Donnerstag, 8. September 2022

Russische Elefanten



Vor einigen Wochen – vielleicht sind es auch schon Monate – habe ich mir Dostojewskijs „Schuld und Sühne“ auf den Kindle geladen. Sehr weit bin ich unterdessen mit dem Lesen dieses 800-Seiten-Wälzers noch nicht gekommen. Die Sätze sind lang, die Personen mit ihren russischen Namen – teils mit Spitz- oder Kosenamen bezeichnet – vielzählig und wer nicht am Ball bleibt und in einem durchliest, ist bald verwirrt. Es ist kein einfaches Unterfangen, diesen Roman zu lesen, aber etwas Konzentrationsübung kann in unserer flüchtigen Welt nur von Vorteil sein. Doch trotz allen guten Vorsätzen war dieses Projekt für mich schon sehr nahe am Scheitern – bis ich gestern zufällig auf den Film „Die Frau mit den 5 Elefanten“ gestossen bin.

"Die Frau mit den 5 Elefanten" ist die Übersetzerin Swetlana Geier. Die fünf Elefanten sind die fünf grossen Romane von Fjodor Dostojewskij: „Verbrechen und Strafe“, „Der Idiot“, „Böse Geister“, „Die Brüder Karamasow“ und „Ein grüner Junge“.
Swetlana Geier kam 1923 als einziges Kind russischer Eltern in Kiew zur Welt. Sie besuchte eine einfache Schule und nahm auf Veranlassung der Mutter Privatunterricht in Deutsch und Französisch.
Im September 1943 verliessen Swetlana und ihre Mutter Kiew und wurden in Dortmund in ein Ostarbeiterlager interniert.
Nach Kriegsende studierte Swetlana in Freiburg Germanistik und Vergleichende Sprachwissenschaft. Sie heiratete, wurde Mutter zweier Kinder, wurde geschieden und starb 2010, als Oberhaupt einer grossen Familie mit zahlreichen Enkeln und Urenkeln, in Freiburg.


Doch während man sich unter der genialen Übersetzerin dieser Klassiker der Weltliteratur vielleicht eine elegante Dame oder eine zerstreute Professorin vorstellen würde, war Swetlana äusserlich eine bucklige alte Grossmutter, die ein einfaches – heute würde man sagen nachhaltiges – Leben führte. Sie lebte und starb in einem alten „Grossmutterhaus“, das mit seinem Keller, mit den Einmachgläsern und der altmodischen Küche ein Überbleibsel aus einer anderen Welt zu sein schien. Wenn sie nicht las oder übersetzte, kaufte sie frisches Gemüse auf dem Markt, kochte für die Enkelkinder und bügelte ihre weissen Schürzen. Sie war eine Frau, die sich Zeit nahm – für alles. Fürs Teetrinken, fürs Gemüse rüsten, fürs Bleistiftspitzen, und natürlich für die Sprache und das Übersetzen, ihre grosse Leidenschaft.

Das ist wohl der zentrale Grund für die Magie und Sehnsucht, den dieser Film bei den Zuschauern erweckt. Alles an Swetlana schien bedächtig und aufmerksam, die Lebensumstände schlicht und unkompliziert. Aber sie war brillant und faszinierte gerade aufgrund dieses Gegensatzes von Brillanz und Einfachheit. Ihre grenzenlose Liebe zur Sprache ist im Film allgegenwärtig. Das Spiel mit der Sprache lässt ihr Gesicht aufleuchten und ihre Augen strahlen. Der Film macht auch deutlich, wie wichtig ihr die Musikalität der Sprache war. Die Werke Dostojewskijs mussten für sie Symphonien gewesen sein. Zum Korrigieren liess sie sich ihre Übersetzung vorlesen. Sie musste den Text hören, sonst wäre sie wohl beim Selber lesen in den Buchstaben verloren gegangen.

Dass die Übersetzungsarbeit Silbe für Silbe und Wort für Wort mündlich diktiert und per Schreibmaschine getippt stattfand, war angesichts dieser Person fast zu erwarten und ist doch gleichzeitig fast unfassbar.

Der Film liess mich elektrisiert zurück und verschaffte mir einen ganz neuen Blickwinkel auf mein persönliches „Dostojewskij-Projekt“.  Zum Autor Dostojewskij selbst – einem vor zweihundert Jahren in Russland geborenen Menschen – einen Bezug zu finden fällt mit schwer. Aber nun sehe ich bei jedem Wort in der deutschen Übersetzung diese eindrückliche Frau mit ihren lebhaften blauen Augen, höre ihre Stimme beim Übersetzen und das Klappern der Schreibmaschine. So wird jedes Wort zu einem klingenden Erlebnis. Vielen Dank an eine ganz ausserordentliche Frau!