Sonntag, 22. Oktober 2023

Entkommen

Es ist vier Uhr morgens und ich schreibe, weil ich nicht schlafen kann. Mir geht es körperlich etwas besser, aber der Lärm von Kampfflugzeugen und Helikoptern bricht diese Nacht nicht ab und hält mich wach.

Meine anfängliche Schockstarre hat etwas nachgelassen. Die geringfügige Besserung meines Befindens steht aber in keinem Bezug zu der nach wie vor katastrophalen Situation im Land. Und weiterhin ist die Angst vor dem, was uns die nächsten Tage und Wochen bringen könnten, abgrundtief.

Die Identifizierung der Leichen ist noch immer im Gange. Das von den Hamas-Bestien angerichtete Gemetzel erschwert die Arbeit. Täglich treffen neue Namen ein, täglich werden Hoffnungen, Familien zerstört. Man sagt, dass es von etwa zwei Dutzend Toten keine identifizierbaren Überreste gibt. Nicht einmal eine Fingerkuppe, kein Restchen DNA.

 

Ich hoffe, dass die Welt da draussen von diesen Greueltaten weiss. Und dann wieder  –  was nützt es? Ich weiss nicht, was schlimmer ist, 1400 abgeschlachtete Menschen oder die Tatsache, dass die Hälfte der Menschheit die Täter unterstützt.


Am Freitagabend treffen wir uns mit unseren Freunden A und S und ihrem Sohn Yotam. Yotam war mit Freunden am Musikfestival in der Nähe des Gazastreifens. Er hat das Massaker durch ein grosses Wunder überlebt.

Als in den frühen Morgenstunden nach dem Festival die ersten Schüsse fielen, rannten Yotam, Tomer und Yoav sofort zu ihrem Auto. Viele der Festivalbesucher schafften es nicht zu den Autos und sie versuchten, zu Fuss die Flucht zu ergreifen. Andere wurden von den Sicherheitsleuten aufgefordert, sich in den „miguniot“ (kleine Betonschutzräume) zu verstecken. Das wurde ihnen zum Verhängnis. Aber Yotam, Tomer und Yoav rasten im Kugelhagel davon. Den drei jungen Männern gelang es, im durchlöcherten Auto mit zerbrochenen Scheiben aus dem Gebiet des Massakers zu entkommen. Die drei konnten den erbarmungslos um sich schiessenden Terroristen in einer wilden Zickzackfahrt entfliehen. Im Versuch, den Bestien auszuweichen musste Yoav zweimal wenden. Dann wurde ihm klar, dass sie keine andere Wahl hatten und er steuerte kurzentschlossen auf das Inferno zu. Mit eingezogenen Köpfen und dem Tod vor Augen rasten sie in kühner Fahrt durch den Kugelhagel. Eine Kugel traf Yotam während der Amokfahrt an der linken Brust, sie drang knapp einen Zentimeter über dem Herzen ein und unter der Achsel hinaus. Yotam’s Freunde, Yoav, mit Fahrkünsten, die man sonst nur in Actionfilmen sieht, und Tomer, Sanitäter der Armee, retteten ihm das Leben. Als ein auf dem Rücksitz liegender grosser Sitzsack von Schüssen zerfetzt wurde, füllte sich das Auto mit Styroporkügelchen. Tomer, der Sanitäter, konnte während der verrückten Fahrt Yotam’s Blutung unter Kontrolle halten. (Hier möchte ich mit etwas Stolz noch anmerken, dass Yoav im Militär ein Schüler unserer Tochter Sivan war, die ihren Dienst als Ausbilderin von Sanitätern geleistet hatte.)

Etwas weiter nördlich trafen die drei auf eine südwärts fahrende Ambulanz, die sie nach Beersheva ins Spital brachte. Yotam war unter den ersten zehn Verletzten, die dort eintraffen. Tomer und Yoav erzählen, dass kurz darauf in der Notaufnahme das totale Chaos ausbrach. Jetzt lachen sie darüber, dass sie beide nicht einmal untersucht worden sind, obwohl sie durch die Scheibensplitter auch verletzt worden waren.

Yotam sah viele Minuten lang dem Tod in die Augen. Die Schusswunde ist gross und hässlich, zu allem Unglück hatten sich die Styroporkügelchen grossflächig mit dem zerfetzten Gewebe vermischt. Aber sie wird heilen. Man sieht Yotam an, dass er noch nicht einmal angefangen hat, das Geschehene zu verdauen. Vor allem die Tatsache, dass sich die Clique seiner Freunde im Chaos aus den Augen verloren hat, belastet ihn besonders. Mit Nitzan und Lidor, die nicht überlebt haben, war er kurz vor dem Überfall noch zusammen.

Auch das Schicksal von Yotam ist nur eines von Tausenden, aber ihm gegenüber zu sitzen und die Geschichte aus seinem Mund zu vernehmen, ist haarsträubend.




Nach dem Gespräch mit Yotam suche ich das Foto hervor, auf welchem er (rechts) und unsere Tochter Sivan im Schoss der stolzen Väter liegen. Ich schaue sie an und kann einfach nicht begreifen, dass diese unfassbaren Horrorgeschichten tatsächlich mit uns, mit unseren Babies auf diesem Bild, zu tun haben sollen. Seit der Aufnahme sind 28 Jahre vergangen, aber das macht keinen Unterschied. Für mich sind sie immer noch meine Kinder.


Wer jetzt etwas zu den Kindern in Gaza sagen möchte, soll bitte zuerst hier nachlesen.


In diesem Video spielen Soldaten der IDF in den Überresten eines Hauses im zerstörten Kibbutz Be'eri die Ha'tikva (die Hoffnung), die Nationalhymne Israels. Im Kibbutz Be'eri wurden 130 Menschen massakriert. Viele andere wurden als Geiseln genommen, darunter die 85-jährige Yaffa Adar, die zuletzt in einem Golfwagen wegfahrend, umgeben von bewaffneten Terroristen, gesehen wurde.







4 Kommentare:

Schreibschaukel hat gesagt…

Unfassbar.
So schrecklich diese Berichte zu lesen sind, so schwer es für dich sein muss, darüber zu schreiben - hör nicht auf.
Die Menschen müssen es wissen und wir dürfen es nicht vergessen, was passiert ist.

faehrtensuche hat gesagt…

Ich kann mich der Bitte von Schreibschaukel nur anschließen und habe die Hoffnung, dass sich viele auf dieser sehr persönlichen Ebene anrühren lassen.

Mir ist eindrücklich die Begegnung mit jemandem in Erinnerung, der aktiv am Yom-Kippur-Krieg teilgenommen hat. Sein Berichten hat nochmal eine ganz andere Perspektive ermöglicht und mich quasi direkt mit in das Geschehen hineingenommen.
Das bleibt haften!

Yael Levy hat gesagt…

Liebe Schreibschaukel und Fährtensuche, danke für eure aufmunternden Worte. Ich werde hoffentlich weiter schreiben. Dabei geht es mir mehr darum, meine Gedanken loszuwerden als um den Versuch, Aufklärungsarbeit zu betreiben. In dieser Hinsicht bin ich leider ziemlich pessimistisch.

Inch hat gesagt…

Durch andere Bloggerinnen bin ich auf Deine Seite gelangt. Diesen Bericht zu lesen, ist so furchtbar. Und furchtbar ist, wie angesichts dessen hier in Deutschland schon wieder relativiert wird. Es macht mich wütend zu sehen, wie Syrer, die einst vor dem IS flohen und denen ich Deutsch beibrachte und bei den Behörden half, jetzt Freiheit für Gaza fordern. Und sie meinen nicht die Freiheit von der HAMAS.
Ich wünsche Euch viel Kraft. Ich wünsche Euch, dass Eure Töchter und Söhne gesund aus Gaza heimkehren.
Ich wünsche, dass in Deutschland Synagogen, jüdische Schulen und jüdische Begegnungsstätten ohne Polizeischutz sein dürfen.