Mittwoch, 18. Oktober 2023

Have a wonderful weekend

Die Schlagzeilen und Nachrichten überschlagen sich und werden für Bekannte und Familie in der Schweiz und anderswo sehr unübersichtlich. Oft werde ich gefragt, wie wir die jetzige Situation erleben, was wir mitbekommen, wie das für uns persönlich aussieht. Das möchte ich gerne beschreiben.

Heute morgen bin ich seit langem wieder einmal laufen gegangen, nach einer längeren Pause aufgrund von Verletzungen. Die Felder und der nahegelegene Wald sind jetzt zu unsicher, deshalb umrunde ich nur unseren Wohnort, ohne ihn zu verlassen. Sonst laufe ich ohne Musik, ich liebe es, nur meine Schritte zu hören und meinen Atem zu spüren. Aber jetzt habe ich grösste Mühe, die Horrorbilder und Schreckgedanken fernzuhalten. Aber dass ich jetzt wieder laufen und auch schreiben kann, empfinde ich als ein Zeichen, dass es mir im Moment gerade etwas besser geht.

Unser Dorf im Zentrum Israels mit etwa 12,000 Einwohnern ist auch zu „normalen“ Zeiten vollkommen eingezäunt. Es gibt vier befahrbare Eingänge mit Schranken, die sonst nur nachts geschlossen werden. Jetzt sind drei dieser Eingänge rund um die Uhr geschlossen, der vierte Eingang wird Tag und Nacht von zwei bewaffneten Männern bewacht. Schulunterricht findet keiner statt.

Ich arbeite im Home office und bin froh, durch die Arbeit abgelenkt zu werden. Wenn immer ich es wage, eine kurze Pause zu machen, holt mich die Realität ein und lässt mich einknicken. Seit dem 7. Oktober habe ich unser Haus nur wenige Male verlassen, zweimal war ich an Beerdigungen, zweimal an einer Shiv’a und einmal habe ich unseren Soldatensohn und dessen schwerstverletzten Freund im Spital in Naharyia besucht.

Bei uns zuhause arbeitet auch mein Mann jetzt im Home office und mit uns leben unsere jüngste Tochter Lianne (22) und jetzt auch abwechslungsweise meine Schwiegermutter (83) und die Tochter Sivan (28) und ihr Freund, deren Wohnung in Tel-Aviv nun leer liegt. Alle müssen essen, aber ich habe keine Kräfte, ich koche kaum, putzte nicht, der Garten liegt brach, Einkäufe erledige ich online.

Unser Sohn Itay (26) ist als Reservist eingezogen, er dient in einer Kampfeinheit an der nördlichen Grenze Israels.

Auch Sivan ist als Reservistin eingezogen, sie bildet Notfallsanitäter aus, kommt aber nachts nach Hause. Sie ist ausserordentlich froh, dass sie eine Tätigkeit hat, denn in der PR-Agentur in der sie arbeitet, gibt es im Moment nichts zu tun. Ihr Freund arbeitet zu Hause oder fährt ins Büro. Sein jüngerer Bruder ist ebenfalls Soldat der Reserve und in der Nähe des Gazastreifens stationiert.

Unsere Jüngste, Lianne (22), hätte letzte Woche eine neue Arbeit beginnen sollen. Das war dann leider nicht mehr aktuell. Jetzt schlägt sie die Zeit tot und wird wahnsinnig.

Unsere Supermärkte funktionieren noch, aber viele Waren fehlen. Viele andere Läden sind geschlossen, die meisten Restaurants haben auf Mahlzeitenproduktion für die Reservisten umgestellt, mit Hilfe von Spendern und Freiwilligen.

Raketenalarm gab es in unserem Dorf seit dem 7. Oktober nur zweimal. Aber ich habe die App des Heimatfront-Kommandos auf meinem Handy und bekomme Push-Nachrichten auch für andere, ausgewählte Regionen. Bei Rakentenalarm heulen die Sirenen, dann gehen wir schnell in den Schutzraum, welchen wir jetzt in Ordnung gebracht haben. Die Türe lässt sich zwar noch immer nicht abschliessen, aber Eyal gibt mir pragmatisch zu verstehen, dass wir den Schutzraum wahrscheinlich nicht mehr brauchen, wenn der Feind bis hierher kommt. Das würde bedeuten, dass wir vermutlich keine Armee mehr haben und dann wären wir eh verloren..

Am Morgen des Massakers arbeitete ich in der Küche. Nach einer Weile stellte ich das Radio ab, da wegen der Durchsagen über die Raketenalarme kein einiziges Lied durchgespielt werden konnte. Dann rief Sivan an und teilte mit, dass einer ihrer Freunde, die an dem Musikfestival waren, an welchem 260 junge Leute brutal ermordet wurden, angeschossen wurde und er und zwei Kumpel Hals über Kopf fliehen konnten. Gegen elf Uhr verstanden wir, dass da etwas sehr Grosses und Uneinschätzbares im Gange war und Eyal fuhr nach Tel-Aviv, um die dort wohnenden Kinder zu uns zu holen.

Seither reissen die Horromeldungen nicht mehr ab. Schlag auf Schlag folgen die unfassbaren Mitteilungen, Nachrichten, Bilder.

Mindesten sechs sehr gute Freunde meiner Kinder sind tot, sie wurden als Partygänger an dem Festival oder als junge Soldaten an dem Massaker brutalst ermordet.

Ich war an zwei Beerdigungen von jungen Menschen und an einigen Trauerbesuchen, meine Kinder an vielen mehr. Was für ein simpler Satz. Was für ein unfassbares Leid. Über Nitzan habe ich hier geschrieben. Nitzan’s Mutter brach während der Beerdigung dreimal zusammen.

Ein weiterer junger Freund meiner Töchter wird noch immer vermisst. Vielleicht ist er unter den Geiseln? Die Identifizierung der Leichen ist immer noch im Gange. Viele davon sind entstellt, zerstückelt, verbrannt. Jeden Tag treffen neue Namen ein.

Irgendwann wurden die unaufhörlichen Schläge in die Magengrube zuviel. Seither versuche ich mich von den Medien fernzuhalten. Unser persönliches Leid ist auch so mehr als genug, ich habe keine Kraft, Tausende von bestialischen Morden zu verarbeiten.

Zum ersten mal so richtig zusammengebrochen bin ich vor einigen Tagen, als wir kurz vor dem Shiv’a Besuch bei Yonis Familie die Nachricht erhalten haben, dass Alon schwerst verletzt worden ist. Alon (26) ist einer der besten Freunde unseres Sohnes Itay. Erst vor Kurzem haben wir uns ein Video angesehen, in welchem Itay an seinem ersten Schultag im neuen Wohnort in der zweiten Klasse von Alon herzlich empfangen wird und die beiden Jungs irgendwelche Sammelkarten austauschen. Damals waren sie ahnungslose, glückliche Kinder. Jetzt sind sie gezwungen, Uniformen und Waffen zu tragen, um ihre Familien und ihr Volk zu verteidigen. Im Gegensatz zu anderen Völkern in unserer Nachbarschaft erziehen wir unsere Kinder nicht zum Töten, sondern wir schicken sie schweren Herzens ins Militär, weil es keine andere Möglichkeit gibt. Itay und Alon haben ihre ganze Schullaufbahn zusammen verbracht, sie waren zusammen bei den Pfadfindern, reisten einige Male ins Ausland, und letztes Jahr einen ganzen Monat nach Mexiko. Alon ist ein Sohn unseres Hauses, seine Eltern und Geschwister sind gute Freunde.

Vor einigen Tagen ist Alon bei einem Verteidigungsmanöver schwerst verletzt worden. Eine Soldatin wurde von einer Granate sofort getötet, Alon wurden Extremitäten weggerissen. Seit dem Vorfall weilt unser Itay mit der Familie von Alon im Spital. Nachts legt er sich irgendwo auf den Boden, um einige Stunden die Augen zu schliessen, sein Sturmgewehr dabei fest umarmt. Die Ärzte glauben, dass Alon einmal eine Braue und einmal eine Zehe bewegt hat, daran klammert sich die Familie. Itay wird bald zu seiner Einheit zurückkehren müssen. Ich werde ihn dabei unterstützen, so unendlich schwer mir das als Mutter fällt.

In jeder Sekunde, in der ich mich nicht ganz bewusst mit irgendetwas ablenke, sehe ich  Alon vor mir. Nachts habe ich Angst, mich hinzulegen und wenn ich schlafe, habe ich Angst, aufzuwachen. Die Gedanken an Alon verfolgen mich. Dabei ist das schwere Schicksal von Alon und seiner Familie nur eines von Tausenden in diesen Tagen.

Am Montag fuhren mein Mann und ich nach Naharyia, um Itay und Alon's Familie zu unterstützen. Es war das erste mal, dass wir Itay wiedergesehen haben, seit er am 8. Oktober eingezogen worden ist. An diesem Montag konnte er auch das erste mal wieder duschen. Die Uniform steckt seither in einer Tasche, Bekannte haben ihm eine alte Hose und ein rosa T-Shirt ausgeliehen.

Auf der Fahrt nach Hause spielten alle Navigationsgeräte verrückt. Man sagt, die Armee würde absichtlich die Satelliten unterbrechen. Ausserdem gab es in Tel-Aviv Raketenalarm, während Lianne an der Beerdigung ihrer Freundin Shir teilnahm, die am Festival ermordet wurde. Die Trauergemeinde, welche Shir's Leib auf dem letzten Weg begleitete, musste sich schutzsuchend zu Boden werfen, denn auf Friedhöfen gibt es keine Schutzräume. Wir wurden natürlich in Echtzeit per WhatsApp auf dem Laufenden gehalten. 

Es ist alles wie in einem katastrophalen Horrorfilm, nur spielen darin ausnahmsweise, nebst vielen anderen, wir selbst und unsere Kinder mit.
 
 
Die kurzgehaltene Whatsapp Meldung unserer Tochter: "Raketenalarm während der Beerdigung"



Das Leid ist in diesem Ausmass nicht mehr zu erfassen und nicht mehr zu ertragen. Ich versuche, mich von den Nachrichten fernzuhalten, aber leider holen mich viele davon ein. Mein Fass ist übervoll. Ich versuche Bücher zu lesen, aber wir haben jetzt alle ein schweres Aufmerksamkeitsdefizit und können keinen Satz fertiglesen. Meine Stimmung schwankt zwischen totaler Verzweiflung und Momenten der Hoffnung. Ich schlafe nachts nicht, habe konstant Atemnot und fühle mich wie ein alter Waschlappen. Sivan raucht jeden Abend einen Joint, ich trinke eher öfter ein Gläschen, Lianne frisst Unmengen von Zucker in sich hinein. Das ist jetzt alles egal, solange es uns einigermassen auf den Beinen hält.

Meinen Geschwistern in der Schweiz habe ich mitgeteilt, das ich nicht mehr telefonieren kann. Wie soll man sich am Telefon unterhalten, wenn eine Person im Krieg ist und die andere in der Schweiz beim Apéro? Ich weiss, dass sie sich machtlos fühlen, dass sie sich um uns sorgen und in Gedanken bei uns sind. Aber ich weiss auch, dass das Leid nicht mehr nachvollziehbar und nicht komunizierbar ist, vor allem nicht am Telefon.

Ich fühle mich schlecht dabei, diesen Bericht in den Blog zu stellen. Wenn ich ihn durchlese, bin ich selbst schockiert. Ich will keinen Kriegsporno betreiben, aber warum soll ich dieses Leid für mich behalten? Eine Arbeitskollegin in den USA wünschte mir in einer Mail am letzten Freitag "Have a wonderful weekend!" Dieser bestimmt nicht absichtlich gemachte schlechte Witz hallt immer noch nach. Für Leute wie sie veröffentliche ich diesen Beitrag. Nein, ich habe kein wunderbares Wochenende verbracht. Wir sind am Boden zerstört.

Und habe ich eigentlich über die Angst geschrieben, dass alles noch viel schlimmer werden könnte?

Für Öffentlichkeitsarbeit oder den zusätzlichen Krieg, der sich in den Medien abspielt, habe ich keine Kraft und noch viel weniger für Aussagen wie „...aber die Zivilisten in Gaza...“. Darüber können wir ein andermal sprechen, vielleicht, wenn wir wieder einigermassen bei Kräften sind.

Bitte betet für Alon, für alle Verletzten, für die Geiseln, für alle Betroffenen, für Israel und für bessere Zeiten.



3 Kommentare:

Schreibschaukel hat gesagt…

Es ist gut, dass du die Lage so klar beschreibst, liebe Jael. Danke für diesen ausführlichen und schmerzhaften Bericht.
Das Problem der westlichen Gesellschaft ist, dass sie sich die Vorkommnisse und ständige Gefahr, die jetzt eine neue und schreckliche Dimension erreicht haben, aber schon vorher existierten, nicht ansatzweise vorstellen kann. Es liegt nicht in unserem Denkkonzept, dass es "Menschen" gibt, die so grausam sein können, und dass es manchmal keine andere Möglichkeit gibt, als sie zu bekämpfen. Schrecklich genug, dass eure Kinder jetzt in den Kampf ziehen müssen -sie tun es letztlich auch für uns! Statt Kritik wäre jetzt uneingeschränkte Solidarität angesagt.
Meine und auch meine Gebete sind euch sicher.

1st, female hat gesagt…

Leonard Cohen:
There is a crack, a crack in everything
That's how the light gets in ...
Da ist weit und breit kein Riss für Licht, nur unvorstellbares Leid.
Ich schliesse mich der Meinung von Schreibschaukel an: Es ist gut, dass du hier schreibst - unbedingt!!

canadaeinfach hat gesagt…

Ich schliesse mich meinen beiden Vorkommentatorinnen an, bitte schreib weiter. In den letzten Tage habe ich oft an dich gedacht und versuche, das alles zu verstehen. Ich begreife es einfach nicht, dass Menschen so unversöhnlich sind und solchen Hass entwickeln! Canada ist weit weg und unsere Welt hier so friedlich...
Meine Gedanken sind bei euch!