Freitag, 30. September 2016

Guaranteed

Heute wird beim Autofahren im Radio das Lied Guaranteed von Eddie Vedder gespielt. Ein faszinierender Song aus dem Soundtrack des Films “Into the Wild” von Sean Penn. Der Film erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der nach dem Studium nicht den für ihn von Gesellschaft und Familie vorbestimmten Weg gehen will, sondern eine lange Reise unternimmt. Er sagt sich von materiellem Besitz los, reist und jobbt durch die USA und lebt zum Schluss alleine in der Wildnis Alaskas. Ja, zum Schluss, denn der Film endet nicht mit einem Happyend. Der junge Mann stirbt, ganz unspektakulär erliegt er aber nicht einem wilden Bären im Kampf und fällt auch nicht beim Fischen von einem hohen Wasserfall, sondern geht kümmerlich zu Grunde, weil er unwissend eine giftige Pflanze isst.
Ich habe den Film vor zwei, drei Jahren zusammen mit meinem Sohn gesehen und Itay identifizierte sich so sehr mit dem Helden, dass er ob dem erschütternden Ende in bittere Tränen ausbrach.

Natürlich denke ich, als ich das Lied heute im Radio höre, sofort an Itay. Er durchlebt in diesen Tagen sein eigenes kleines “Into the Wild”-Abenteuer. Er wandert alleine und mit Rucksack von Interlaken nach Worb. Nun kann man den Thunersee wirklich nicht mit der Wildnis Alaskas vergleichen, aber die Idee von Freiheit und Selbsterfahrung ist dieselbe, nur mit dem Vorteil, dass man sich anstelle von wilden Pflanzen mit knusprigen Gipfeli und Schweizer Käse aus der Migros verpflegen kann.

Übrigens habe ich mich heute schon mindestens zwei oder dreimal bei Google maps an den Uferweg des Thunersees gezoomt und bin per Mauszeiger dem ganzen See entlang gestiefelt. Nein, ich werde Itay auf Google maps nicht finden, aber in Gedanken erwandere ich mit ihm dort am See meine und auch ein wenig seine Schweizer Wurzeln.

Mittwoch, 28. September 2016

Flügge

Mein neunzehnjähriger Sohn macht sich selbständig. Nach mehr als einem Jahr im Kibbutz, der ja eigentlich noch ganz in der Nähe lag, fliegt er heute für sechs Wochen in die Schweiz. Dort hat er aber nicht etwa vor, bei seinen Verwandten an den bekannten Orten auf der faulen Haut zu liegen, sondern er will die Welt entdecken. Ein Monat Landdienst bei unbekannten Bauern ist schon gebucht und um das Abenteuer perfekt zu machen, hat er vor, in einer mehrtägigen Wanderung zu Fuss dorthin zu gelangen.

Dabei hat er von der Schweizer Geographie ungefähr soviel Ahnung wie ich von der Quantenphysik und unseren Vorschlag, uns im Internet etwas schlau zu machen, schlägt er in den Wind. Ich habe keine Ahnung, wie er vorhat, von A nach B zu gelangen und die Tatsache, dass er heute morgen fast den Flug verpasst, weil er in Tel-Aviv in einen falschen Zug gestiegen ist, lässt mich nicht gerade beruhigt zurück.

Beim Packen wird mir auch richtig bewusst, wie unterschiedlich wir beide ticken. Er nimmt nur das absolut Notwendigste mit und auch davon vergisst er am Morgen vor dem Flug noch die Hälfte. Das eingepackte Duschgel ist ein Miniature-Gratismuster und würde mir höchstens zwei Tage reichen und ein zweites Paar Schuhe findet er überflüssig. Wenn er also abends in einer Bar ein Bier trinken möchte, wird er dazu dieselben Schuhe tragen müssen, die er beim Stall-Ausmisten an hat.

Ach, was mache ich mir Sorgen! Es wird schon gut gehen. War ich eigentlich auch mal so unbesorgt? Wahrscheinlich schon, sonst wäre ich wohl kaum mit 24 Jahren wegen einer verheissungsvollen Romanze nach Israel gereist, ohne auch nur den geringsten Plan für die Zukunft zu haben.

Zugegeben, der Gedanke, dass nun eine Person weniger abgegessene Pfirsichkerne auf dem Sofa liegen lässt und schmutzige Kleider, nasse Frottiertücher und Schuhe in Grösse 46 im ganzen Haus verstreut, ist ganz verlockend, aber als Itay tatsächlich seine Siebensachen zusammen packt, ist mir doch reichlich schwer ums Herz.

"Bring mir nur ja keine Schweizer Freundin nach Hause", warne ich ihn noch, "die taugen nämlich nichts!"

Nun, die Chancen, dass überhaupt ein weibliches Wesen in seine Richtung schaut, sind wohl eher gering, wenn er mit Mistschuhen in den Ausgang geht und nach zwei Tagen kein Duschgel mehr hat.

Sonntag, 25. September 2016

Gedanken beim Badezimmer-Putzen

In einer idealen Welt, so stelle ich mir vor, gibt es keinen Krieg, keinen Hunger, keinen sinnlosen Hass, und alle, aber wirklich ausnahmslos alle Familienmitglieder helfen beim Putzen mit!

Samstag, 24. September 2016

Max Mannheimer

Gestern ist Max Mannheimer, einer der prominentesten Holocaust-Überlebenden und Repräsentant der Juden in Deutschland, im Alter von 96 Jahren verstorben. (Artikel in der "Zeit")

Sein Buch “drei Leben” hat mich vor einiger Zeit sehr beeindruckt. Nun lese ich es zum Gedenken gleich zum zweiten Mal.

Freitag, 23. September 2016

Solidarität mit den Drusen

Die drusische Stadt Daliat al-Carmel im Norden Israels organisiert einmal im Jahr einen sportlichen Anlass zur Erinnerung an die in den Kriegen gefallenen Söhne. Scharen von Teilnehmern (etwa 12’000) machen sich an einem Tag im September auf nach Daliat al-Carmel. Ein Grund dafür mögen die vielfältigen Lauf- und Rad-Wettbewerbskategorien sein, aber sicherlich noch viel mehr die Tatsache, dass die Israelis ihrer Dankbarkeit und der Solidarität mit den Drusen Ausdruck geben wollen.

Die drusische Religionsgemeinschaft umfasst etwas mehr als eine Million Mitglieder, welche grösstenteils in Syrien, teilweise im Libanon und mit etwas mehr als 100,000 Personen in Israel leben. Sie sehen sich als Araber, jedoch nicht als Muslime. Ihre Religion ist aus dem schiitischen Islam entstanden und da Praktiken und Einzelheiten der Religion der Drusen nicht außerhalb der Gemeinschaft bekannt sind, wird das Drusentum als Geheimreligion betrachtet. Kein Andersgläubiger kann sich der drusischen Religion anschliessen und nur wer von drusischen Eltern geboren wird, ist Druse. Die größte drusische Ansiedlung in Israel ist Daliat al-Carmel mit über 10.000 Einwohnern. Auf den Golanhöhen leben weitere rund 20’000 Drusen. Dieses ehemals syrische Gebiet wurde 1967 von der israelischen Armee erobert, die dort lebenden Drusen gehören somit nun zu Israel und wäre dem nicht so, wären sie vielleicht heute als Flüchtlinge unterwegs nach Europa.

Weiterhin sind die Drusen in Israel auf rund 20 drusische Dörfer verstreut. Ganz im Gegensatz zu der in Europa weitverbreiteten Meinung, dass jeder Fremde schnellstmöglich integriert und innert einer oder höchstens zwei Generationen zu einem liberalen, aufgeklärten und demokratischen Europäer metamorphieren muss, leben in Israel die verschiedenen Religionsgemeinschaften - mit einigen Ausnahmen - in ihren eigenen Orten und treffen sich nur in öffentlichen Institutionen, wie Universitäten, im Militär und an den gemeinsamen Arbeitsplätzen. Abends jedoch kehrt jeder wieder in sein Dorf zurück, wo er mit seinesgleichen leben und seine eigenen Traditionen bewahren kann.

Die traditionelle Kleidung der Drusen ist schwarz, die Männer tragen dazu ein weisses Käppi, die Frauen meist einen weissen, durchsichtigen Voile-Schleier, den sie luftig-locker um den Kopf legen.

Die Drusen und die Israelis verbindet eine tiefe Freundschaft und als loyale Bürger leisten die meisten drusischen Männer Wehrdienst in der israelischen Armee. Da die drusische Gemeinschaft traditionell konservativ ist, ist es für die drusischen Frauen nicht angebracht, Wehrdienst zu leisten.

Eine Polizistin passt auf uns auf
Eyal und ich begnügen uns mit dem 5km-Lauf zur “Erinnerung an die drusischen Söhne” (es gäbe auch 10 und 15 km Strecken). Die anspruchsvolle Laufstrecke in der hügeligen Gegend um Daliat al-Carmel führt uns abwechslungsweise bergab und dann wieder bergauf. Einige junge Drusen laufen in ihrer traditionellen Kleidung, einer schwarzen, sehr eigenartigen Pumphose. Die zahlreichen Mitläufer, hauptsächlich junge Soldaten, sorgen für gute Stimmung. Sie lärmen, singen, unterstützen sich und feuern sich gegenseitig an. Ich sehe aber auch viele Privatpersonen mit bedruckten T-Shirts “Zur Einnerung an …., gefallen am ….”, oder “…., wir werden dich nie vergessen”, “ich laufe in Erinnerung an meinen Bruder, …., gefallen am …”.
Viele von ihnen können keine 5 Kilometer am Stück laufen, aber sie bestreiten diese Herausforderung, zur Erinnerung an ein gefallenes Familienmitglied und aus Solidarität mit anderen leidtragenden Familien, welcher Religion auch immer.

Nach dem Lauf findet ein grosses Happening statt und die Läufer und Radfahrer werden mit Datteln, Bananen, Jogurts, frisch gebrautem Kaffee und traditionellem Gebäck versorgt.

Die Beziehung zwischen den Drusen und den Israelis ist von Respekt und meist harmonischem Zusammenleben, aber ab und zu auch von Problemen geprägt. Wie Geschwister streitet man sich und rauft sich wieder zusammen, denn eine andere Möglichkeit gibt es nicht.

Es tut mir sehr leid, dass in Europa so viel Schlechtes über Israel geschrieben und verbreitet wird. Hier ist ein Beispiel von einer loyalen und respektvollen Partnerschaft zwischen Religionsgemeinschaften, von welcher in Europa kaum jemand etwas weiss, obwohl es in Israel einige davon gibt.

Mittwoch, 21. September 2016

Volles Haus

Im Anschluss an meinen letzten Beitrag muss ich sagen, dass ich zum Glück nicht allzu viel Zeit habe, an existenziellen Fragen über mein Leben herumzugrüblen. Im Moment wohnen bei mir zuhause nämlich wieder fünf erwachsene Personen, die allesamt sehr viel Arbeit ergeben.

Im letzten Winter ging es bei uns schon ganz gemächlich zu, nur noch Eyal und ich und unsere jüngste Tochter, die kaum ab und zu die Nase aus ihrem Zimmer streckte, teilten uns unser ruhig gewordenes Haus. Ich hatte so viel Zeit zur Verfügung, dass ich sogar beschloss, eine einsame Grossmutter zu “adoptieren”.

Nach abgeschlossenem Militärdienst  wohnt aber Sivan wieder zuhause und seit einigen Tagen ist sogar unser Sohn wieder da. Sein Freiwilligenjahr im Kibbuz ist zu Ende und ich habe das Gefühl, ich hätte eine Herde Soldaten im Haus: Gummistiefel, Wanderschuhe, Berge von schmutziger Wäsche, Rucksäcke und Werkzeug liegen im ganzen Haus verstreut und warten darauf, verräumt zu werden. Und wem zum Teufel gehören nur all diese Zahnbürsten?

Nun muss ich wieder für fünf Personen waschen, einkaufen, aufräumen und vor allem kochen. Vier erwachsene Personen (ich verpflege mich in der Firmenkantine) essen in diesem Haushalt zwei bis drei Mahlzeiten täglich, wobei ein muskulöser, grossgewachsener Neunzehnjähriger gut und gerne für zwei bis drei Personen isst. Nur ich koche. Bestimmt gibt es Eltern von Grossfamilien, für welche das alles ein Pappenstiel ist, aber nachdem ich mich vor wenigen Monaten schon fast an ein Leben im Altenheim gewöhnt habe, fühle ich mich nun wie ein Artist, der einmal ganz gut im Handstand auf einem Seil fünf Bälle gleichzeitig jonglieren konnte, mit den Jahren aber ziemlich aus der Übung gekommen ist.

Heute sieht mein Tag so aus:
Wie immer am Mittwochmorgen, Laufgruppentreff um 5:30. Wir laufen eine Stunde dem Strand entlang und ich schöpfe Kraft für diesen Tag. Danach Dusche und Frühstück in der Firma. An der Arbeit geht es heute ganz geruhsam zu und ich habe Zeit, endlich etwas aufzuarbeiten, das schon lange ansteht. Dann verschiebe ich noch kurzentschlossen ein für den späteren Nachmittag geplantes Telefongespräch (Mitarbeiterin aus den USA). Nun ist mein Arbeitstag frei von Sitzungen und da ich unbedingt einen Grosseinkauf tätigen muss, mache ich mich schon um 14:30 aus dem Staub. Trotzdem wird es fast 17:00 Uhr bis ich zuhause bin (Warterei an der Kasse und Feierabendverkehr). Mein Sohn schleppt die Einkäufe ins Haus und verräumt auch gleich das Meiste, während ich mich umziehe (Dresscode Küchenarbeit). Ich habe gestern schon Einiges auf Vorrat gekocht und ein Teil des Essens ist immer noch im Kühlschrank. Ich hoffe, dass die Resten auch noch für morgen reichen (absolute Fehleinschätzung, wie sich bald herausstellen wird) und beschliesse, heute nur Erdnussbutter-Cookies zu backen. Um 18:30 ziehe ich das letzte Blech Cookies aus dem Ofen und unterdessen haben meine Töchter das Essen aus dem Kühlschrank vertilgt. Spontan koche ich also noch einen asiatischen Nudeleintopf, damit die hungrigen Leute morgen wieder etwas im Kühlschrank haben und bereite noch einen Mozarella-Tomatensalat für das Abendessen vor. Zwischendurch helfe ich Lianne mit einem Englisch-Aufsatz zum Thema “Wie ich die Welt verändern würde". Die Arabisch-Hausaufgaben hat sie zum Glück an den Bruder delegiert…

Dann zaubere ich noch ein paar Pausenbrote für die Schule (mache ich immer am Vorabend, da ich am Morgen früh losziehe), spüle alle Töpfe und Pfannen und räume die Küche auf. Unterdessen ist es 20:30 Uhr. Ich gehe nach oben und räume die saubere Wäsche weg, die noch draussen hängt und hänge eine neue Ladung zum Trocknen auf. Im Badezimmer wische ich mit einigen Feuchttüchern die Dusche ab, die meine Töchter verdreckt zurückgelassen haben. Um 21:00 bereite ich mir einen starken Espresso zu und setze mich endlich mit einem Buch aufs Sofa. Nun rufe ich noch schnell meine Freundin I. an, mit welcher ich heute abend verabredet bin und sage so energetisch wie möglich “nun, gehen wir jetzt?”, denn ich weiss genau, dass auch sie um diese Zeit am Ende ihrer Kräfte ist und sich den geplanten Ausgang schon lange abgeschminkt hat. Zwei Minuten später fallen mir die Augen zu…

Sonntag, 18. September 2016

Plauschtag

“Meine” Firma organisiert einen Plauschtag für die Angestellten unserer Geschäftseinheit. Etwa 350 Personen werden ins nationale Sportinstitut 'Wingate' eingeladen, um sich bei gemeinsamen Aktivitäten besser kennenzulernen und ausserhalb des gewohnten Rahmens etwas Spass zu haben. Ich mag solche Grossanlässe nicht, kann mich aber leider nicht davor drücken, denn als einziger Streber im Büro zu sitzen, würde einen denkbar schlechten Eindruck machen.

Mein sonntägliches Laufgruppentreff lasse ich mir aber nicht nehmen und so laufen heute meine Kolleginnen und ich gleich im Sportinstitut. Nachdem ich schon einen belebenden Morgenlauf und ebenso erfrischende Dusche hinter mir habe, kommen gegen acht Uhr alle Mitarbeiter an, die gerne etwas länger schlafen. Nun wird auf grossen Buffets ein reichhaltiges Frühstück serviert und mittels Hochglanz-Broschüren verrät man uns, was heute genau auf dem Programm steht. Die Aktivitäten werden in fünf Stationen eingeteilt (Jesus durchlitt in der Via Dolorosa zehn, bevor er in der elften gekreuzigt wurde…) zwischen welchen wir uns in zufällig aufgeteilten Gruppen turnusartig abwechseln sollen. Dabei geht es um Sport, Spass, Bewegung und gesunde Ernährung. Damit wir auch eine moralische Lektion mit nach Hause nehmen können, ist das Leitthema dieses Tages Gesundheit, Wohlbefinden, Glücklichsein, und alles, was dazwischen liegt. Hach! Mein Lieblingsthema! Ich liebe es, mir den Kopf über diese Werte zu zerbrechen!

Ironie beiseite - seit ich vor einigen Monaten an Brustkrebs erkrankt bin, ist dieses Thema für mich mit so vielen existenziellen und belastenden Fragen verbunden (siehe auch Warum Krebs?) dass ich es am liebsten in grossem Bogen umgehe. Es führt mich an den Rand des Wahnsinns, die Beziehung zwischen Krankheit/Gesundheit und meinem seelischen Zustand ergründen zu wollen. Ich habe Angst, dass mein ganzes Leben wie ein fragiles Kartengebilde über mir zusammenbrechen könnte, wenn ich nur allzu viele Fragen stelle oder leicht daran zu rütteln beginne. Wann immer also in letzter Zeit Fragen aus dieser Richtung auftauchen, wische ich sie höchst geflissentlich unter den Teppich. Genau dort gehören sie meines Erachtens hin.

Zurück zum Plauschtag: für die erste Aktivität erklärt uns eine Coacherin, wie wichtig es für unser Wohlbefinden ist, sich genussvolle Momente zu gönnen. Das sollen wir auch gleich am eigenen Leib erfahren und um auf Befehl glücklich zu sein, wird Musik aufgelegt und wir dürfen tanzen. Ich tanze aber nicht gerne, schon gar nicht um neun Uhr morgens und mit grösstenteils unbekannten Mitarbeitern. Die verbundenen Augen helfen ein wenig, aber so sehr ich mich auch anstrenge, glücklich und befreit zu sein, ich bleibe gehemmt und zähle die Sekunden.

Bei der nächsten Station geht es um Sport, der uns auch glücklich machen soll. Wir strecken und dehnen uns, spielen Ball, balancieren auf einer umgekehrten Bank. Hier leide ich zwar weniger als beim Tanzen, aber wenn ich daran denke, dass ich heute morgen schon einige Kilometer bei frischer Luft in der freien Natur gelaufen bin, finde ich diese Herumhüpferei in einer Turnhalle doch ziemlich albern.

Danach müssen wir in spontan koordinierter Teamarbeit spielerische Aufgaben lösen. Für die erste Aufgabe halten wir alle gemeinsam ein an Strängen befestigtes Brett in die Höhe. Nach einigen Minuten wird uns ein Ball zugeworfen und ich stelle plötzlich fest, dass ich wohl gedanklich abwesend war (Tagträume!) und die ganze Erklärung verpasst habe. Ich spiele trotzdem mit und versuche, nicht allzu viel Schaden anzurichten. Das gelingt mir aber nicht besonders und so schleiche ich mich davon. Nun sehe ich nur noch einen Ausweg: ich rufe meinen Zahnarzt an, um notfallmässig die gestern entdeckte, wackelnde Krone in meinen Mund behandeln zu lassen. Oh Wunder, mein Zahnarzt hat gerade eine freie Viertelstunde und so mache ich mich eiligst aus dem Staub.

Ich verpasse das Mittagessen und zwei weitere Stationen, liege anstelle dessen im Zahnarztstuhl und geniesse ausnahmsweise die Bohrerei. Lieber lasse ich mir sämtliche Zähne auf Vordermann bringen, als in einer Gruppe mit Unbekannten knifflige Aufgaben zu lösen und auf Befehl Spass zu haben.

Samstag, 17. September 2016

One More Cup Of Coffee

Ist es das Lied, das mich verhext und in mir eine unerklärliche Sehnsucht weckt oder ist es der Vollmond in dieser hellen Nacht?
Bob Dylan & Emmylou Harris / One More Cup Of Coffee


Laufen

Ich setze einen Fuss vor den andern, immer wieder. Die Arme schwingen mit, mein Körper arbeitet schwer, schwitzend, tief atmend. Augen, Nase, Ohren, alle meine Sinne damit beschäftigt, die Umgebung aufzunehmen. Ich bin alleine, mein Kopf ist leer. Kein Raum für Gedanken. Keine Ziele, Absichten und Aufgaben. Atemzüge, Herzschläge und das Knirschen des Kieses unter meinen Schritten ergeben einen gleichmässigen, rythmischen Kanon. Die Sonne ist eben erst aufgegangen, Nebel hängt noch auf den Feldern. Ich fühle mich lebendig und stark. Laufrunde am Samstagmorgen.
Strecke auf meiner "Heimrunde", keine zwei Kilometer von meinem Wohnort entfernt


Dienstag, 13. September 2016

Roter Flieder

Kürzlich habe ich entdeckt, dass meine Amazon-Bücher-Wunschliste 43 Artikel umfasst. Eine kurze Kopfrechnung ergibt, dass ich auch bei Lesen eines Buches per Monat fast vier Jahre zur Abarbeitung dieser Liste benötigen würde, wobei ich nicht sicher bin, ob die Rechnung realistisch ist, solange sie Projekte wie “Die Tora: Die fünf Bücher Mose nach der Übersetzung von Mendelssohn, Moses. Mit den Prophetenlesungen im Anhang” enthält. Ganz abgesehen davon, sooft ich auch meinen Bücherturm von oben um ein gelesenes Buch kürze, wächst er von unten auf unerklärliche Weise immer wieder nach.

Na ja, es wäre dumm, sich von so etwas aus der Ruhe bringen zu lassen, aber es gibt doch bestimmte Bücher, die ich unbedingt lesen möchte und ich wäre froh, hätte ich mehr Zeit dazu.

Nun überwinde ich mich endlich “Roter Flieder” des österreichischen Autors Reinhard Kaiser-Mühlecker fertig zu lesen. Trotz überschwänglicher Kritiken, begeisterten Kundenrezessionen und einer eindrücklichen Liste an Literatur-Preisen, die der junge Mann schon aufweisen kann, waren die 624 Seiten für mich eine ziemliche Qual.

In “Roter Flieder” wird die Geschichte und letztendlich auch der Niedergang der Familie Goldberger von der Zeit des Nationalsozialismus bis in die Gegenwart als alttestamentarisch aufgeladenes Epos von Schuld und Zerstörung nachgezeichnet.

Ja, die Geschichte ist originell und der junge Mann hat bestimmt Talent und schreibt in einem ruhigen, fliessenden und eindrücklichen Stil. Er wird in der aktuellen Presse in den höchsten Tönen gelobt: Virtuos, hypnotisierend, sprachlich atemberaubend, psychologisch höchst sensibel…
Ich aber schlafe beim Lesen ein. Denn wo bleiben Humor, Sinnlichkeit und Lebensfreude?

Ich quäle mich also endlich durch die letzten Seiten und kaum fünf Minuten später lade ich mir zum Abbau des Bücherturms schon das nächste Buch auf den Kindle.

Sonntag, 11. September 2016

Noch einmal “la pazza gioia”

Als ich heute E. im Heim für Holocaust-Überlebende besuche, ist sie besonders quirlig und verwirrt, aber guter Laune. Wenn ich manchmal den Verdacht hege, dass die Heiminsassen konsequent Valium zur Beruhigung erhalten, denke ich heute, ob ihr wohl jemand die falschen Tabletten verabreicht hat. Sie ist sonst meistens ziemlich ruhig, aber heute spricht sie ununterbrochen und übertrifft sich mit ihren witzigen Aussagen immer wieder selbst. Meinen Vorschlag, draussen spazieren zu gehen, schlägt sie ab mit der Begründung, sie sei schon den ganzen Tag draussen gewesen. Ich weiss genau, dass das nicht möglich ist. Eine neue Angestellte fragt mich wer ich bin und E. kommt mir zuvor und stellt mich als “Professorin des Instituts….” vor.

Auf meine Frage, ob sie sich erinnern kann, wo sie an 9/11, zur Zeit der Terroranschläge auf die Türme des WTC heute vor 15 Jahren war, behauptet sie, in Manhatten selbst gewesen zu sein und erzählt mir auch gleich von ihren aufregenden Erlebnissen am Ort des Geschehens.

E. erinnert mich heute an Beatrice, die Protagonistin aus dem Film vom letzten Donnerstag, die auch pausenlos redete, nur war dort, im Film, das Therapiezentrum eine bunte italienische Villa mit üppiger mediterraner Flora, während das Heim hier ziemlich trist in schwarz-weiss und Geruch nach Putzmitteln daherkommt. Und trotzdem will Beatrice im Film nur eines: ausbrechen, um ein wenig Glück zu suchen.

Später behauptet E. noch verschmitzt, in Budapest, wo sie aufgewachsen ist, gäbe es keine Irrenhäuser, die ganze Stadt sein nämlich ein Irrenhaus.

Als ich mich verabschiede und E. auf meinen Besuch in einer Woche vertröste, sagt sie “ dann bin ich dann aber nicht mehr da…”
“Wo gehst du denn hin?”
“Das weiss ich noch nicht… Hier ist es langweilig. Einöde”

Donatella und Beatrice aus "la pazza gioia" auf der Flucht 

Samstag, 10. September 2016

Wochenend-Bilanz

0 Kilometer gelaufen (für Freitagabend Freunde zum Nachtessen eingeladen und deshalb schon ab frühmorgens mit Einkaufen, Vorbereiten und Kochen beschäftigt. Am Samstagmorgen nicht früh genug aus den Federn gekommen)

1 kaputter Rasenmäher (nach 12 Jahren treuem Dienst hat unser Rasenmäher abgedankt. Anständigerweise hat er am Freitag vor Ankunft der Gäste noch den ganzen Rasen fertig gemäht – dann zerbrochen)

20 –mal gesagt “ich muss endlich diese Fenster putzen”

150 Seiten in Reinhard Kaiser-Mühlecker’s “Roter Flieder” gelesen (bald habe ich die 624 - wird noch ganz spannend zum Schluss)

3’987’234 Kalorien gegessen (Abendessen mit Freunden, Wein, Kuchen und am Samstag, weil ich schon nicht laufen gegangen bin, ungebremst weiter gefressen)

La pazza gioia

Wir sehen uns im Kino den italienischen Film “La pazza gioia” an. Ein intelligenter und nicht leichter Film, der nach lustigem Anfang an Tiefe gewinnt, wobei dem Zuschauer früher oder später das Lachen im Halse stecken bleibt. Über zwei unterschiedliche Frauen, die die Flucht aus einem Therapiezentrum ergreifen, auf der Suche nach dem Glück in dem Irrenhaus namens Realität. Über “Normale”, “Verrückte” und dem schmalen Grad dazwischen. Und mir persönlich teilt dieser Film vor allem mit: es ist nicht selbstverständlich, sich auf der Sonnenseite des Lebens zu befinden.

Donnerstag, 8. September 2016

Die Erde, das globale Dorf

Als ich zwanzig Jahre alt war - vor vielen, vielen Jahren also – gab es einen netten jungen Mann in meinem Leben, der mir sehr gefiel. Er war witzig, hatte ein ansteckendes Lachen, ausserdem war er intelligent, charmant und vieles mehr. Wir waren einige Zeit zusammen und ich zog ihn definitiv in die nähere Auswahl für etwas Ernsthafteres. Die Sache hatte nur einen Haken: der junge Mann war auf Reisen, eigentlich lebte er in Kanada und dorthin verschwand er auch eines Tages wieder. Wir schrieben uns noch einige verzweifelte Briefe und das war es dann.

Mehr als zwei Jahrzehnte später – nun gab es schon Internet – entdeckten wir uns auf facebook. Bilanz: beide “glücklich” verheiratet, je drei Kinder. Wir wechselten ein paar Zeilen, überlegten uns wohl beide “was wäre, wenn…?” und lebten unser Leben weiter.

Heute morgen lade ich nach dem morgendlichen Lauftreff am Meer ein Foto von mir auf facebook hoch: Ich sitze in Laufklamotten hoch oben einsam auf der Klippe und unten streckt sich der kilometerlange und menschenleere Strand ins Unendliche. Es vergehen nur ein paar Minuten, bis auf meinem Smartphone eine Mitteilung auftaucht:

“Tolles Foto!” schreibt mir jemand per Messenger. Ich schaue genauer hin, tatsächlich, das ist ER, aus Kanada!

“Danke. Wann kommst du mal mit mir laufen?” flirte ich zurück. Das erlaube ich mir, weil ich ihn in sicherer 11,000-km Entfernung weiss.

“Wow - Schwimme aber lieber” schreibt er.

In der Kürze liegt die Würze, denke ich und lasse es bei diesem kurzen Wortwechsel bleiben. Das war’s dann wohl wieder für ein paar Jahre.

Heute trage ich den ganzen Tag ein geheimnisvolles Lächeln zu Schau und die Schmetterlinge im Bauch erinnern sich an gute alte Tage. “Warum strahlst du so?” fragt mich meine Arbeitskollegin beim Mittagessen. Tja…

Mittwoch, 7. September 2016

Rohrbruch

Eigentlich hätte ich es mir ja denken müssen. Aus dem Duschkopf strömt schwach kaum die Hälfte des gewohnten Wasserstrahls und ich brauche eine Ewigkeit, um das Schampoo auszuspülen. Nichtsahnend verfluche ich die israelischen Wasserwerke. Danach fahre ich frisch geduscht und sauber zur Arbeit. Am späteren Nachmittag dann der Anruf: unser Nachbar, welcher zum Glück öfters rauchend im Garten sitzt, beklagt sich über Wasser, das von unserem höherliegenden Garten in den seinen strömt. Verflixt, das darf doch nicht wahr sein: schon der dritte Rohrbruch in den letzen zwei Jahren!
Wir sind gerade alle nicht zuhause und so wird der Nachbar gleich gebeten, bei uns den Hauptwasserschieber zu schliessen. Aber sobald ich eintreffe, sehe ich mir natürlich sofort die Bescherung an: unser Garten ist wieder einmal total verschlammt und an der Stelle, wo das Wasser mit grossem Druck aus dem Boden sprudelte, klafft ein grosses Loch. Wie erwartet, scheint das Rohr an der selben Stelle wie das letzte Mal leck zu sein.
Draussen ist es schon dunkel und so stellen wir uns erst mal auf einen Abend ohne Wasser ein: die Badezimmer stinken und in der Küche türmen sich die verkrusteten Töpfe, die gespült werden sollten. Meine Tochter muss ausgerechnet heute die Haare waschen und erledigt dies mit zwei Flaschen Mineralwasser. Dann putze ich mit einem Resten Wasser aus der Flasche die Zähne und gehe schlafen.
Am Morgen stehle ich mich früh im Pyjama aus dem Haus und fahre ins Büro. Zum Glück gibt es da eine Dusche. Während ich den starken Strahl des heissen Duschwassers geniesse, denke ich, dass ich eigentlich fast hier lebe: ich dusche hier, ich esse hier, ich verbringe den ganzen Tag hier… Wer braucht überhaupt ein Haus, wenn er in so einer Firma arbeitet? Es fehlt nur noch eine gemütliche Hängematte in einem der Sitzungszimmer.
Zum Glück kann Eyal heute zu Hause arbeiten. Er telefoniert mit der Versicherung und ist bereit, auf den Rettungstrupp zu warten, der den Schaden beheben soll. Ich hingegen kümmere mich erst mal um meine Mailbox und was der Arbeitstag so bringt.
Eyal hält mich per Whatsapp auf dem Laufenden: “komm ja nicht nach Hause!”, “Sie graben alles um!” und so weiter. Das tönt ja vielversprechend! Die telefonische Nachfrage ergibt, dass das Leck trotz Aufbrechen des Bodens an verschiedensten Stellen noch nicht geortet werden konnte. Da der einzige Zugang zum Garten durch unser Wohnzimmer führt, konzentriere ich micht heute ganz besonders intensiv auf meine Arbeit und versuche, an nichts anderes zu denken.
Am Nachmittag teilt mir Eyal mit, dass ein Fachmann mit Rohrkamera zum Aufspüren von Rohrbrüchen eingetroffen ist. Er ist der Mann der Stunde und die defekte Stelle ist nun schnell gefunden.
Etwas später bekomme ich Bescheid, dass der Schaden behoben ist und so fahre ich nach Hause, natürlich aber erst, nachdem ich noch einmal auf Kosten der Firma die Zähne putze, meine Hände gründlich wasche und einfach so das Wasser aus dem Hahnen fliessen lasse. Wer weiss, was mich zu Hause erwartet.
Nachdem ich einen Parkplatz gefunden habe (auf meinem steht ein grosser Lieferwagen) klettere ich über mehrere Erd- und Geröllhaufen in unser Haus. In meiner Küche sitzen zwei schwitzende Männer mit schmutzigen Händen und noch viel schmutzigeren Schuhen und trinken Kaffee. Unsere Stube sieht aus wie ein frisch gepflügter Acker. Zwei weitere schwitzende und schmutzige Männer sind damit beschäftigt, das Loch im Garten zuzuschaufeln und die Geräte wegzuräumen. Auch Eyal, mit nacktem Oberkörper, riecht und sieht aus wie ein Klempner.
Die fünf Rohrbruch-Profis bestätigen, dass sie gleich das ganze Rohr ausgewechselt haben und somit das Problem jetzt garantiert endgültig gelöst ist. Wir können also optimistisch in die trockene Zukunft blicken.
Der Garten ist verwüstet, das Haus verschlammt, aber das Rohr ist geflickt, halleluja! Jetzt geht es ans Putzen!