Samstag, 9. Dezember 2023

Woche 9




Montag, 4.12.

Immer noch werden Leichen identifiziert. Auch heute wird der Tod von weiteren, seit dem 7. Oktober vermissten Israelis bekannt gegeben. 58 Tage der Ungewissheit für die Angehörigen kommen zu einem bitteren Ende.

Bei der Kaffeemaschine in der Firma schenken sich zwei Mitarbeiterinnen ihre Morgen-Cappuccinos ein. Beide weinen, sie sind in Tränen aufgelöst. Na und? Ich wundere mich nicht.

Dienstag, 5.12.

Die Fotos und Namen der Gefallenen werden täglich veröffentlicht. Junge Burschen in ihren Zwanzigern, einige Familienväter. Sieben israelische Soldaten sind gestern gefallen. Das zieht mir den Boden unter den Füssen weg. Der Preis für den Krieg ist zu hoch, schreit es in mir. Doch als ich am Abend die Zeugenaussage einer Überlebenden des Nova-Festivals höre – schreckliche Schilderungen über unvorstellbare Grausamkeiten an lebenden jungen Frauen – weiss ich, dass wir leider keine andere Wahl haben.

Seit frühmorgens gibt es den ganzen Tag Raketenangriffe auf verschiedene Gebiete in Israel. Am Morgen aus Gaza auf Beersheva, am Mittag auf Ashkelon und Tel-Aviv, am Abend auch im Norden aus dem Libanon, von wo die Hisbollah zehn Raketen auf das evakuierte Kiriat Shmona abfeuert. In Ashkelon gibt es Verletzte von einem direkten Treffer auf ein Wohngebäude. In Tel-Aviv fallen Überreste eines Geschosses wenige Schritte von der Wohnung meines Sohnes auf den Gehsteig. Im Internet kursieren später die Aufnahmen eines mindestens 1,5 Meter langen schweren Metallrohres, das aus dem Himmel fällt und dabei zwei Passanten um Sekundenbruchteile verfehlt! Die Hamasniks sind bedauerlicherweise nicht so zuvorkommend wie die IDF – wir werden nicht vorgewarnt. Ja ich weiss, die Iron Domes sind ein grosser Vorteil für uns, doch es ist absurd, dass wir sie überhaupt brauchen. Man bedenke nur die horrenden Kosten dieser lebensrettenden Einrichtung: Jede Iron-Dome-Abwehrrakete kostet 60.000 $. Für die Abwehr jeder einzelnen Rakete, die die Hamas auf uns schickt, werden mehr als 220,000 Schekel verpufft! Wie viel sinnvoller man dieses Geld doch investieren könnte!

Mittwoch, 6.12.2023

Mein Tagebuch stockt. Ein freudloser trauriger Alltag hat sich eingespielt. Alles wiederholt sich in einer scheinbar endlosen 24-Stunden-Schlaufe. Der Geisel-Alptraum hat kein absehbares Ende. Die Raketenangriffe gehen weiter, mehrmals täglich gibt es Alarm. Der bedrohende Lärm der Kampfflugzeuge über unseren Köpfen ist zur Gewohnheit geworden. Jeden Tag die Schreie der Eltern über neue Todesnachrichten. Dann die Beerdigungen. Ich kenne die Soldaten nicht, doch sie könnten meine Kinder oder Angehörigen sein. Mit jedem Namen, jedem Gesicht fühle ich, dass man mir ein Messer im Herzen umdreht. Am 7. Oktober sind 330 israelische Soldaten ermordet worden, weitere 90 sind bis heute gefallen.
An der Arbeit bin ich abgelenkt, aber freudlos. Abends weiss ich nicht, wie ich die Stunden verbringen soll. Wenn ich das Handy anrühre, verbrenne ich mir die Finger und die Seele.

Donnerstag, 7.12.2023

Im Radio wird tagelang ein endloses Wunschkonzert gesendet. Familien und Angehörige widmen ihren Liebsten, die noch immer in Gaza festgehalten werden, ihre Lieblingslieder und -Musik. Auch hier bricht mir jedes einzelne Lied, jede einzelne Geschichte das Herz.

Auf Fokus Jerusalem werden einige der Geiseln vorgestellt:
Der 19-jährige Rom Braslavski
Die 19-jährige Karina Ariev
Die 26-jährigen Zwillinge Ziv und Gali Berman

Die Chance, dass sie nicht mehr wiederkommen, ist gross. Der Gedanke daran ist nicht auszuhalten.

Freitag, 8.12.2023

Freunde treffen? Ins Restaurant gehen? Reisen gar – mein Traum, einen Trek in Nepal zu machen? All unsere Pläne, unsere freudigen Ereignisse, in näherer und fernerer Zukunft, haben sich in Luft aufgelöst. Oder zutreffender: wurden in Blut ertränkt.

Aber der Krieg hat auch seine guten Seiten: man muss keine Fenster mehr putzen, keinen Müll mehr trennen und man darf bedenkenlos vier Sufganiot (Berliner) zu je 500 Kalorien pro Stück vertilgen. Es kommt jetzt wirklich einfach nicht mehr darauf an.

Samstag, 9.12. 2023

Eine weitere der Geiseln ist in Gaza ermordet worden, der 24-jährige Sahar Baruch.

Falls sich jemand meiner Leser fragt, warum ich selbstbezogen über unser Schicksal in Israel schreibe und kein Wort über die Menschen in Gaza verliere – hier einige Worte dazu:

Es kann sein, dass die Menschen in Gaza sehr leiden. Die Bilder der Zerstörung sind schrecklich. Was in Gaza allerdings genau los ist, weiss niemand genau, da alle Informationen von der Hamas stammen und ob die jetzt noch Zeit haben, geflissentlichst Leichen zu zählen, darf man bezweifeln. Aber es sieht nicht gut aus.

Ich muss jedoch wegsehen, ich kann mich mit der Situation in Gaza nicht beschäftigen, denn meine persönliche Schmerzgrenze ist erreicht. Meine Schmerzgrenze ist nach den Beerdigungen der ermordeten und gefallenen Nitzan und Lidor, Yuval, Shir, Yoni und Roee, Freunde meiner Kinder, erreicht. Meine Schmerzgrenze ist seit dem 14. Oktober, an welchem der beste Freund unseres Sohnes von einer Granate in Stücke gerissen wurde und überlebt hat, nicht nur erreicht, sondern bei weitem überschritten. Zusätzlich staucht mich die Aussichtslosigkeit dieses Krieges, in welchem täglich die besten unserer Kinder fallen, so sehr zusammen, dass ich mich kaum noch erheben kann. Ich habe ganz einfach keinen Funken Schmerztoleranz mehr übrig. 

Des Weiteren bin ich vollkommen davon überzeugt, dass die Hamas und die sie unterstützende „Zivilbevölkerung“ die alleinige Schuld an diesem Krieg und allem Leid tragen, das der Krieg mit sich bringt. Schuld an diesem Krieg sind ihre Befehlshaber, ihre politischen Führer und all jene, die den Terror mit Waffen, Geld, Resolutionen, Narrativen und Lügen versorgen. 
Israel trägt insofern Schuld, als es die Gefahr, die sich jahrzehntelang abzeichnete, vernachlässigt hat, wider vermehrter Warnungen aus verschiedenen Richtungen, aus Ignoranz und vor allem wegen innenpolitischer Zerstrittenheit. 
Ich bin vollkommen davon überzeugt, dass es jetzt noch in der Hand der Hamas liegt, diesen Krieg und alles Leid, das er mit sich bringt, umgehend zu beenden. Sie könnten das Feuer einstellen, die Geiseln freilassen und die Anführer könnten sich ergeben. Der Krieg wäre zu Ende. Ich bin auch sicher, dass die Israelis die Ersten wären, friedlichen Palästinensern die Hand zu reichen, um eine sichere Existenz aufzubauen. Niemand von uns sieht gerne Zerstörung und leidende Menschen. Von ganzem Herzen wünschen wir uns friedliche, prosperierende Nachbarn, auch in Gaza. Von ganzem Herzen will ich hoffen, dass das eines Tages möglich sein wird, wenn auch vielleicht in ferner Zukunft.

2 Kommentare:

Schreibschaukel hat gesagt…

Was für ein schönes Bild ...und Symbol der Hoffnung. Ich hoffe mit dir, aus ganzen Herzen.

Yael Levy hat gesagt…

Liebe Schreibschaukel, Regenbogen gibt es bei uns im Winter recht oft, da in Israel meistens sehr schnell Sonne auf Regen folgt (oder umgekehrt). Aber sie so schön in (fast) unverbauter Landschaft zu erwischen, ist schon ein Glücksfall.