunst. Heute setze ich mich auf eine Bank und schaue über die Gräber hinweg der aufgehenden Sonne zu.

Eines Tages wird auch an mich nur noch ein Stein mit eingraviertem Namen erinnern. Die Sonne wird wohl weiterhin jeden Morgen aufgehen. Die Erde wird sich weiter drehen (Vielleicht... Wer weiss, so wie es im Moment mit dem Klimawandel und den Pandemien aussieht, scheint das System doch ziemlich aus dem Gleichgewicht geraten zu sein). Niemand wird mehr an mich denken, ausser vielleicht meine Liebsten.

Mit dieser altbekannten Erkenntnis, die ich mir ab und zu erneut vor Augen halten muss, mache ich mich auf den Heimweg. Mit neuen Kräften, das Projekt an meiner Arbeit gar nicht so wichtig zu nehmen. Mit dem Vorsatz, mir immer wieder zu vergegenwärtigen, dass ich nur ein winziges Rädchen in diesem grossen Ganzen bin. 
Und den Urlaub werde ich, wenn der Vorbereitungsstress erst vorbei ist, so richtig geniessen!