Montag, 30. Oktober 2023

Tut mir leid Fatima

Dieser Tag beginnt mit der Meldung, dass die deutsch-israelische 22-jährige Shani Louk offenbar tot  ist. In einem Video posierten am 7. Oktober die Hamas-Bestien über dem Körper der jungen Frau, sie lag bäuchlings halbnackt auf einem Pick-up und schien bewusstlos und schwer verwundet. Die Mutter sprach in der deutschen Presse ihre Hoffnung aus, dass ihre Tochter unter den Geiseln und am Leben sei. Jetzt bestätigten aufgefundene Leichenteile mit der DNA von Shani, dass sie offenbar von den Hamas-Terroristen nach grausamen Misshandlungen durch einen Kopfschuss getötet wurde.

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Ich kann keine Kinder mehr ansehen, ohne an die von der Hamas in den Gazastreifen verschleppten Geiseln zu denken. Dreissig Kinder sind unter den 239 Geiseln. Einige von ihnen mussten sich ansehen, wie die Terroristen ihre Eltern ermordeten, dann wurden sie verschleppt. 
Ich betrachte meine Schwiegermutter beim Füttern ihrer neunmonatigen Urenkelin. Ella ist ein süsses Kind mit wachen, hellen Augen und rosigen Wangen, man möchte sie einfach nur knuddeln. 
Ich muss wegsehen. Die Gedanken an den etwas jüngeren Kfir – ein Baby, seit drei Wochen in Gefangenschaft der Hamas – schnüren mir die Luft ab. Füttert ihn auch jemand? Einer der Terroristen? Eine der anderen Geiseln? Und wer beruhigt ihn, wenn er weint? Lebt er überhaupt noch?

 
Kfir, eines von dreissig Kindern in Gefangenschaft der Hamas

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Aber eigentlich will ich heute über das Leben einer jungen Frau in Israel schreiben, die so alt ist wie die brutal ermordete Shani Louk. Sie ist kein Kind mehr, aber sie ist mein Kind. Mit zweiundzwanzig kann das Leben auch in friedlichen Zeiten recht verwirrend sein, so habe ich das jedenfalls von mir selbst in Erinnerung, auch wenn ich damals noch in der sicheren Schweiz lebte. In Israel hat man in diesem Alter meistens gerade den Militärdienst abgeschlossen und alle Türen in die Zukunft stehen offen. Das kann überwältigend sein. Lianne verbrachte den Sommer nach ihrem zweijährigen Militärdienst in Kanada, wo sie als Leiterin in einem Sommercamp für Jugendliche arbeitete. Auf ein Studium wollte sie sich nach ihrer Rückkehr noch nicht festlegen. Zur Überbrückung fand sie bald eine temporäre Arbeit. Die Eltern des kleinen Lev, einem Erstklässler, der als Neueinwanderer noch kein Hebräisch spricht und auch abgesehen von der Sprachbarriere eher unaufmerksam zu sein scheint, suchten für einige Wochen eine persönliche Begleitung für ihren Sohn während den Unterrichtsstunden. Lianne freute sich sehr auf die Arbeit, die am 8. Oktober hätte beginnen sollen...

Aber am 7. Oktober änderte sich unser Leben komplett. Ein Meteor namens Hamas schlug ein und warf die Erde in einem unsäglichen Zivilisationsbruch aus ihrer gewohnten Bahn. Lianne’s junges Leben entgleiste in jeder Hinsicht. Anstatt sich schrittweise eine vielversprechende Zukunft aufzubauen, besuchte sie Beerdigungen von ermordeten Gleichaltrigen, von Freunden und Freundinnen aus der Schule und dem Militär. Selbst noch bis vor kurzem in Uniform, war es für sie besonders schockierend, dass junge Soldatinnen zu Dutzenden brutalst abgeschlachtet wurden, während sie schlafend auf ihren Pritschen lagen oder ihre Kontrollfunktion vor den Bildschirmen ausführten. Noch vor wenigen Monaten hätte Lianne an ihrer Stelle sein können. Ihre Freundin Shir, mit der sie im Militär ein Zimmer geteilt hatte, wurde tagelang vermisst, bis die traurige Gewissheit eintraf, dass sie an dem Musikfestival in der Negev-Wüste von den islamistischen Hamas-Terroristen ermordet worden war. Lianne zeigt mir die Fotos und Videos auf ihrem Handy, auf denen Shir, ein strahlendes Mädchen mit langen Locken, mit ihrem fröhlichen Temperament immer im Mittelpunkt steht. Ein weiterer Freund aus dem gemeinsamen Militärdienst befindet sich offensichtlich unter den Geiseln.

Das sind nun die Rahmenbedingungen im Leben meiner Tochter. Wir verbringen viele traurige Momente miteinander. Oft setze ich mich zu ihr und wir schweigen gemeinsam, mit einem grossen Kloss im Hals und Tränen in den Augen. Ich weiss nicht, wie ich sie stärken oder trösten soll. Mir fehlen nicht nur die Worte, sondern auch die Hoffnung. Ohne Arbeit, sich nutzlos fühlend, um ermordete Freunde trauernd, von Beerdigung zu Beerdigung eilend, im Wissen um eine Terrororganisation, die uns nach dem Leben trachtet und die kaum auszulöschen ist, im Wissen um erschreckend viele antisemitische Schreihälse weltweit, ohne Aussicht auf ein sicheres Leben, auf irgendeine absehbare Lösung in der Zukunft. So sieht ihr junges Leben seit dem 7. Oktober aus.

Drei Wochen nach dem Massaker nimmt die Schule ihres Erstklasse-Schützlings den Betrieb wieder auf – ein Hoffnungsschimmer! Das bedeutet endlich ein bisschen Normalität, auch wenn der Unterricht am frühen Morgen mit einer Raketenalarmübung beginnt. „Übung, Übung“, ertönt es aus dem Mikrofon, die Kinder und das Personal begeben sich in den Luftschutzraum. Erst danach fängt der reguläre Unterricht an. 

Kurz nach Mittag ertönen tatsächlich die Sirenen. Jetzt ist es ein Ernstfall! An Treibstoff für Raketen, die absichtlich auf israelische Zivilisten gerichtet werden, fehlt es anscheinend im Gazastreifen noch nicht. 
Die Kinder haben die morgendliche Übung schon längst vergessen und brechen ob dem markerschütternden Sirenengeheul in Panik aus. Aber das Lehrpersonal, darunter meine Lianne an ihrem ersten Arbeitstag, bleibt stark und besonnen. Sie nehmen die Kinder an den Händen und sprechen beruhigend auf sie ein, während sie sich in den Schutzraum drängen. Auch als sie nach Hause kommt, scheint Lianne völlig unaufgeregt. Aber ich weiss, dass sich das alles in ihr Bewusstsein brennt. Ich kann einfach nicht fassen, dass dies jetzt unser Alltag ist. Wie stark meine Kinder sind! Sie scheinen viel stärker zu sein, als ich selbst.

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Dieser Tag endet mit der Meldung, dass die Geisel Ori Megidish (19) von der IDF während der Bodenoffensive aus den Fängen der Hamas befreit werden konnte und sich in Sicherheit bei ihrer Familie befindet. Das ist für viele von uns die erste erfreuliche Nachricht seit dem 7. Oktober. 
Tut mir leid, Fatima, in deiner ausgebombten Wohnung im Gazastreifen – über die ich heute einen Artikel im Stern.de gelesen habe, während ich vergeblich einen Bericht über die von der Hamas abgeschlachteten Israelis oder die Geiseln suchte – aber das war es wert!




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