Samstag, 14. Oktober 2023

Nitzan



Am Donnerstag haben wir Nitzan zu Grabe getragen, Klassenkameradin und gute Freundin meiner älteren Tochter. Ihr Leib wurde neben Lidor, ihrem Verlobten, der einen Tag vor ihr beerdigt wurde, zur Ruhe gelegt. Nitzan’s Geschwister, die Zwillinge Ofri und Omri waren in der Klasse meiner jüngeren Tochter. Das Haus ihrer Familie liegt in der Strasse hinter uns.

Nitzan und Lidor waren an der Rave-Party im Süden. Der Kontakt zu Nitzan brach am Samstagmorgen des 7. Oktobers ab, aber schon bald erhielt die Familie ein Video, in welchem Nitzan, Lidor und einige Freunde in einem offenen Betonbunker Schutz suchend erkennbar sind. Sie scheinen verängstigt, aber wohlauf. Das Video gibt der Familie Hoffnung in den zermürbenden vier bis fünf Tagen der Ungewissheit. Vielleicht halten sich die jungen Leute irgendwo versteckt. Später, am Tag, der die Gewissheit bringt, kursiert in den Medien ein weiteres Video desselben Betonbunkers (er trägt einen grossen gemalten Vogel auf seiner Vorderseite) vor welchem einige schwer bewaffnete Terroristen ihr grausames Werk treiben und einer der Unmenschen eine Handgranate in den Bunker wirft. Nach der Beerdigung von Nitzan wird auch die Aufnahme ihres letzten Telefongesprächs mit ihrer Mutter publik gemacht. Nitzan schreit, dass geschossen wird und dass sie hier weg will.

Erst vor wenigen Tagen hatte Nitzan ihrer Familie mitgeteilt, dass sie schwanger war und die Familie begann freudig die Hochzeit zu planen.

Nun ziehen sich meine Mädchen an und treffen ihre Freundinnen, aber sie gehen nicht an eine Hochzeit oder eine Party, wie es für ihr Alter normal wäre, sondern an die Beerdigung und später die Schiv’a von Nitzan.

Die Geschichte von Nitzan ist nur eine von einer nicht nachvollziehbaren Zahl an unfassbaren Horrorgeschichten.



Rabbi Jonathan Sacks schreibt in seinem Buch „A Letter in the Scroll“: „Das Judentum vertritt die kühne Idee, dass Mensch und Gott Partner im Schöpfungswerk sind.“
„Gott steckt nicht in der Antwort, sondern in der Frage. Auf die Frage "Warum leiden die Unschuldigen?" gibt es auf der Ebene des Denkens keine Antwort. Die einzige angemessene Antwort liegt auf der Ebene der Tat, auf dem langen Weg zu einer Welt, in der die Unschuldigen nicht mehr leiden. Das jüdische Gesetz fordert uns auf, nur das zu akzeptieren, was nicht geändert werden kann, und es gibt kein Übel in der Zukunft, das nicht geändert werden kann.“ 
Wir müssen diesen langen Weg gehen. Wir müssen jetzt die Antwort sein.


Ich bin kein religiöser Mensch, aber ich habe, seit ich das Judentum zu begreifen versuche, eine tiefe Hochachtung und Liebe für die Werte dieser schon in ihren Anfängen revolutionären Religion. Schon länger, seit ich mich bewusst damit befasse, die jüdische Identität zu verstehen, sowohl im Zusammenhang mit dem Lande Israel als auch im Bezug auf die Weltgeschichte, bin ich religiösen jüdischen Menschen in den mannigfaltigen Facetten der Religiösität dankbar. Sie nehmen die nicht immer einfache Arbeit auf sich, diese Religion zu leben, am Leben zu erhalten und weiterzugeben. Ich selbst fühle mich den Werten der Religion aus tiefstem Herzen verbunden, aber die Traditionen bleiben mir  obwohl sehr bekannt  fremd, vielleicht weil sie nicht in mir verwurzelt sind (ich bin konvertierte Jüdin). 

Den Kiddusch (das Sabbatgebet) beten wir sonst nur, wenn meine Schwiegermutter zu Besuch kommt, und auch dann nur halbherzig. Aber meine Kinder kennen das Gebet auswendig, sie haben es bei meinen Schwiegereltern jeden Freitag ihrer Kindheit gemeinsam gebetet. Diesen Freitag beten wir auch wieder gemeinsam: meine Töchter, der Freund, mein Mann, meine Schwiegermutter. Unser Sohn, als Reservist im Norden an der libanesischen Grenze stationiert, nimmt per Videoanruf teil. Sein Handy muss dunkel bleiben, deshalb sehen wir im Dunkel der Nacht nur seine Umrisse. Er spricht das ganze Gebet auswendig vor, sein Grossvater wäre stolz auf ihn. Dieser Zusammenhalt gibt uns nun Kraft und ich hoffe, dass auch meine Töchter zuversichtlich bleiben können „auf dem langen Weg zu einer Welt, in der die Unschuldigen nicht mehr leiden.“




4 Kommentare:

Helga Nase hat gesagt…

💔

Schreibschaukel hat gesagt…

Danke für diesen schrecklich traurigen, aber dann auch wieder hoffnungsvollen Text.
Ihr steht jetzt an vorderster Front. Ich hoffe, die Welt begreift, dass ihr diesen Weg nicht allein gehen könnt, dass alle, egal welcher Religion sie angehören, alle, die für Werte wie Nächstenliebe und Toleranz stehen, ihn mitgehen sollen und müssen.
Meine Gedanken sind weiterhin bei euch.

Yael Levy hat gesagt…

Liebe Schreibschaukel, ehrlich gesagt, weiss ich nicht, was ich mehr befürchte, einen sich ausbreitenden Krieg, der für uns alle schrecklich werden könnte, oder die Möglichkeit, dass die Israelis und "die Welt" das Ganze nun einfach so bleiben lassen. Dass man uns am Boden zerstört liegen lässt und erwartet, dass wir uns aufrappeln und der Alltag weitergehen soll. Ich weiss es wirklich nicht, ich möchte einfach nur aus diesem Albtraum erwachen.

Yael Levy hat gesagt…

Liebe Helga Nase, danke für die Anteilnahme!