Der Blick aus dem Fenster erfolgt aus Israel, wo ich seit 1988 lebe. Geboren und aufgewachsen bin ich in der Schweiz. Aus meinem Fenster blicken auch Eyal, mein israelischer Mann und meine erwachsenen, sehr israelischen Kinder, Sivan, Itay und Lianne. Die Personen sind echt, unsere Namen aber frei erfunden.
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Dienstag, 25. Juli 2017
Gedanken beim Reisen
Die Schweizer scheinen grossen Wert auf die Kultivierung ihrer Freizeittätigkeiten zu legen, deshalb sind unter anderem auch die Velowege sehr sorgfältig gekennzeichnet. So düsen wir auf unserer mehrtägigen Tour fernab der Autostrassen schnell Seen und Flüssen entlang und bergauf und bergab durch Täler und Orte. Langgestreckte Ebenen wechseln sich mit hügeligen Landschaften ab, enge Täler öffnen sich und wir ziehen an hohen Bergen und Seen in unzähligen blau- und türkis-Schattierungen vorbei.
In einigen besonders ruhigen und abgelegenen Gegenden wähne ich mich auf einem fremden Planeten. Alte, dunkle Bauernhäuser aus Holz liegen verstreut auf grünen Hügeln, die Täler sind von hohen Bergen flankiert, Grillen zirpen in der Mittagshitze, es riecht nach Heu, Kühen und Käse. Die wenigen Menschen, die wir treffen, haben braungebrannte, furchige Gesichter und sprechen eine Sprache, die man ausserhalb des Tales nicht versteht. Die Veloroute führt uns an grossen und kleinen Gehöften vorbei und bei einigen dieser ruhigen Bauerndörfer packt mich die Sehnsucht, einfach dazubleiben. Bestimmt muss es hier ein paar Häuser geben, deren Besitzer auf liebevolle Nachbewohner warten. Gerne würde ich den Garten pflegen, einige Hühner halten, einfach in den Tag hineinleben und die grünen Hügel bestaunen. Genau hier, wo die Welt noch in Ordnung ist und die Medienberichte über tägliche Katastrophen nicht anzukommen scheinen.
Reisen hilft uns, einen kritischen Blick auf uns selbst und unser Leben zu Hause zu werfen. Muss ich wirklich jeden Tag wie ein Roboter zur selben Zeit aufstehen und zur Arbeit gehen? Jeden Tag unter Neonlampen in einem tristen Büro fristen, nur um ein bisschen Kohle heimzubringen um damit nutzlose Dinge zu kaufen? Muss Eyal wirklich täglich mit besserwisserischen Kunden über spitzfindige Details in ellenlangen Verträgen streiten und abends genervt nach Hause kommen? Könnte er nicht hier mit einer langen Gabel auf den Feldern das Heu wenden und sich die Sonne in den Nacken brennen lassen, während ich im Garten riesengrosse Zucchettis und süsse Tomaten züchte? Warum lebe ich in einem Land, in welchem ständig Krieg herrscht, während mir doch eigentlich hier diese Idylle zu Füssen liegt? Muss das alles sein? Wie bin ich nur in dieses Leben hineingeschlittert? Wer hat das für mich bestimmt?
Während ich durch die fremden Dörfer strample, denke ich daran, dass in jedem Häuschen unbekannte Menschen ihre ganz eigenen Leben leben. Jeder findet sich sein Nischchen, baut sich ein Leben auf, mit Familie, Freunden, Arbeit und allem was dazugehört. Dann ist er festgefahren. Sorgt sich im immer wiederkehrenden Alltag um dieses und jenes. Folgt den vorbestimmten Pfaden.
Dabei sind wir alle nur zufällig, wie gut durchgeschüttelte Würfel aus einem Becher, irgendwo auf dieses Spielbrett namens Leben gefallen. Genausogut hätten wir im Garten des Nachbars landen können, oder in einem anderen Land, einem anderen Leben. Aber warum ist es dann so schwierig, einfach aufzustehen und einen ganz anderen Weg zu gehen? Alles hinter sich zu lassen, den „Reset“-Knopf zu drücken und neu anzufangen? Warum folgen wir alle so festgefahren unserem Pfad, den wir nur mehr oder weniger bewusst gewählt haben? Machen wir uns überhaupt noch Gedanken, ob er in die richtige Richtung führt?
Wäre unsere Velofahrt nicht so rasant, würde ich hier an einige Türen klopfen, bis ich ein passendes Häuschen gefunden hätte. Und am nächsten Montagmorgen, wenn mein Vorgesetzter in den USA wie gewohnt unser wöchentliches Gespräch anwählen würde, bliebe die Leitung ruhig. Ich wäre nämlich gerade dabei, auf meinem dreihundert Jahre alten Hof im Simmental die Eier von glücklich gackernden Hühnern einzusammeln.
Samstag, 15. Juli 2017
Reise in die Schweiz
Ich habe vor, um 11:30 das Haus zu verlassen um mich rechtzeitig am Flughafen einzufinden. Leider ist das Timing denkbar schlecht und Itay, mein Soldatensohn, muss genau zur selben Zeit abgeholt werden. Er kommt nach drei Wochen Kampftraining bedauerlicherweise just an diesem Wochenende auf Urlaub, an welchem ich verreise. Meine Hoffnung, dass er wenigstens frühmorgens entlassen würde, wird leider auch enttäuscht. Es reicht gerade für ein paar Sätze und einen Kuss, dann werde ich am Bahnhof ausgeladen. Kaum im Flughafen angekommen, erreicht mich das erste Telefon: Der Kampfsoldat und sein verwöhnter Vater versuchen, die Waschmaschine in Gang zu bringen. In der Warteschlange zur Sicherheitskontrolle erkläre ich ihnen, nach welchen Kriterien man Wäsche sortiert und welche Knöpfe zu drücken sind. Das Wäschesortieren schminken wir uns aber bald ab, es ist zu kompliziert und das weisse T-Shirt wird es überleben, wenn es einmal mit den stinkenden Uniformen zusammen in der Trommel baden muss. Dank der Skizze, die ich zu Hause vorahnend hinterlassen habe, meinen zusätzlichen präzisen Erläuterungen und vereinten Bemühungen schaffen es die beiden, die richtige Temperatur zu wählen und den Hauptknopf zu drücken. Hurra! Wir waschen Wäsche!
Nach vier Stunden angenehmem Flug bin ich schon in der Schweiz. Der Bühnenbildwechsel ist frappant. Ein spektakulärer Sonnenuntergang begleitet unsere Fahrt zu meinem Heimatdorf. Am leicht bewölkten und rotgefärbten Horizont zeichnen sich die Umrisse von spitzen Kirchtürmen ab – was für ein ungewohntes Bild. Bei meinen Eltern ist alles beim Alten: Die Vögel heissen mich zwitschernd willkommen, das tiefblaue Schwimmbadwasser glitzert in der Sonne, die Beeren wachsen mit den Salatköpfen um die Wette und der Rasenmähroboter dreht stoisch seine Runden. Eigentlich der perfekte Ort, um abzuschalten. Aber vor wenigen Wochen hat der Fortschritt auch in dieser internetfreien Insel Einzug gehalten. Mein Neffe hat WLAN installiert und nun verfügen meine Eltern im ganzen Haus über perfekten Internetempfang, so dass die junge Generation weiterhin zu Besuch kommen kann, ohne sich sorgen zu müssen, dass sie für ein paar Stunden von der Welt abgeschnitten sein könnte. Für mich hingegen wird es nun schwieriger, im Urlaub abzuschalten und mich der Illusion hinzugeben, dass alles in bester Ordnung und die Erde eine Scheibe sei. Die Wirklichkeit holt mich ein. In Israel hat gerade ein dreiwöchiges Baby seinen Vater bei einem sinnlosen Attentat auf dem Tempelberg verloren. Die arabischen Terroristen wollten Juden töten, brachten aber zwei israelische Polizisten um, die muslimische Beduinen sind. Das Foto des jungen Vaters der – vor seinem zum-Himmel-schreiend sinnlosen Tod – seinen neugeborenen Sohn mit unendlicher Zärtlichkeit und Liebe in den Armen hält, macht im Netz die Runde und holt mich auch auch in diesem fast idyllischen Zipfel der Schweiz ein.
In meinem Elternhaus eingetroffen, verbindet sich mein Handy aber unerklärlicherweise nicht sofort automatisch mit dem WLAN. Warum wohl? Was mache ich falsch? Meine Schwester und ich untersuchen alle möglichen Einstellungen und Knöpfe. Aber wir gehören halt auch schon zum alten Eisen und haben nicht mehr so ganz den Durchblick.„Jetzt mach doch mal den Flugmodus aus, dann tippe auf den WLAN Knopf“, „Vielleicht das Data-Roaming ein?“, „Schau mal unter mobile Netzwerke“. Es hilft alles nichts, die Verbindung kommt nicht zustande und während wir mindestens eine Viertelstunde die technischen Einstellungen meines neuen Handys zu ergründen versuchen, schauen meine über achtzigjährigen Eltern der Unterhaltung zu, als würden wir chinesisch reden. Dann frage ich sie direkt: „Ihr habt doch jetzt WLAN, oder?“. „Ja“ sagen sie dann, „aber nicht eingeschaltet, wir brauchen es ja nicht!“
Nach vier Stunden angenehmem Flug bin ich schon in der Schweiz. Der Bühnenbildwechsel ist frappant. Ein spektakulärer Sonnenuntergang begleitet unsere Fahrt zu meinem Heimatdorf. Am leicht bewölkten und rotgefärbten Horizont zeichnen sich die Umrisse von spitzen Kirchtürmen ab – was für ein ungewohntes Bild. Bei meinen Eltern ist alles beim Alten: Die Vögel heissen mich zwitschernd willkommen, das tiefblaue Schwimmbadwasser glitzert in der Sonne, die Beeren wachsen mit den Salatköpfen um die Wette und der Rasenmähroboter dreht stoisch seine Runden. Eigentlich der perfekte Ort, um abzuschalten. Aber vor wenigen Wochen hat der Fortschritt auch in dieser internetfreien Insel Einzug gehalten. Mein Neffe hat WLAN installiert und nun verfügen meine Eltern im ganzen Haus über perfekten Internetempfang, so dass die junge Generation weiterhin zu Besuch kommen kann, ohne sich sorgen zu müssen, dass sie für ein paar Stunden von der Welt abgeschnitten sein könnte. Für mich hingegen wird es nun schwieriger, im Urlaub abzuschalten und mich der Illusion hinzugeben, dass alles in bester Ordnung und die Erde eine Scheibe sei. Die Wirklichkeit holt mich ein. In Israel hat gerade ein dreiwöchiges Baby seinen Vater bei einem sinnlosen Attentat auf dem Tempelberg verloren. Die arabischen Terroristen wollten Juden töten, brachten aber zwei israelische Polizisten um, die muslimische Beduinen sind. Das Foto des jungen Vaters der – vor seinem zum-Himmel-schreiend sinnlosen Tod – seinen neugeborenen Sohn mit unendlicher Zärtlichkeit und Liebe in den Armen hält, macht im Netz die Runde und holt mich auch auch in diesem fast idyllischen Zipfel der Schweiz ein.
In meinem Elternhaus eingetroffen, verbindet sich mein Handy aber unerklärlicherweise nicht sofort automatisch mit dem WLAN. Warum wohl? Was mache ich falsch? Meine Schwester und ich untersuchen alle möglichen Einstellungen und Knöpfe. Aber wir gehören halt auch schon zum alten Eisen und haben nicht mehr so ganz den Durchblick.„Jetzt mach doch mal den Flugmodus aus, dann tippe auf den WLAN Knopf“, „Vielleicht das Data-Roaming ein?“, „Schau mal unter mobile Netzwerke“. Es hilft alles nichts, die Verbindung kommt nicht zustande und während wir mindestens eine Viertelstunde die technischen Einstellungen meines neuen Handys zu ergründen versuchen, schauen meine über achtzigjährigen Eltern der Unterhaltung zu, als würden wir chinesisch reden. Dann frage ich sie direkt: „Ihr habt doch jetzt WLAN, oder?“. „Ja“ sagen sie dann, „aber nicht eingeschaltet, wir brauchen es ja nicht!“
Freitag, 3. März 2017
Israelische Liebe
Das Telefon klingelt. Ich bin überrascht, eine unbekannte junge Frau am Telefon zu haben, die auch noch Schweizerdeutsch spricht. Sie ist eben erst aus der Schweiz hier in Israel eingetroffen und versucht, sich in dem noch fremden Land und mit ihrem israelischen Partner zurechtzufinden. Da ich, ohne falsche Bescheidenheit, aufgrund meiner langjährigen Erfahrung als Expertin für das Thema „Leben im Ausland“ gelte, möchte sie meinen Rat zu ihrer binationalen Beziehung und zu ihren Aussichten für die Zukunft einholen. Natürlich gebe ich gerne Auskunft.
In einer neuen Heimat Fuss zu fassen, hat viele positive Aspekte. Ein fremdes Volk, eine neue Sprache, eine andere Kultur und eine ungewohnte Religion von Grund auf kennenzulernen, ist eine immense Bereicherung. Das Weltbild, mit dem ich aufgewachsen und vertraut war, wurde komplett über den Haufen geworfen. Ich musste mich an neue Maßstäbe gewöhnen und siehe da, ich entdeckte, dass, was für die Einen das Nonplusultra ist, für die Andern eine nebensächliche Unwichtigkeit oder sogar völlig unverständlich sein kann. So ist mein heutiger Blickpunkt auf die Dinge ein ganz anderer als als er in der alten Heimat war und ich bin mir auch im Klaren, dass ich, hätte mich das Leben nur 100 km weiter nach Osten verschlagen, noch einmal ganz andere Wertvorstellungen kennengelernt hätte.
Seit bald dreissig Jahren lerne ich nun die hiesigen Gepflogenheiten, frage nach, versuche, den Dingen auf den Grund zu gehen, sortiere aus und übernehme, was für mich stimmt. Ich bin noch weit davon entfernt, alles durchschaut zu haben, aber die wichtigste Lektion habe ich verstanden: nichts ist unumstösslich. Auch Ansichten und Werte, die wir tief verwurzelt glauben und von denen wir uns absolut überzeugt haben, entstehen grösstenteils aus örtlich bedingtem Konformismus. Sie sind vom sozialen Umfeld, von lokalen Gepflogenheiten und der allgemein herrschenden Meinung abhängig und haben an einem anderen Ort oft keine Gültigkeit mehr. Die Israelis ticken anders als die Schweizer und dass das jüdische Volk über eine jahrtausende alte interessante Geschichte verfügt, macht es besonders faszinierend. Ich habe dieses einzigartige Volk schätzen und lieben gelernt und mich so gut wie möglich integriert. Viele der hier typischen Verhaltensweisen kann ich heute gut verstehen, sehe sie aber immer noch als Aussenstehende.
Dann erkläre ich der jungen Frau auch, dass es mir mit den Jahren immer schwerer fällt, fern von meiner Familie zu leben. So sehr ich mich selbst zu überzeugen versuche, dass auch viele meiner Bekannten nicht unbedingt zahlreiche Geschwister oder gesunde Eltern haben, oder wenn doch, dies oft mit schlimmen Streitereien verbunden ist – die fehlenden familiären Beziehungen schmerzen immer mehr.
Für einen jungen Menschen mögen vier Stunden Flugentfernung von der Familie kaum besorgniserregend scheinen. Vergleichbar mit einem Glas Wasser, das man in der Hand hält. Es fällt kaum ins Gewicht. Aber alles ist eine Frage der Zeit. Auch ein Glas Wasser - wenn man es über Tage, Wochen oder Jahre in der Hand hält – würde uns irgendwann an den Punkt bringen, an welchem die Kräfte einfach nicht mehr ausreichen. Der Arm beginnt zu zittern, die Muskeln lassen einen im Stich und eines Tages muss man sich eingestehen - es geht nicht mehr. Bedenke das, sage ich zu ihr, Familie kann man nicht ersetzen und ein bis zwei Treffen im Jahr sind einfach nicht genug.
So philosophiere ich am Telefon vor mich hin, bis mich die junge Frau unterbricht - Ja, was rätst du mir nun, soll ich mich auf diese Beziehung einlassen, oder mit dem nächsten Flug wieder nach Hause reisen? Hakt sie nach.
*************
Natürlich ist das eben aufgeführte Gespräch fiktiv. Niemand schert sich einen Deut um meine Meinung in Beziehungsfragen, schon gar nicht verliebte junge Leute. Aber eine Meldung auf Facebook hat mich zum Nachdenken gebracht. Eine junge Frau aus der Schweiz hatte Fragen zu Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen in Israel und schon brannten meine Gedanken mit mir durch. Einst war ich auch in dieser Situation. Und heute?
Ein Leben im Ausland mag interessant und bereichernd und gleichzeitig nicht etwa einfach sein. Aber - den Gedanken, dass ich die vergangenen fünfzig Jahre in einem gemütlichen Schweizer Dorf oder einer hübschen eidgenössischen Stadt hätte verbringen können, ohne über die Alpen hinaus zu blicken, sprich, ohne die vorgenannten Erfahrungen zu machen, finde ich unvorstellbar und traurig. Mein Leben wäre um unzählige wertvolle Erkenntnisse ärmer. Bestimmt wäre ich aus irgendwelchen Gründen verbittert und müsste nicht nur wegen chronischem Fernweh in psychologische Behandlung.
Ziemlich sicher würde ich über die israelischen Zionisten wettern, denn auch ich würde die Berichte in den Medien nicht hinterfragen. Meine Kinder hätten Pali-Tücher an und wären Militärdienstverweigerer. Vielleicht würde ich Weihnachten und Ostern feiern. Und ich hätte einen blonden Mann mit blauen Augen und mit Schnauz (Schnauz tragen die Schweizer Männer, damit man sie von den Frauen unterscheiden kann). Wahrscheinlich könnte ich mit alledem auch ganz gut leben, aber zum Glück habe ich gelernt, nichts mit tierischem Ernst zu nehmen und Konformität zu hinterfragen.
Bei allem dafür und dawider - wäre mein Rat an die junge Frau überhaupt relevant? Könnte sie Amor den Rücken kehren, sich ganz vernünftig entscheiden, dass sie doch lieber Rösti als Humus isst, ihre Siebensachen packen und mit einem der nächsten Flüge wieder nach Hause fliegen, ohne ihrem heissblütigen Israeli ein Leben lang nachzutrauern?
Nun, es gibt keine Quintessenz in diesem Beitrag. Nur eine Menge Gedanken.
In einer neuen Heimat Fuss zu fassen, hat viele positive Aspekte. Ein fremdes Volk, eine neue Sprache, eine andere Kultur und eine ungewohnte Religion von Grund auf kennenzulernen, ist eine immense Bereicherung. Das Weltbild, mit dem ich aufgewachsen und vertraut war, wurde komplett über den Haufen geworfen. Ich musste mich an neue Maßstäbe gewöhnen und siehe da, ich entdeckte, dass, was für die Einen das Nonplusultra ist, für die Andern eine nebensächliche Unwichtigkeit oder sogar völlig unverständlich sein kann. So ist mein heutiger Blickpunkt auf die Dinge ein ganz anderer als als er in der alten Heimat war und ich bin mir auch im Klaren, dass ich, hätte mich das Leben nur 100 km weiter nach Osten verschlagen, noch einmal ganz andere Wertvorstellungen kennengelernt hätte.
Seit bald dreissig Jahren lerne ich nun die hiesigen Gepflogenheiten, frage nach, versuche, den Dingen auf den Grund zu gehen, sortiere aus und übernehme, was für mich stimmt. Ich bin noch weit davon entfernt, alles durchschaut zu haben, aber die wichtigste Lektion habe ich verstanden: nichts ist unumstösslich. Auch Ansichten und Werte, die wir tief verwurzelt glauben und von denen wir uns absolut überzeugt haben, entstehen grösstenteils aus örtlich bedingtem Konformismus. Sie sind vom sozialen Umfeld, von lokalen Gepflogenheiten und der allgemein herrschenden Meinung abhängig und haben an einem anderen Ort oft keine Gültigkeit mehr. Die Israelis ticken anders als die Schweizer und dass das jüdische Volk über eine jahrtausende alte interessante Geschichte verfügt, macht es besonders faszinierend. Ich habe dieses einzigartige Volk schätzen und lieben gelernt und mich so gut wie möglich integriert. Viele der hier typischen Verhaltensweisen kann ich heute gut verstehen, sehe sie aber immer noch als Aussenstehende.
Dann erkläre ich der jungen Frau auch, dass es mir mit den Jahren immer schwerer fällt, fern von meiner Familie zu leben. So sehr ich mich selbst zu überzeugen versuche, dass auch viele meiner Bekannten nicht unbedingt zahlreiche Geschwister oder gesunde Eltern haben, oder wenn doch, dies oft mit schlimmen Streitereien verbunden ist – die fehlenden familiären Beziehungen schmerzen immer mehr.
Für einen jungen Menschen mögen vier Stunden Flugentfernung von der Familie kaum besorgniserregend scheinen. Vergleichbar mit einem Glas Wasser, das man in der Hand hält. Es fällt kaum ins Gewicht. Aber alles ist eine Frage der Zeit. Auch ein Glas Wasser - wenn man es über Tage, Wochen oder Jahre in der Hand hält – würde uns irgendwann an den Punkt bringen, an welchem die Kräfte einfach nicht mehr ausreichen. Der Arm beginnt zu zittern, die Muskeln lassen einen im Stich und eines Tages muss man sich eingestehen - es geht nicht mehr. Bedenke das, sage ich zu ihr, Familie kann man nicht ersetzen und ein bis zwei Treffen im Jahr sind einfach nicht genug.
So philosophiere ich am Telefon vor mich hin, bis mich die junge Frau unterbricht - Ja, was rätst du mir nun, soll ich mich auf diese Beziehung einlassen, oder mit dem nächsten Flug wieder nach Hause reisen? Hakt sie nach.
*************
Natürlich ist das eben aufgeführte Gespräch fiktiv. Niemand schert sich einen Deut um meine Meinung in Beziehungsfragen, schon gar nicht verliebte junge Leute. Aber eine Meldung auf Facebook hat mich zum Nachdenken gebracht. Eine junge Frau aus der Schweiz hatte Fragen zu Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen in Israel und schon brannten meine Gedanken mit mir durch. Einst war ich auch in dieser Situation. Und heute?
Ein Leben im Ausland mag interessant und bereichernd und gleichzeitig nicht etwa einfach sein. Aber - den Gedanken, dass ich die vergangenen fünfzig Jahre in einem gemütlichen Schweizer Dorf oder einer hübschen eidgenössischen Stadt hätte verbringen können, ohne über die Alpen hinaus zu blicken, sprich, ohne die vorgenannten Erfahrungen zu machen, finde ich unvorstellbar und traurig. Mein Leben wäre um unzählige wertvolle Erkenntnisse ärmer. Bestimmt wäre ich aus irgendwelchen Gründen verbittert und müsste nicht nur wegen chronischem Fernweh in psychologische Behandlung.
Ziemlich sicher würde ich über die israelischen Zionisten wettern, denn auch ich würde die Berichte in den Medien nicht hinterfragen. Meine Kinder hätten Pali-Tücher an und wären Militärdienstverweigerer. Vielleicht würde ich Weihnachten und Ostern feiern. Und ich hätte einen blonden Mann mit blauen Augen und mit Schnauz (Schnauz tragen die Schweizer Männer, damit man sie von den Frauen unterscheiden kann). Wahrscheinlich könnte ich mit alledem auch ganz gut leben, aber zum Glück habe ich gelernt, nichts mit tierischem Ernst zu nehmen und Konformität zu hinterfragen.
Bei allem dafür und dawider - wäre mein Rat an die junge Frau überhaupt relevant? Könnte sie Amor den Rücken kehren, sich ganz vernünftig entscheiden, dass sie doch lieber Rösti als Humus isst, ihre Siebensachen packen und mit einem der nächsten Flüge wieder nach Hause fliegen, ohne ihrem heissblütigen Israeli ein Leben lang nachzutrauern?
Nun, es gibt keine Quintessenz in diesem Beitrag. Nur eine Menge Gedanken.
Hier singt die israelische Sängerin Alma Zohar über ihre indianische Liebe:
Samstag, 22. Oktober 2016
The Swiss experience
In der Schweiz treffen wir auch unseren Sohn Itay für einige Tage. Nach einem Jahr in der “Milchfabrik Kibbutz”, wo aus mehreren hundert Kühen je 40 Liter Milch am Tag gequält werden und bevor er demnächst für mindestens drei Jahre im israelischen Militär Staub schlucken wird, erlebt er im Landdienst bei einem Bauern im Berner Oberland “the ultimate Swiss experience”. Auf dem kleinen Hof gibt es kaum zwanzig Kühe und diese werden tagelang liebevoll geputzt und gestriegelt, um sie dann mit Glocken zu behängen und mit ihnen an eine Viehschau zu ziehen. Dazu trägt Itay natürlich Edelweisshemd, wie es sich gehört.
Urlaub und wieder zuhause
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Blick auf die Alpen vom Passwang |
Unser Urlaub in Barcelona und der Schweiz vergeht in Windeseile. Barcelona ist sehr vielfältig und interessant und die Schweiz besticht einmal mehr mit Postkartenansichten, wohin man nur blickt – wenn es einmal nicht grau und bewölkt ist. Während mich aber in Israel immer das "Heimweh" plagt, wird mir, sobald ich Schweizer Boden betrete klar, dass ich doch nicht mehr hierher gehöre. Alles ist so gewohnt und doch so fremd. So ist Urlaub in der Schweiz für mich immer auch eine reichlich anstrengende Auseinandersetzung mit mir selbst. Ich fahre, gehe, wandere, spaziere durch diese Landschaften, Dörfer und Städte und fühle, das bin hundertprozentig ich, ich bin aus diesem Holz geschnitzt und doch empfinde ich eine Unbehaglichkeit, als wäre ich ein Kuckucksei im fremden Nest. Wo bin ich eigentlich zuhause? Für welches Land schlägt mein Herz? Was bedeuten mir meine Schweizer Wurzeln? Was bedeutet dieses Land, in welchem ich schon bald dreissig Jahre nicht mehr lebe, für mich? Könnte/möchte ich wieder hier leben?
Am Tag unseres Rückflugs reisen wir frühmorgens mit dem Zug nach Zürich. Draussen ist es kalt, grau und dunkel, es nieselt - typisches Schweizer Herbstwetter. Auch als wir um neun Uhr ankommen, liegt immer noch alles grau in grau. Im Zug lesen die Reisenden Zeitung oder tragen Kopfhörer und es ist so ruhig, dass wir beim Öffnen eines raschelnden Plastiktütchens mit zwei letzten Schweizer Gipfeli das Gefühl haben, dass sich alle Augen auf uns richten. Wir Israelis schauen uns an und müssen lachen. Jetzt glotzten die Mitreisenden erst recht.
Bei der Ankunft in Tel-Aviv hingegen herrscht heilloses Durcheinander: mehrere Flüge landen vor Shabbat zur gleichen Zeit. In der Ankunftshalle stürmen Menschen in alle Richtungen. Draussen kämpfen Busse, Taxen, Privatwagen und Fussgänger hupend und lärmend um den Vorrang auf der Strasse.
Lärm, Menschen, Durcheinander und vor allem Sonne – Leben! Ich atme auf und fühle mich zuhause.
Mittwoch, 28. September 2016
Flügge
Mein neunzehnjähriger Sohn macht sich selbständig. Nach mehr als einem Jahr im Kibbutz, der ja eigentlich noch ganz in der Nähe lag, fliegt er heute für sechs Wochen in die Schweiz. Dort hat er aber nicht etwa vor, bei seinen Verwandten an den bekannten Orten auf der faulen Haut zu liegen, sondern er will die Welt entdecken. Ein Monat Landdienst bei unbekannten Bauern ist schon gebucht und um das Abenteuer perfekt zu machen, hat er vor, in einer mehrtägigen Wanderung zu Fuss dorthin zu gelangen.
Dabei hat er von der Schweizer Geographie ungefähr soviel Ahnung wie ich von der Quantenphysik und unseren Vorschlag, uns im Internet etwas schlau zu machen, schlägt er in den Wind. Ich habe keine Ahnung, wie er vorhat, von A nach B zu gelangen und die Tatsache, dass er heute morgen fast den Flug verpasst, weil er in Tel-Aviv in einen falschen Zug gestiegen ist, lässt mich nicht gerade beruhigt zurück.
Beim Packen wird mir auch richtig bewusst, wie unterschiedlich wir beide ticken. Er nimmt nur das absolut Notwendigste mit und auch davon vergisst er am Morgen vor dem Flug noch die Hälfte. Das eingepackte Duschgel ist ein Miniature-Gratismuster und würde mir höchstens zwei Tage reichen und ein zweites Paar Schuhe findet er überflüssig. Wenn er also abends in einer Bar ein Bier trinken möchte, wird er dazu dieselben Schuhe tragen müssen, die er beim Stall-Ausmisten an hat.
Ach, was mache ich mir Sorgen! Es wird schon gut gehen. War ich eigentlich auch mal so unbesorgt? Wahrscheinlich schon, sonst wäre ich wohl kaum mit 24 Jahren wegen einer verheissungsvollen Romanze nach Israel gereist, ohne auch nur den geringsten Plan für die Zukunft zu haben.
Zugegeben, der Gedanke, dass nun eine Person weniger abgegessene Pfirsichkerne auf dem Sofa liegen lässt und schmutzige Kleider, nasse Frottiertücher und Schuhe in Grösse 46 im ganzen Haus verstreut, ist ganz verlockend, aber als Itay tatsächlich seine Siebensachen zusammen packt, ist mir doch reichlich schwer ums Herz.
"Bring mir nur ja keine Schweizer Freundin nach Hause", warne ich ihn noch, "die taugen nämlich nichts!"
Nun, die Chancen, dass überhaupt ein weibliches Wesen in seine Richtung schaut, sind wohl eher gering, wenn er mit Mistschuhen in den Ausgang geht und nach zwei Tagen kein Duschgel mehr hat.
Dabei hat er von der Schweizer Geographie ungefähr soviel Ahnung wie ich von der Quantenphysik und unseren Vorschlag, uns im Internet etwas schlau zu machen, schlägt er in den Wind. Ich habe keine Ahnung, wie er vorhat, von A nach B zu gelangen und die Tatsache, dass er heute morgen fast den Flug verpasst, weil er in Tel-Aviv in einen falschen Zug gestiegen ist, lässt mich nicht gerade beruhigt zurück.
Beim Packen wird mir auch richtig bewusst, wie unterschiedlich wir beide ticken. Er nimmt nur das absolut Notwendigste mit und auch davon vergisst er am Morgen vor dem Flug noch die Hälfte. Das eingepackte Duschgel ist ein Miniature-Gratismuster und würde mir höchstens zwei Tage reichen und ein zweites Paar Schuhe findet er überflüssig. Wenn er also abends in einer Bar ein Bier trinken möchte, wird er dazu dieselben Schuhe tragen müssen, die er beim Stall-Ausmisten an hat.
Ach, was mache ich mir Sorgen! Es wird schon gut gehen. War ich eigentlich auch mal so unbesorgt? Wahrscheinlich schon, sonst wäre ich wohl kaum mit 24 Jahren wegen einer verheissungsvollen Romanze nach Israel gereist, ohne auch nur den geringsten Plan für die Zukunft zu haben.
Zugegeben, der Gedanke, dass nun eine Person weniger abgegessene Pfirsichkerne auf dem Sofa liegen lässt und schmutzige Kleider, nasse Frottiertücher und Schuhe in Grösse 46 im ganzen Haus verstreut, ist ganz verlockend, aber als Itay tatsächlich seine Siebensachen zusammen packt, ist mir doch reichlich schwer ums Herz.
"Bring mir nur ja keine Schweizer Freundin nach Hause", warne ich ihn noch, "die taugen nämlich nichts!"
Nun, die Chancen, dass überhaupt ein weibliches Wesen in seine Richtung schaut, sind wohl eher gering, wenn er mit Mistschuhen in den Ausgang geht und nach zwei Tagen kein Duschgel mehr hat.
Sonntag, 21. August 2016
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