Dienstag, 28. November 2017

Taxi im Dorf

Wie eine neueste Zählung kürzlich ergeben hat, weist das Dorf, in dem ich lebe, etwa 5600 Einwohner auf. Das ist eine gute Grösse, man kennt sich und alles fühlt sich sehr familiär an. Es gibt eine Grundschule, einen Supermarkt, zwei „Tante Emma“-Läden, ein öffentliches Schwimmbad, eine Bibliothek, alles gut zu Fuss erreichbar. Für ein Einkaufszentrum, ein Kino, oder auch ein Restaurant muss man aber ausser Ort fahren. Auch das Schulhaus der Mittel- und Oberstufe befindet sich in etwa sieben Kilometer Entfernung und die Schulkinder werden mit Schulbussen hin- und wieder zurücktransportiert. Nun wäre das alles schön und gut – gäbe es funktionierenden öffentlichen Verkehr. Leider sind aber Busverbindungen in die umliegenden Dörfer oder Städte spärlich, schlecht organisiert oder gar nicht vorhanden. Der nächste Bahnhof ist fast nur mit Privatwagen zu erreichen und die zehn Kilometer Entfernung dorthin bedeuten im Morgenverkehr oft mehr als eine ärgerliche halbe Stunde stockende Fahrt. Wenn die Schulkinder der Oberstufe am Morgen den Schulbus verpassen (was bei Jugendlichen ja gerne vorkommt), wäre der Schultag vorbei, wenn sie sich auf den öffentlichen Verkehr verlassen würden um zur Schule zu fahren. Zum Glück dreht der alte pensionierte Gemeindepräsident immer noch allmorgendlich seine Runden und sammelt die Jugendlichen ein, die verschlafen zu spät an den Bussammelstellen eintrudeln, und fährt sie zur Schule. Er hat aber nur Platz für vier Personen und die Nachfrage übersteigt fast immer das Angebot. Leider bedeuten die fehlenden Busverbindungen auch, dass Eltern viel zu oft als Taxidienst hinhalten müssen, wenn die Kinder ins Kino, zu Freunden oder irgendwelchen Besorgungen ausserhalb des Dorfes gelangen möchten. Viele Familien mit schon älteren Kindern sind im Besitz mehrerer Privatwagen, so auch wir. Das wiederum hat hohe Kosten und Umweltverschmutzung zur Folge und auch Streit mit den Nachbarn um die heissbegehrten Parkplätze in der Strasse ist an der Tagesordnung.

Nun soll eine neue WhatsApp-Gruppe das Verkehrsproblem mindern. Hunderte Einwohner sind schon Mitglieder und die Gruppe verbreitet sich wie ein Lauffeuer im Dorf. Die einzige Aufnahmebedingung ist, im Dorf zu wohnen. Jeder der irgendwohin muss und kein Auto hat, kann sich melden. Müssen sie zu einer bestimmten Zeit am Flughafen sein? Am Bahnhof? Möchten sie ins nächste Einkaufzentrum? Dann können sie einfach Ziel und Uhrzeit angeben und abwarten. Die Chancen sind gross, dass sich eine Mitfahrgelegenheit findet.

Ich finde diese Gruppe eine geniale gemeinnützige Einrichtung, in welcher ich auf jeden Fall aktiv tätig sein werde. Für das vermehrte WhatsApp-Gepiepse morgens kurz nach acht (habe mich verschlafen, fährt jemand zufällig in Richtung Schule) oder Meldungen in den frühen Morgenstunden (bin im Ausgang versumpft, fährt jemand gerade nach Hause?) gibt es zum Glück die Möglichkeit, die Gruppe stumm zu schalten.

Samstag, 11. November 2017

Zwillinge


In unserer Familie gibt es Nachwuchs. In der erweiterten Familie, wohlvermerkt, bei uns selbst ist dieses Kapitel ja abgeschlossen (die Älteren) oder noch nicht aktuell (die Jüngeren). Mein Schwager aber ist zum ersten Mal Grossvater geworden. Die Freude ist gross und da es sich um Zwillinge handelt, sogar doppelt. Vor einigen Tagen stattete ich den beiden Würmchen, die nach 40 Tagen in der Frühchenstation endlich nach Hause durften, einen ersten Besuch ab. Die Beiden sind zehn Wochen zu früh geboren, aber ich bin trotzdem erstaunt, wie klitzeklein und unfertig sie auch jetzt noch sind. 
An die ersten Wochen nach meinen eigenen Geburten kann ich mich nur noch diffus erinnern, ich war wohl jeweils reichlich verwirrt. Bis ich mich einigermassen von den Strapazen der Geburt, der hormonellen Umstellung und dem Durcheinander mit der neuen Familienkonstellation erholt hatte, kraxelten mir schon drei ausgewachsene Kleinkinder um die Beine. Vielleicht versetzt mich nun deshalb die Winzigkeit und Unfertigkeit der kleinen neugeborenen Menschlein ins Staunen. Aber wenn ich mich auch nicht mehr genau erinnere, weiss ich doch, dass jedes einzelne meiner Kinder bei der Geburt fast ein Kilogramm mehr auf die Waage brachte als die Zwillinge zusammen!
Ich darf beim Stillen zusehen. Als die zwei Winzlinge – stereofon! – an den prallen Brüsten hängen, drängt sich mir unweigerlich der Vergleich mit einem Wurf Kätzchen auf. Mit blinden Augen suchen sie die Warze und saugen sich voll. Dabei verschlucken sie sich ab und zu und müssen ein wenig geschüttelt und dann wieder angesetzt werden. Dann, kurz bevor sie wie betrunken in den Schlaf fallen, bekommen sie je eine frische Windel in Puppengrösse verpasst.
Das Leben der Beiden lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen: Vor dem Essen quengeln sie, weil sie ein Hüngerchen verspüren, nach dem Essen jammern sie, weil ein Gäschen in ihren zarten Gedärmen rumort. Dazwischen schlummern sie ein wenig, weil das Nuckeln, Verdauen und das Zellteilen im Turboverfahren sie erschöpft.
Zwei wehrlose Bündelchen Mensch, denen das Leben zugeworfen wurde. Die Winzigkeit und das totale Ausgeliefertsein dieser Geschöpfe führt mir vor Augen: Wir kommen aus dem Nichts. Wir sind nichts und am Schluss kehren wir ins Nichts zurück. Noch erstaunlicher finde ich: Eben noch ein Nichts, werden wir aus wehrlosen Würmchen – ein bisschen Muttermilch trinkend, ein paar Müskelchen dehnend, ein paar Schläfchen haltend – flugs zu strammen jungen Menschen, die glauben, das Zentrum des Universums zu sein und die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben.
Ich verlasse die junge Familie mit guten Wünschen, aber auch staunend und nachdenklich. Was für eine eindrückliche Begegnung. Das Bild der zwei nuckelnden Menschenbabies wird mir noch lange im Gedächtnis haften bleiben!

Sonntag, 5. November 2017

Gefährliche Begegnung



Nächsten Monat werden es schon sechs Jahre sein, seit ich meinem Laufhobby fröne. Dabei ist eine der Herausforderungen beim Laufen das Erkunden von immer neuen Routen, denn jahrelang dieselbe Runde zu drehen wäre todlangweilig. Nun bin ich leider nicht mit einem sehr ausgeprägten Orientierungssinn gesegnet und muss deshalb die Strecken jeweils gut voraus planen, damit sie meinen Anforderungen entsprechen. Das ist gar nicht so einfach, denn es sollte möglichst eine Rundstrecke sein, sie muss von der geplanten Entfernung her ungefähr passen und ausserdem laufe ich nicht gerne in bewohnten Gebieten und auf asphaltierten Strassen. Querfeldein finden sich aber auch so einige Hindernisse: Viele Feldwege werden im israelischen Sommer zu Sanddünen, während ich im Winter manchmal plötzlich vor einem undurchquerbaren Tümpel stehe, der am Vortag noch gar nicht da war. Für weitere Gefahren habe ich jeweils einen Pfefferspray dabei, den ich hoffentlich nie werde gebrauchen müssen, denn die Chancen sind gross, dass ich ihn im Eifer des Gefechts mir selbst in die Augen sprayen würde.

Diese Woche hatte ich beim Erkunden einer neue Route eine sehr unangenehme Begegnung mit einem Rudel streunender Hunde. Leider sind Begegnungen dieser Art für Jogger in Israel keine Seltenheit, aber bisher waren die Hunde noch immer mit einem autoritären „Nach Hause!“-Ruf zu beeindrucken und die Kombination mit einem strengen Blick liess sie jeweils das Weite suchen.

Leider nicht so an diesem Morgen: ich nahm die drei Hunde auf dem Feld aus einigen hundert Metern Entfernung wahr. Zum Glück kam mir auch noch ein landwirtschaftlicher Traktor entgegen, so entschied ich mich mutig, nicht umzukehren sondern weiter zu laufen. Bald sprangen die Hunde auf mich zu und während zwei sich tatsächlich aus dem Staub machten, als ich ihnen energisch einen Befehl zurief, kam der dritte - ein deutscher Schäferhund! - zähnefletschend auf mich zu! Er schien mit seinem Hundespürsinn sofort gewittert zu haben, dass es mit meinem autoritären Durchsetzungsvermögen nicht allzu weit her ist und er knurrte mich an, zeigte mir die Zähne und wartete nur auf den richtigen Moment, mich anzuspringen und zu zerfleischen! Wie ich richtig berechnet hatte, kreuzte nun aber gerade der Traktor meinen Weg und während ich noch eine Zehntelsekunde überlegte, ob ich lieber von einem deutschen Schäferhund zerfleischt oder von einem unbekannten thailändischen Traktorfahrer vergewaltigt werden möchte (wer weiss: #metoo!), sprang ich dem Lebensretter aufs Trittbrett und schon fuhren wir dem Rudel mit dem Traktor davon. Etwa einen Kilometer weiter stieg ich unbehelligt wieder ab und lief dann mit klopfendem Herzen und etwas schneller als gewöhnlich meine Runde zu Ende.

Fazit: Lieber auf den gewohnten Strecken laufen! Zum Beispiel dem Alexanderfluss entlang, hier ist es ziemlich sicher, es gibt jederzeit viele Läufer und Radfahrer und wenn auch die Strecke immer dieselbe ist, sind doch die Sonnenaufgänge jeden Tag anders (siehe Foto)!