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Dienstag, 7. Februar 2017

Esther

Vor etwas weniger als einem Jahr wurde auf facebook für eine einsame Frau im Heim für Holocaust-Überlebende in Sha’ar Menashe eine Bezugsperson gesucht, für gelegentliche Besuche und wenn möglich deutsch sprechend. Der Aufruf erreichte mich zu einem Zeitpunkt, zu dem ich gerade gerne mein Leben etwas über den alltäglichen Tellerrand hinaus erweitern wollte. Immer nur Arbeiten, Geld verdienen, Haushalt, ein bisschen Vergnügen, einige Hobbies. Alles drehte sich nur um mich selbst und meine Nächsten. Da musste doch noch mehr sein - andere Dimensionen...

So lernte ich Esther kennen.

Esther war im Oktober des letzten Kriegsjahres in Budapest geboren und nach der Geburt vor den Nazis versteckt worden. Nach dem Krieg wuchs sie mit ihrer Mutter in Budapest auf und lebte abwechselnd in Österreich, Deutschland und Israel. Vieles im Leben kriegte sie wohl nicht so richtig auf die Reihe. Einmal war sie verheiratet und bald wieder geschieden und der einzige Sohn schien auch mehr Sorgen als Freude zu bereiten.

Esther sprach deutsch, ungarisch und ein wenig hebräisch, je nach Zustand manchmal mehr von diesem, mehr von jenem, oder alles durcheinander. Wie viele der Insassen im Heim hatte Esther niemanden, keine Familie und keine Bezugsperson, die vorbeikamen. Geschwister waren ihr keine vergönnt und der Sohn hatte vor einigen Jahren den Kontakt zu ihr abgebrochen. Esther freute sich sehr über meine Besuche, wir lösten Kreuzworträtsel zusammen, ich las ihr Geschichten ihres Landsmannes Ephraim Kishon vor, wir gingen in der Sonne spazieren (Esther im Rollstuhl), assen Schokolade und unterhielten uns über Verschiedenes. Erst nach einigen Besuchen wagte Esther mich zu fragen, ob ich sie nun regelmässig besuchen würde, was ich bejahte.

Esther hatte einen sehr besonderen Humor und war meistens guter Laune. Trotz des tristen Alltags im Heim sagte sie stets, es gehe ihr gut und sie war immer für einen Schalk zu haben.

Leider verschlechterte sich ihr gesundheitlicher Zustand sehr schnell. Nach einem Schlaganfall litt sie an epileptischen Anfällen und musste immer wieder hospitalisiert werden. Bei einem meiner letzten Besuche beklagte sie sich, dass es ihr „miserabel“ gehe. Als ich sie vor einer Woche besuchte, sagte sie gar nichts mehr, nur ihre Augen leuchteten auf, als ich ihr Schokolade anbot, die sie ass und dann vollständig wieder aushustete.

Am Montag, den 6. Februar ist Esther gestorben. Besonders traurig finde ich, dass sie ihre letzte Stunde einsam in einem anonymen Krankenhausbett verbringen musste.

Zehn Polizisten, drei religiöse Bestattungsleute und ich – so könnte ein schlechter Witz anfangen. Leider handelt es sich aber um eine besonders trostlose Beerdigung. Aus rechtlichen Gründen musste Esther in Tel-Aviv beerdigt werden, so dass die Heiminsassen und Angestellten, die sonst die alleinstehenden Patienten in Sha‘ar Menashe auf ihrem letzten Weg begleiteten, nicht an der Zeremonie teilnehmen konnten. Ich war die einzige Anwesende, die Esther gekannt hatte. Ausserdem hatte man noch zehn Polizisten auftreiben können, die bereit waren, der Bestattung beizuwohnen, um einen Minjan (die für das Gebet notwendige Zahl von zehn Männern) voll zu machen. Sonst war niemand da. So fiel mir auch noch die undankbare Aufgabe zu, die Leiche zu identifizieren. Tja, das hat man nun davon, wenn man neue Dimensionen im Leben erkunden will.

Nein, so hatte ich mir diese Aufgabe nicht vorgestellt. Es sollte eine langjährige Freundschaft werden. Im Tagebuch, das ich seit einem Jahr schreibe, handeln einige Beiträge von Esther und ich bin froh, dass ich die Momente mit ihr wieder hervorkramen kann. Erst jetzt wird mir klar, dass sie mein Leben wirklich bereichert hat.

Als ich Esther einmal im Krankenhaus besuchte, lag sie mager und schwach im Bett und ich sass nur da, es gab nichts zu sagen und nichts zu tun. Nach einiger Zeit fühlte ich mich überflüssig und wollte mich aus dem Staub machen, aber sie sah mich an und bat: geh noch nicht! So setzte ich mich wieder hin.

Gerne erinnere ich mich auch an folgendes: Wir sassen mit den anderen Heimbewohnern am Tisch (die Hauptbeschäftigung im Heim...), wie immer war der Lärmpegel ziemlich hoch, einige der Insassen weinten, brabbelten oder schrieen. Esther schaute mich an und sagte ruhig und in reinstem deutsch: du hast so wunderschöne blaue Augen! Ich musste lachen und konterte - du auch! Jetzt lachten wir beide.

So viele Menschenleben werden achtlos geboren und achtlos wieder weggeworfen. Es sind die zwischenmenschlichen Beziehungen, die ihnen Wert verleihen.

Samstag, 17. Dezember 2016

Besuch bei E im Heim für Holocaust-Überlebende

So langsam verstehe ich, wie das in der psychiatrischen Klinik läuft: die Patienten werden, aus welchem Grund auch immer, mehr oder weniger gesund eingeliefert und nach und nach werden sie gebrechlich, schwach und pflegebedürftig. Und wahnsinnig. Es scheint ausnahmslos ein unaufhaltsamer Prozess zu sein, an diesem traurigen Ort. Schlussendlich vegetieren alle Insassen hoffnungslos und gebrochen den ganzen Tag am Gemeinschaftstisch vor sich hin, bis sie zur Nachtruhe weggerollt werden. Nun sitzt auch E., die anfangs dieses Jahres - noch neu im Heim - ganz wacker auf den Beinen war und selbständig durch die Gänge spazierte, abgemagert, schwach und zitternd im Rollstuhl. Sie kann sich kaum aufrechthalten und als ich eintreffe, hat sie gerade ihren Kaffee verschüttet. Ich frage sie, wie es ihr geht und sie antwortet „miserabel“. Ihre Beine sind magerer als meine Unterarme und nun hat man ihr auch noch das schüttere graue Haar kurzgeschoren. Sie sieht elend aus. Traurig. Ein Leben ohne Lichtblick.

Ein Ast nach dem Sturm, in der psychiatrischen Klinik Sha‘ar Menashe

Sonntag, 23. Oktober 2016

Danke

Ich besuche E. im Heim. Nach zwei epileptischen Anfällen hat sich ihr Zustand radikal verschlechtert, sie spricht kaum noch, sitzt im Rollstuhl und schaut mit leerem Blick vor sich hin. Ich weiss nicht, was sie noch wahrnimmt und was nicht. Heute ist ihr Geburtstag, aber bis ich sie daran erinnere, weiss sie nichts davon. Auf meine Frage, wie alt sie ist, antwortet sie “58”, dabei ist sie 72.

Trotzdem bringt sie es auch bei diesem Besuch fertig, mich zu berühren: “vielen Dank für deinen Besuch”, sagt sie in reinstem Deutsch und in einem Augenblick absoluter Klarheit, als ich mich verabschiede.

Dienstag, 4. Oktober 2016

Rückkehr nach Neutitschein

Es ist zwar nicht Holocaust-Gedenktag, sondern Neujahr, aber ich verschlinge an diesen Feiertagen das Buch “drei Leben” von Max Mannheimer.
Die nachfolgenden Sätze bringen mich dazu, das Buch zur Seite zu legen und eine Pause zu machen, aber erst, nachdem ich den Abschnitt mehrere Male gelesen habe.
Wie Phönix aus der Asche entsteigen Max und sein Bruder, die einzigen Überlebenden der Familie, der Hölle und haben wenige Wochen nach Kriegsende die Gelegenheit, in den Ort ihrer Kindheit zurückzufahren:

“Es war ein warmer Sommertag, die Sonne schien, der Himmel war hoch und blau, und in den Blumenkästen vor den Fenstern blühten die Geranien, ganz wie früher. Auf den ersten Blick hatte sich die Stadt nicht verändert. Sie war immer noch die hübsche Provinzstadt mit ihren schönen alten Fassaden und dem grossen Marktplatz, die wir zurückgelassen hatten. Dennoch war sie uns ganz und gar fremd geworden. Unsere Vergangenheit war daraus verschwunden. Bedrückt gingen wir durch die Strassen, vorbei an den Häusern, in denen die Lilienthals, die Kupfermanns, die Bermanns und all die anderen gewohnt hatten, und lasen die fremden Namen auf den Klingelschildern.”

Samstag, 24. September 2016

Max Mannheimer

Gestern ist Max Mannheimer, einer der prominentesten Holocaust-Überlebenden und Repräsentant der Juden in Deutschland, im Alter von 96 Jahren verstorben. (Artikel in der "Zeit")

Sein Buch “drei Leben” hat mich vor einiger Zeit sehr beeindruckt. Nun lese ich es zum Gedenken gleich zum zweiten Mal.

Sonntag, 11. September 2016

Noch einmal “la pazza gioia”

Als ich heute E. im Heim für Holocaust-Überlebende besuche, ist sie besonders quirlig und verwirrt, aber guter Laune. Wenn ich manchmal den Verdacht hege, dass die Heiminsassen konsequent Valium zur Beruhigung erhalten, denke ich heute, ob ihr wohl jemand die falschen Tabletten verabreicht hat. Sie ist sonst meistens ziemlich ruhig, aber heute spricht sie ununterbrochen und übertrifft sich mit ihren witzigen Aussagen immer wieder selbst. Meinen Vorschlag, draussen spazieren zu gehen, schlägt sie ab mit der Begründung, sie sei schon den ganzen Tag draussen gewesen. Ich weiss genau, dass das nicht möglich ist. Eine neue Angestellte fragt mich wer ich bin und E. kommt mir zuvor und stellt mich als “Professorin des Instituts….” vor.

Auf meine Frage, ob sie sich erinnern kann, wo sie an 9/11, zur Zeit der Terroranschläge auf die Türme des WTC heute vor 15 Jahren war, behauptet sie, in Manhatten selbst gewesen zu sein und erzählt mir auch gleich von ihren aufregenden Erlebnissen am Ort des Geschehens.

E. erinnert mich heute an Beatrice, die Protagonistin aus dem Film vom letzten Donnerstag, die auch pausenlos redete, nur war dort, im Film, das Therapiezentrum eine bunte italienische Villa mit üppiger mediterraner Flora, während das Heim hier ziemlich trist in schwarz-weiss und Geruch nach Putzmitteln daherkommt. Und trotzdem will Beatrice im Film nur eines: ausbrechen, um ein wenig Glück zu suchen.

Später behauptet E. noch verschmitzt, in Budapest, wo sie aufgewachsen ist, gäbe es keine Irrenhäuser, die ganze Stadt sein nämlich ein Irrenhaus.

Als ich mich verabschiede und E. auf meinen Besuch in einer Woche vertröste, sagt sie “ dann bin ich dann aber nicht mehr da…”
“Wo gehst du denn hin?”
“Das weiss ich noch nicht… Hier ist es langweilig. Einöde”

Donatella und Beatrice aus "la pazza gioia" auf der Flucht