Sonntag, 20. Dezember 2020

Ein Spaziergang



Über den Shvil Israel, den nationalen israelischen Wanderweg, der Israel vom Norden bis in den südlichsten Zipfel durchzieht, habe ich früher schon einmal geschrieben. Obwohl ich gerne wandere konnte ich noch nie so recht verstehen, warum das Abwandern einer bestimmten Route ein abzuhakendes Ziel auf der Wunschliste der Lebensträume sein sollte. Ich brauche keine grosskotzigen Ziele, für mich reicht ein schöner Weg. Als eine liebe Freundin, die Reiseleiterin, aber corona-bedingt arbeitslos ist, eine siebentägige Shvil-Wanderung anbot, zögerte ich. Aber eine geplante Auslandsreise schien jeden Tag in weitere Ferne zu rücken. Und so sagte ich dann doch zu. Ich musste unbedingt aus meinem Heimbüro-Kämmerchen ausbrechen, wenn ich nicht wahnsinnig werden wollte. 



Nun liegt die Wanderung schon mehrere Wochen zurück. Am Wochenende sortiere ich die Fotos – und noch einmal meine Eindrücke. Meine drei Wanderkameradinnen und ich haben insgesamt etwa 70 Kilometer zurückgelegt, jeden Tag von sieben Uhr morgens bis spätnachmittags einen Fuss vor den anderen setzend. Wir haben an schattigen Plätzchen gerastet, unsere Notdurft hinter Sträuchern verrichtet, in Bächen die Hände gewaschen, Begeisterung über die schönsten Pflanzen und Aussichten geteilt, geplaudert, Witze gemacht, Geschichten erzählt und interessante Gespräche geführt. Die Wege führten oft über schwieriges Gelände, durch dorniges Gebüsch, steil bergauf oder gefährlich bergab, über Felsen und durch Bäche. 


 

Auf einer mehrtägigen Wanderung erkennt man, dass sich eindrückliche, herausfordernde, malerische oder sogar paradiesisch schöne Wegstücke immer wieder mit langweiligen, widrigen oder mühsamen Abschnitten abwechseln. Erst alles zusammen ergänzt sich zu einem grossen Ganzen – genau wie im Leben. 


Das stundenlange Gehen wirkt meditativ. Sich nur mit Gehen, Hören, Riechen, Sehen beschäftigen. Den Gedanken freien Raum lassen. Die Augen wandern lassen und sich am Reichtum der Natur sattsehen. Anstrengung, Schwitzen, Schmutz, Schmerzen – die Auseinandersetzung mit dem Körper trägt dazu bei, dass man ganz bei sich ist. Sich die Sonne auf das Haupt brennen und den Wind das Haar zerzausen lassen, sich im Bach waschen. Mit der Natur im Einklang sein. Sich auf das Wesentliche beschränken. Sich am Abend mit schmerzenden Füssen und berauscht von den Eindrücken des Tages ins Bett legen und in tiefen Schlaf fallen. Am nächsten Morgen erneut neugierig wieder aufbrechen. All das ergibt ein vollkommenes Pendant zu eingesessen Gewohnheiten, einen perfekten Ausbruch aus dem Alltag. 



Sehr abwechslungsreich sind auch die Begegnungen mit anderen Shvil-Wanderern, den „Shvilisten“. Wie die Israelis so sind, begrüsst man sich nicht nur, sondern ist sofort im Gespräch: Wo bist du losgelaufen? Welches Ziel hast du heute? Wo übernachtest du? Wie die Landschaften wechseln sich auch die Begegnungen immer wieder ab, oft nach einem kurzen Wortwechsel, manchmal nach längeren Gesprächen. Menschen kommen und gehen, man sieht sich auf immer anderen Teilstücken wieder. Besondere Beachtung gebührt auf dem Shvil jenen Wanderern, die im Gelände übernachten und ihre gesamte Ausrüstung mittragen. Wir bestaunen einen wandernden Hund mit eigenem, Hunde-gerechtem Rucksack (natürlich hat er auch einen menschlichen Begleiter dabei, der für ihn die Karten liest). Eine Gruppe Achtzehnjähriger, kurz vor dem Militärdienst, stolpert energiegeladen im Lauftempo bergauf und bergab. Ein junges Ehepaar erzählt uns, dass die Shvilwanderung, ohne Unterbruch bis nach Eilat, ihre Hochzeitsreise ist. Mit zwei Männern nehmen wir im Gehen ein Gespräch auf, welches sich schnell vertieft und erst einige Zeit und viele Kurven später stellen die beiden fest, dass sie ihre Frauen und Familien irgendwo zurückgelassen und vergessen haben. 


Die drei am Anfang nur oberflächlich bekannten Wanderpartnerinnen sind mir mit jedem Schritt vertrauter und schlussendlich zu lieben und geschätzten Kameradinnen geworden. Ich musste mich nach vier bereichernden Tagen leider verabschieden, ich wurde an der Arbeit zurückerwartet. Die Kolleginnen wanderten noch die Shvil-Abschnitte fünf und sechs weiter. Ich war in Gedanken bei ihnen während sich meine wunden Füsse unter dem Bürotisch erholten. Sobald die Blasen verheilt waren, suchte ich ein passendes Geschäft auf und gab für neue Wanderschuhe ein Vermögen aus. Bestimmt würde ich diese bald gebrauchen, wenn ich die weiteren Shvil-Abschnitte unter die Füsse nehmen werde.

Ein Grafitti am Weg: Corona hat uns nicht aufgehalten




Samstag, 24. Oktober 2020

Lichtblicke

Das vermaleidete Virus hat uns fest im Griff. Wie kleine Nussschalen werden wir auf einem stürmischen Meer der Unsicherheit erbarmunglos von Welle zu Welle geworfen. Es bleibt uns nur, uns festzukrallen und zu hoffen, nicht über Bord oder gleich mitsamt der Schale unter zu gehen – wenigstens bis der Sturm sich wieder legt.  

Die Stube - der Hauptschauplatz
In Israel haben wir gerade die zweite Welle hinter uns, das zweite Lockdown. Wieder habe ich fast einen Monat, davon viele Feiertage, zwischen Küche, Stube und Heimbüro verbracht. Wie klein meine Welt geworden ist, wurde mir erschreckend bewusst, als das Entsorgen des Altpapiers an der Sammelstelle nur wenige Meter von unserem Haus entfernt zum aufregenden Erlebnis wurde.


Nun sinken bei uns die Fallzahlen und wir dürfen uns wieder frei bewegen, was ich auch in kleinen vorsichtigen Raten tue. Schulen, Restaurants, Kinos und Läden (ausgenommen Lebensmittel) bleiben weiterhin geschlossen, aber auch ohne sie gibt es Möglichkeiten für kleine Ausbrüche aus den vier Wänden. Die kleinen Inseln der Normalität sind nun unendlich geschätzt. Ich finde in diesen Tagen kaum mehr Worte für irgendetwas, bestimmt nicht, um Blogbeiträge zu schreiben. Aber es gibt Lichtblicke, Momente der Ruhe, der Freude, der Schöhnheit.

Unsere Pergola zum Laubhüttenfest


"Cafe ve Yam" (Kaffee und Meer) im Navi eingeben und schon sind Sie da!


Le'Chaim! Prost!


Heute morgen beim SUP - die Stadt im Hintergrund versinkt nicht im Smog, sondern im herbstlichen Morgennebel




Sonntag, 9. August 2020

Tropf, tropf, tropf...


Ohne künstliche Bewässerungsanlagen geht in israelischen Pärken und Gärten überhaupt nichts. Die Sommermonate sind niederschlagsfrei und wer grünen Rasen und saftige Sträucher will, muss bewässern. Deshalb gibt es auch in unserem kleinen Gärtchen ein computergesteuertes System von Sprinklern und Tröpfchenschläuchen. Notgedrungen habe ich mir ein umfangreiches Fachwissen angeeignet, was Rasensprinkler und Bewässerungscomputer anbetrifft. Aber als mir eines Morgens das Eisenkraut und der Rosmarin welk und kraftlos entgegenblicken und ich trotz längerer Suche kein Leck finde, bin ich ratlos. Der Computer funktioniert erwartungsgemäss und der Garten auf der linken Seite ist saftig-feucht, aber auf der rechten Seite bleibt der Tröpfchenschlauch trocken. Natürlich bin ich Fachfrau genug um zu verstehen, dass irgendwo etwas auf den Schlauch drückt, aber die Problemstelle in dem komplizierten System zu finden, das zum grössten Teil unter Pflanzen und Sträuchern liegt, übersteigt mein Können.

Leider habe ich auch keine Zeit, den ganzen Sommer über jeden Tag den Garten mit dem Schlauch zu bewässern, also muss ein Fachmann her. Nun ist es mit den Fachleuten in Israel so eine Sache – weil sie sich nämlich nach Lust und Laune einfach selbst so benennen, auch wenn sie die grössten Scharlatane sind. Um dem Abhilfe zu schaffen, wurde das Portal „Midrag“ ins Leben gerufen. Auf Midrag, übersetzt Bewertung, kann man Fachleute auswählen, die von Kunden mit einem Punktesystem bewertet werden. Die Telefonnummern der Dienstanbieter sind nur einsichtlich, wenn man sich verpflichtet, später ebenfalls eine Bewertung abzugeben. Ich rufe die beiden am besten bewerteten Bewässerungsexperten an und warte auf ihren Besuch.

Yossi kommt drei Stunden nach meinem Anruf vorbei, schätzt das Problem ein und macht einen Kostenvoranschlag von 800 Schekeln für den halben Garten oder 1200, wenn ich sämtliche Schläuche erneuern möchte. Yossi macht einen seriösen Eindruck, aber leider weiss ich, dass auch ein Portal wie Midrag in dieser Welt von improvisierten Problemlösungen und überzogenen Fantasiepreisen kaum Ordnung schaffen kann, deshalb hole ich mir eine Zweitmeinung ein. 

Eli kommt zwanzig Minuten, bevor ich aus dem Haus muss. Er schreitet mit selbstsicheren Schritten und voller Tatendrang durch meinen Garten. Dann steht unerwarteterweise auch noch sein Partner auf dem Rasen, er trägt eine grosse Rolle Tröpfchenschlauf auf der Schulter. Die beiden fachsimpeln untereinander und reissen an den Schläuchen in meinem Garten. Ich sehe, dass Eli kaum zu bremsen ist und bitte ihn eindrücklich, nichts zu unternehmen, ohne mich vorab über die Kosten zu informieren. Kein Problem! versichert er, und schon erscheint in meinem Garten ein dritter Arbeitskollege mit einer grossen Schneidezange. Ich muss dringend weg, sage ich, bitte mach mir doch einfach einen Kostenvoranschlag. Mach dir keine Sorgen!, beteuert Eli mit einem charmanten Lächeln, wir prüfen nur, wo das Problem liegt. 

Dann geht es ruckzuck, der Kollege schneidet mit seiner Zange das komplizierte Schlauchsystem an mehreren Stellen durch, legt einige neue Stücke ein, verbindet hier mit da und schon fliesst das Wasser im Schlauch in starkem Strom auch im trockenen Teil des Gartens. Die Tröpfchen sprudeln, dass es eine Freude ist. Das Eisenkraut lacht mich erleichtert an, Eli sagt, das macht dreihundert Schekel und seine Kollegen packen die Zange und den Restschlauch wieder ein. Ich habe keine Ahnung, was da gerade passiert ist, aber die Bewässerung funktioniert einwandfrei und ich komme doch noch rechtzeitig zu meinem Termin. Einfach dreihundert Schekel ärmer. Wie ich diese  zweifellos zügige und professionelle  Überfallaktion auf dem Portal bewerten soll, muss ich mir noch überlegen.

Donnerstag, 6. August 2020

Fest der Liebe


Gestern war Tu B’Av, ein kleiner jüdischer Feiertag, der in der Nacht zwischen dem 14. und 15. Tag des Monats Av beginnt, einer Vollmondnacht. Tu B'Av gilt als Freudentag und wird im modernen Israel als Fest der Liebe gefeiert. Viele Paare begehen diesen Tag mit einem romantischen Essen oder man beschenkt sich mit Blumen oder kleinen Aufmerksamkeiten. Bei uns ging das Fest nach einem intensiven Arbeitstag ziemlich sang- und klanglos über die Bühne. Aber immerhin habe ich mir etwas Gedanken gemacht, während wir ganz unromantisch auf dem Sofa dahindösten. Dabei handelt es sich aber nicht etwa um eine Formel für langjährige Partnerschaften oder gar eine grosskotzige Definition für den wohl unumschreiblichen Begriff Liebe. Eher vage Gedanken. Worauf beruht Zuneigung? Was verbindet zwei Menschen, die oft total verschieden sind? Was hält gewisse Paare zusammen? Und warum trennen sich andere, die doch eigentlich zusammenpassen sollten?

Mit meinem Gatten und mir, zum Beispiel, verhält es sich wie mit der Hummel, die ja bekanntlich nach den Gesetzen der Aerodynamik nicht fliegen kann. Sie denkt aber einfach nicht zuviel darüber nach. Deshalb fliegt sie trotzdem.
Eyal und ich passen überhaupt nicht zusammen. Ein Verkuppler hätte bestimmt in jeder Hinsicht von dieser Verbindung abgeraten, die vor 35 Jahren ihren Anfang nahm. Mit welch verschiedenen Ansatzpunkten wir das Leben in Angriff nehmen, ist mir erst letztes Wochenende wieder aufgefallen:

Ach! Ich habe soviel zu tun, ich weiss gar nicht womit ich anfangen soll! Ich werde das ganze Wochenende arbeiten müssen! Ich weiss vor lauter Arbeit nicht wo mir der Kopf steht! – jammert ER schon kurz nach dem Aufstehen.
Dann geht er an den Strand, wo er mit seinen Männerfreunden den Morgen beim Baden und Plaudern verbringt. Wenn es gegen Mittag zu heiss wird, kommt er nach Hause und liest in der kühlen Stube drei verschiedene Zeitungen. Nach dem Mittagessen erholt er sich bei einem ausgiebigen Nickerchen von der Arbeit, die auf seinen Schultern lastet.

Ich hingegen stehe am Morgen auf, giesse mir einen ersten Kaffee ein und freue mich auf den Tag. Ach wie schön! Ein ganzes Wochenende liegt vor mir und ich habe überhaupt keine Verpflichtungen! Dann gehe ich noch vor dem Morgenessen eine längere Runde Joggen, erledige die Wäsche, räume den Geschirrspüler aus, giesse die Pflanzen im Garten, backe einen Zopf und einen Kuchen und bringe das Altpapier und das Altglas weg. Bis zum Nachmittag habe ich die Gartenmöbel abgefegt, das Badezimmer geputzt, die Wäsche verräumt, ein viergängiges Menu gekocht und die Küche wieder auf Vordermann gebracht. Zum Ausruhen stricke oder blogge ich eine halbe Stunde, dann reinige ich die Kaffeemaschine, mähe den Rasen und beziehe das Bett frisch.

Gegen Abend treffen wir uns auf dem Sofa, ich müde und zufrieden über ein Wochenende ohne besondere Verpflichtungen, er beim Patience legen und gelähmt von der Last der Arbeit, die immer schwerer auf sein Gewissen drückt.

Er und ich sind die unterschiedlichsten Persönlichkeiten, die man sich erdenken kann. Angenommen, ein Charakterprofil besteht aus 34,751 Punkten, dann habe ich auf dieser Erde die Person gefunden, die in jedem einzelnen der 34.751 Punkten mein extremstes Gegenstück ist.

In seiner Welt gibt es nur schwarz und weiss – ich sehe alles nicht nur in unzähligen Farben sondern auch aus einer 360 Grad Rundherumsicht.

Er ist zielorientiert – ich lebe im jetzt und heute.

Ich bin sinnlich, geniesse es zu riechen, zu fühlen, zu hören – für ihn zählen nur Zahlen und Fakten.

Ich esse und trinke gerne – ihm ist es egal womit er den Hunger stillt. Alkohol mag er gar nicht.

Er ist ein Spieler: Schach, Sudoku, Whist, Canasta, Backgammon – für mich sind Spiele eine unverständliche Qual.

Er sammelt jedes Stück Papier und hortet alles, das man irgendwann noch brauchen könnte – ich schmeisse alles weg.

Ich liebe Tiere: Katzen, Hunde, Vögel, interessante Insekten, alles was kreucht und fleucht – für ihn sind Tiere ärgerliches Ungeziefer, gleichzusetzen mit Ratten oder Kakerlaken.

Ich bin handwerklich begabt, kann malen, zeichnen, basteln, stricken, häkeln – er bringt keinen geraden Strich aufs Papier.

Er ist bei gesellschaftichen Anlässen der Mittelpunkt, der immer einen Witz und den richtigen Satz für jeden parat hat – ich bin gerne alleine. In Gesellschaft verstumme ich und wenn ich etwas sage, ist es meistens das Falsche.


Ich könnte diese Liste ins Unendliche fortführen. Wir sind Erde und Luft, Wasser und Feuer, Tag und Nacht, Südpol und Nordpol, Yin und Yang. Am besten denkt man wohl einfach nicht zuviel nach, weder über Aerodynamik noch über die Liebe. Sonst stürzt man ab.

Tu B’Av sameach! Ein schönes Fest der Liebe!

Dienstag, 21. Juli 2020

Balagan

In Israel verläuft auch im „Normalzustand“ nichts in ruhigen oder geordneten Bahnen. Immer brodelt es, manchmal mehr, manchmal weniger. Man gebe eine Prise Corona dazu und schon kocht der Topf über. Momentan herrscht das totale Chaos. In der Nacht vom Donnerstag auf Freitag erliess die Regierung eine Reihe von Massnahmen, um die Corona-Ausbreitung einzudämmen. Restaurants sollten ab Freitagabend und Strände ab nächste Woche geschlossen bleiben. Umgehend gingen die Restaurantbesitzer auf die Barrikaden, denn sie hatten sich schon mit Vorräten für das Wochenende eingedeckt. Einen Tag später gab die Regierung nach und den Restaurants wurde eine Frist bis am Dienstag eingeräumt. Am Montag wurde darüber diskutiert, diese Massnahme überhaupt zu annullieren und am Dienstagmorgen wurde verkündet, dass die Restaurants jetzt doch geschlossen werden müssen. Am Dienstagabend hingegen wurde wieder das Gegenteil bekanntgegeben. Kurzum, Zigtausende Restaurantangestellte – darunter meine Tochter – müssen sich jeden Tag nach dem Aufstehen zuerst informieren, ob sie noch eine Arbeit haben oder nicht. Immerhin, die Strände bleiben jetzt – laut neuestem Entschluss – doch geöffnet, also können die Arbeitslosen wenigstens baden gehen. Vor einigen Tagen streikten die Sozialarbeiter/innen, weil sie zu wenig Lohn erhalten, dann streikten die Krankenschwestern und das Pflegepersonal, weil Personalknappheit herrscht. Es gibt Tausende von Arbeitslosen und alle wollen Geld. Mir scheint, ich bin noch eine der Wenigen, die das Privileg haben, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Kein Wunder, gehen jeden Monat vierzig Prozent von meinem Lohn direkt für Steuern ab.

Bei diesem Balagan (= Durcheinander. Eines der ersten Worte das Sie im Hebräischunterricht lernen werden) bleibt man am besten zu Hause und hört keine Nachrichten mehr.

Schon kurz nach neun Uhr morgens komme ich aus der Gärtnerei zurück, wo ich einige Pflanzen für unseren Vorgarten gekauft habe. Ich mache mich gleich ans Umpflanzen, denn um halb elf muss ich für eine geschäftliche Besprechung ins Heimbüro. Unser Vorgarten liegt am Morgen in der prallen Sonne und wenige Minuten nachdem ich in der Erde zu wühlen begonnen habe wird mir klar, dass es ein höchst unangenehmes wenn nicht sogar gefährliches Verfangen ist, an einem Julimorgen in der Sonne Gartenarbeit zu verrichten. Die Hitze treibt mir umgehend den Schweiss aus den Poren und mir wird jedesmal schwindlig, wenn ich mich erhebe. Um nicht ohnmächtig zu werden, gehe ich alle paar Augenblicke ins schattige Haus und trinke kaltes Wasser, bis ich fertig gepflanzt habe. Dann lasse ich die Sträucher mit ungutem Gefühl in ihren Töpfen an der Sonne stehen. Ich hoffe, dass die Pflanzen nicht so empfindlich sind wie ich und dass sie mir die Hitze verzeihen werden. Ich flüchte mich nach drinnen, wo ich mir die durchgeschwitzten Kleider vom Leib reisse und mich mit einer kalten Dusche abkühle. Dann erhole ich mich im Heimbüro von der Sonne und der Hitze.

Gegen Mittag wird meine Online Supermarkt-Bestellung geliefert. Ich bin froh, dass ich drinnen bleiben kann und versorge die Männer, die in der Hitze meine Ware anschleppen, mit kaltem Wasser. Beim Verräumen der Vorräte entdecke ich mit mulmigem Gefühl, dass die Fünziger-Packung Einweg-Mundschutzmasken, die ich bestellt habe, aus China kommt. Vielleicht schnellt bei uns gerade wegen der Maskenpflicht die Zahl der Neuerkrankungen in astronomische Höhen? Vielleicht streuen uns die Chinesen Corona-Pulver auf die Masken bevor sie sie verschiffen? Und vielleicht habe ich jetzt doch einen Sonnenstich. Schnell lege ich die Masken in den Schrank und die Verschwörungs-Gedanken beiseite.

Gegen 14 Uhr muss ich leider noch ein weiteres mal nach draussen, Lianne hat heute einen ersten Arbeitstag, oder wohl eher einen Schnuppertag, als Hilfskraft im Tante-Emma-Laden unseres Dorfes. Der Laden liegt zwar kaum einen halben Kilometer weit von uns entfernt, aber bei dieser Hitze schickt man keinen Hund nach draussen – also fahre ich sie hin. Das Thermometer im Auto zeigt zwar nur 32 Grad, aber gefühlt hat es in der Blechkiste über 40, obwohl sie im Schatten steht. Ich öffne schleunigst die Fenster und stelle die Klimaanlage auf volle Stärke. Wir fahren mit geöffneten Fenstern los und wenn ich könnte, würde ich auch die Türen offen lassen. Der Fahrtwind bläst wie ein heisser Föhn und wir kommen mit zerzausten Haaren und roten Köpfen im Laden an. Willkommen israelischer Sommer! Und viel Erfolg Lianne!

Am Nachmittag kommt Sivan zu Besuch. Das höre ich, wenn sie in die Kurve zu unserer Strasse einbiegt, denn sie hat die Musik im Auto auf volle Lautstärke gedreht und der Bass dröhnt schon aus weiter Ferne in meinen Eingeweiden. Wie immer fährt sie sehr sportlich und mit quitschenden Bremsen in die Einfahrt vor unserem Haus. Dann höre ich sie an der Haustüre fummeln, sie rennt in die Küche, giesst ein grosses Glas Wasser ein, nimmt mir im Vorbeigehen den Schnitz Wassermelone aus der Hand, den ich eben anbeissen wollte und eilt wieder nach draussen. Ich schlucke leer und spähe erstaunt und neugierig aus dem Küchenfenster. Was ist denn da los? Sivan spricht mit dem Strassenfeger. Dieser trinkt gierig und labt sich an meiner Melone. Hmmm, so mitfühlend kenne ich meine Tochter gar nicht.
„Schön, was du da gemacht hast“, sage ich zu ihr, als sie zum zweiten Mal und nun etwas ruhiger eintritt. „Bestimmt hat sich der Mann gefreut.“
„Nun, das war ich ihm schuldig“, antwortet sie "– nachdem ich ihn beinahe überfahren habe!“

Ein ruhiger Moment am Meer

Mittwoch, 15. Juli 2020

Spuren im Sand

Zwölf obligatorische Schuljahre sind abgeschlossen. Auch die Jahre bei den Pfadfindern, in welchen meine Tochter seit der dritten Klasse mit den Kindern unseres Dorfes enge Freundschaften schliessen konnte, sind für ihren Jahrgang nun zu Ende. Aber während meine älteren Kinder zu dieser Zeit wochenlang mit Vorbereitungen für die grosse Schulabschlussfeier und für das letzte Pfadfinderlager beschäftigt waren, verläuft dieses Jahr alles sang- und klanglos und ohne Abschluss. Wie Spuren im Sand: vom Winde verweht, als wäre alles nie dagewesen. Keine aufwändige Feier in der Schule mit Schülern, Eltern und Lehrpersonal. Keine feierliche Zeugnisübergabe. Keine aufregende Promfeier, für welche die Jugendlichen in anderen Jahren für einen kurzen grandiosen Auftritt viel Geld für übertriebene Roben, Schminke und Frisuren ausgeben. Das letzte Pfadfinderlager, in welchem die Kinder mit der Tradition gewordenen „Tränen-Parade“ von ihren Kollegen Abschied nehmen, fällt ins Wasser. Sogar die bescheidenere Alternative, sich für einige Tage im örtlichen Jugendzentrum zu treffen, wird abgesagt. Einige der Kinder haben sich mit dem Virus angesteckt, Viele sind in Quarantäne. Die Pläne für eine Reise mit Freundinnen nach Spanien sind endgültig begraben. Genauso wie die Feier des gesamten Dorfes, in welcher in „normalen“ Jahren der Schulabschluss und die Aufnahme ins Militär der Jugendlichen eines jeden Jahrgangs zelebriert werden. Der grosse Rucksack, den die Jugendlichen jeweils vom Gemeindepräsidenten in einer aufregenden Zeremonie überreicht bekommen, lag gestern plötzlich einfach im Hauseingang. Ich habe keine Ahnung wie er dahin gekommen ist, so still, leise und unbemerkt und es berührt mich traurig, dass er ohne die Zeremonie nichts weiter als ein lumpiges, unscheinbares und billiges Stück Stoff ist.
Viele Jugendliche unserer Schule machen vor dem obligatorischen Militärdienst in verschiedenen Ämtern ein Freiwilligenjahr, aber all diese Initiativen sind jetzt in Gefahr. Einige Freundinnen sollten als Delegierte der jüdischen Agentur für ein Jahr in die USA oder nach Südamerika abgsandt werden. Ob sie jetzt noch in diese Corona-Hotspots reisen können oder wollen? Etwa die Hälfte der Pfadfinderabgänger aus unserem Dorf haben sich verpflichtet, freiwillig ein Jahr für diese Jugendorganisation zu arbeiten. Aber sogar das könnte nun auf Eis gelegt werden, denn der Staat droht die finanzielle Unterstützung der Pfadfinderbewegung im kommenden Jahr einzustellen. Jetzt muss überall gespart werden und eine Organisation zu unterstützen in welcher Corona-bedingt kaum Aktivitäten stattfinden, scheint sinnlos.

Was empfinden Jugendliche, die nun gezwungenermassen in dieser unsicheren Zeit zu Hause herumhängen? Wie blicken sie in die Zukunft, wenn die Gegenwart nur aus Enttäuschungen, Angst und Ungewissheit besteht?

Nur etwas rückt unwiederruflich näher: der Einberufungsbefehl der Armee. Aber als wäre mit allen Enttäuschungen nicht genug, empfindet Lianne die Funktion, welche das Militär für sie vorgesehen hat, als Riesendämpfer. Sie fühlt sich völlig verkannt, das Amt entspricht weder ihrem Charakter noch ihren Fähigkeiten. Die zweijährige Militärpflicht ist an sich schon eine recht bedrohliche Herausforderung, wenn diese dann noch mit einer unpassenden Funktion einhergeht, sind das recht betrübliche Aussichten für den Verpflichteten. Auch das Datum – schon Anfang August, nur zwei Wochen nach der letzten Abschlussprüfung – kommt für sie viel zu schnell. Sie wollte doch noch wenigstens ein bisschen Freiheit von einschränkenden Institutionen schnuppern, nachdem sie sich nach zwölf Jahren Schule gleich in eine weitere Einrichtung ohne freie Entfaltungsmöglichkeit wird schicken müssen. Viele Tränen fliessen bei uns in diesen Wochen. Auch ich weiss schon bald nicht mehr, wo ich die Kraft hernehmen soll, meine Kinder in dieser unheilvollen Zeit aufzumuntern. Lianne ertrinkt in Selbstmitleid. Und ich mit ihr, weil ich als Mutter immer noch mit meinen Babies mitleide, wobei es keine Rolle spielt, dass das Baby schon achtzehn Jahre alt ist. Aber dann erinnere ich mich meiner Rolle als verantwortlicher Erwachsener und versuche sie zu motivieren. Ich erzähle ihr, dass auch in meinem Leben nicht immer alles so verlaufen ist, wie ich es mir vorgestellt oder gewünscht hätte, dass aber hinterher immer Alles sein Gutes hatte. Auch aus den unwillkommensten Schicksalsschlägen haben sich rückblickend erfreuliche Dinge entwickelt oder wenigstens wichtige Lektionen ziehen lassen. Wenn eine Türe zugeht, ist noch immer irgendwo eine andere aufgegangen, das habe ich immer wieder selbst erfahren. Lianne ist immer noch eher frustriert als überzeugt aber sie ahnt, dass sie im Moment an der unpassenden Einteilung wohl kaum etwas ändern kann.

Auf ein Ziel will sie aber auf keinen Fall verzichten: Noch vor dem Militärdienst möchte sie unbedingt ihre Augen lasern lassen. Dazu muss das Einrückdatum verschoben werden. Starke Kurzsichtigkeit ist eine echte Belastung im Alltag, vor allem wenn man im Dienst bei Feldbedingungen in nur fünf Minuten aus dem Schlaf fertig angezogen Parade stehen soll. Da bleibt für Kontaklinsen-Kram keine Zeit.

Aber das Militär, dieses undurchdringliche und träge System, hat für die Problemchen eines kleinen Mädchens kein Gehör. Lianne schreibt täglich Anträge und bittet um Verschiebung des Datums. Per Mail, WhatsApp und am Telefon legt sie ihre Bitte unzählige Male dar. Sie schreibt, dass sie wegen ihrer Kurzsichtigkeit eingeschränkt ist, dass sie Ende August einen Termin für die Laserbehandlung hat und dass die Erholung im Fall ihrer komplizierteren Operation bis zu einem Monat dauern kann. Doch im israelischen Militär scheint man andere Sorgen zu haben. An der zuständigen Stelle antwortet kaum jemand oder nur nach langer zermürbender Warterei. Wenn doch einmal jemand abnimmt, ist es meist eine Soldatin, deren Aufgabenbereich darauf begrenzt zu sein scheint, den Telefonhörer in der Hand zu halten. Niemand weiss etwas, niemand kennt jemanden, niemand kann jemanden erreichen, niemand kann helfen. Das unverrückbare Datum kommt drohend und unaufhaltsam näher. Dann trifft eine überraschende und unlogische Nachricht vom zuständigen Amt ein: „Malschabit jekara (Anrede für eine für den Sicherheitsdienst vorgesehene Frau), deine Bitte auf Änderung des Anforderungsprofils wird abgelehnt, dein Eintrittsdatum bleibt unverändert 6. August.“ Als Lianne anruft und nach nervenaufreibenden langen Minuten endlich jemanden am Telefon hat, stellt sich heraus, dass ihr Gesuch wohl aufgrund einer Verwechslung mit der Bitte einer anderen Soldatin abgelehnt worden ist. Lianne ist einem Nervenzusammenbruch nahe. In Tränen aufgelöst sieht sie sich schon wegen Dienstverweigerung als letzte Möglichkeit im Militärgefängnis.

Beim Militär irgendeinen Wunsch oder eine Änderung bewilligt zu bekommen, grenzt ans Unmögliche, es sei denn, man kennt eine Person an der entscheidenden Dienststelle. Da sich aber das ganze Personal in ständiger Rotation befindet, findet man eher eine Nadel im Heuhaufen als jemanden, der zur richtigen Zeit im richtigen Amt ist. Doch dann kommt Lianne freudig erregt von einem Pfaditreffen nach Hause: einer der Kollegen vom älteren Jahrgang, der gerade seinen Dienst absolviert, kennt einen Offizier aus dem Nachbarsdorf, der helfen könnte. Über mehrere Mittelmänner wird die vielversprechende Telefonnummer in Erfahrung gebracht, dann erklärt sie dem Offizier Ran ihr Anliegen.

„Wie wär’s mit Ende November?“, kommt dieser direkt zur Sache.
„Ja super!“ antwortet Lianne, nicht sicher ob sich der junge Mann einen Spass auf ihre Kosten erlaubt.
Und dann, als wäre es das Natürlichste der Welt, trifft schon am nächsten Morgen die Nachricht ein: „Malschabit jekara, dein Dienstdatum ist auf den 25. November verschoben worden.“ Immerhin ein Lichtblick! Jetzt bleibt nur noch zu hoffen, dass sich die Zeiten bis dann etwas normalisieren.

Donnerstag, 9. Juli 2020

Weisses Haar und weisse Zähne

In den letzten Märztagen, als ich vor dem Lockdown noch zum letzten mal ins Büro fuhr, liess ich spontan den Friseurtermin sausen, der noch in meinem Kalender vermerkt war. Warum jetzt noch die Haare färben, fragte ich mich, wo doch die totale Apokalypse, oder doch sicher einige unheilvolle Monate vor uns standen. In den darauffolgenden Wochen ohne soziale Kontakte liess ich meine natürliche Haarfarbe mutig spriessen.

Unterdessen sind vier Monate vergangen und als es kürzlich gerade so aussah, als würden wir demnächst unseren gewohnten Alltag wieder aufnehmen, begann ich das Wachstum meiner Haare täglich ungeduldigst und milimeterweise herbeizufiebern. Mir gefällt das ungewohnte Grau, aber die Übergangszeit, in welcher rund um den Scheitel ein grauer Balken trohnt, während die ehemals gefärbten Haare immer undefinierter und bleicher werden, ist schwer zu ertragen. Müsste ich im Moment meine Haarfarbe definieren, wäre wohl Uringelb der am besten passendste Ausdruck.

„Oh, mais c’est dégueulasse! Es ist eine Katastrophe! Das kannst du dir unmöglich antun!“ meint mein französisch-stämmiger Friseur zum grau-gelben Fiasko auf meinem Kopf, als ich meine Haare etwas kürzen lasse. Er hat ja recht, mein Aussehen ist im Moment wirklich kaum zu verantworten. Dank der zweiten Welle darf ich aber zum Glück weiterhin noch etwas zuhause bleiben und ich ertrage so die temporäre farbliche Katastrophe etwas besser. Der einizige soziale Anlass, für den ich im letzten Monat das Haus verlassen musste, war eine Beerdigung, und da trug ich, weil die Zeremonie an der prallen Sonne stattfand, einen Sonnenhut.

Allzu alt und vernachlässigt möchte ich aber doch nicht aussehen und bei einem Blick in den Spiegel auf der Suche nach möglichen Verbesserungen beschliesse ich, meine Zähne aufhellen zu lassen. Leider bin ich von der Natur, was die Farbe meiner Zähne anbetrifft, nicht gerade gesegnet. Meine Zähne sind fast so gelb wie mein Haar, aber nicht Uringelb, sondern eher so ein schmutziges Maisgelb. Soviel Gelb steht keinem Mensch! Das scheint sogar für meine Zahnversicherung ein Grund zu sein, die rein ästhetische Behandlung zu bewilligen. Sie übernimmt zwei Drittel der Kosten und sobald die Corona-Beschränkungen etwas gelockert werden, melde ich mich beim Zahnarzt an. In der Zahnarztpraxis wird nach einem Abdruck meiner Zähne eine Silikonform angefertigt. In diese Form gebe ich nun abends ein Bleichmittel und gehe damit schlafen. In der ersten Nacht schlafe ich sehr unruhig. Die weiche und genau aufliegende Form ist zwar kaum spürbar, aber ich träume, dass mir das Mittel die Zähne zerfrisst. Aber die schlaflose Nacht lohnt sich. Am Morgen danach wache ich mit blendend weissen Zähnen auf! Na ja, natürlich übertreibe ich wieder einmal masslos, aber das Gelb weicht tatsächlich Morgen für Morgen einem etwas strahlenderen Ton und eines wunderschönen Morgens begrüsse ich stolz eine Reihe (fast) WEISSER Zähne. Nun noch etwas roter Lippenstift... Ich bin begeistert!

Wie finden Sie meine Zähne?

Dienstag, 23. Juni 2020

Ein Kraut das Generationen verbindet


Eine Gürtelrose ist eine höchst unangenehme Infektionskrankheit. Sie wird durch die gleichen Viren verursacht wie Windpocken, welche nach einer Erkrankung – meist im Kindesalter – im Körper verbleiben, bis ihnen das Immunsystem eine Chance gewährt, sich erneut zu vermehren. Dann treten, meist im Brustbereich, schmerzhafte Blasen auf. Oft wird eine Gürtelrose bei Stress hervorgerufen.

Kein Wunder, dass meine Schwiegermutter an einer zünftigen Gürtelrose erkrankt. Einen rund um die Uhr pflegebedürftigen Mann zu haben, ist eine unmenschliche Bürde, besonders für eine kontaktfreudige Frau, der es am besten geht, wenn viel los ist, wenn sie es lustig hat und sie von Leuten umgeben ist. Seit unzähligen Jahren schon hat sie aber nur diesen kranken Mann um sich, der rund um den Tag ans Bett und an den Rollstuhl gebunden ist. Seit bei Savta (hebräisch für Grossmutter) eine Gürtelrose ausgebrochen ist, leidet sie ununterbrochen an starken Schmerzen und die Corona-bedingte Isolation schien einer möglichen Besserung den Todesstoss zu versetzen. Jetzt hockte sie erst recht fest in ihrer Wohnung, zusammen mit ihrem klagenden Mann und seinem Pfleger, der ihn mehrmals täglich von einem Liegeort zum anderen hievt. Bald kam auch meine Schwiegermutter kaum noch aus dem Bett, denn die Schmerzen im Oberkörper wurden von Tag zu Tag unerträglicher.

Eine Odyssee zu allen nur erdenklichen Spezialisten, unzählige Experimente mit Schmerzmitteln aller Stärkegrade und mehrere Versuche mit Alternativmedizin schienen ebenfalls keine Besserung zu bringen. Die gute Frau litt und wurde von Tag zu Tag deprimierter. Als irgendjemand Cannabis erwähnte, war sie skeptisch, denn sie hatte ja schon alles versucht und jegliche Hoffnung verloren. Aber das vielverheissende Kraut wurde bei der Krankenkasse beantragt und bewilligt.

Überraschenderweise trudelten gleichzeitig mit der ersten Lieferung des Wundermittels fast alle erwachsenen Enkel ein, die während dem Corona-Shutdown ferngeblieben waren. Nun erinnerten sie sich wieder ihrer Grosseltern, und während noch vor Kurzem das Virus eine willkommene Ausrede bot, um fernzubleiben, brannten nun alle plötzlich darauf, die Grosseltern zu besuchen. Die Enkel bewunderten die Lieferung, eine Handvoll sauber gerollter Joints für die kommende Woche. Umgehend liessen sie den ersten Joint kreisen, lachten über Savta, die nur einmal zögernd daran zog und verbrachten zusammen einige lustige Stunden. Am nächsten Tag tauchte ein professioneller Instrukteur der Cannabis-Firma auf und wies das Grosi geduldig in die Zubereitung und das richtige Rauchen der Joints ein. Die Jungen staunten nicht schlecht – da war jemand tatsächlich schlauer als sie! Nicht nur schien er auf dem Gebiet ein beachtenswertes Wissen zu haben, er machte aus der Raucherei sogar eine bezahlte Vollzeitbeschäftigung!

Nun geben sich die Enkel bei meinen Schwiegereltern die Klinke in die Hand. Der Gedanke, dass das Grosi in einer Schublade reines Cannabis ansammelt, während sie auf dem illegalen Markt für weniger starkes Zeug Unsummen hinblättern, bringt die Jungen auf kreative Ideen. Fast täglich kommen sie bei den Schwiegereltern zusammen und übertreffen sich mit Einsatzbereitschaft für die Senioren. Sie essen und reden mit ihnen, spielen mit ihnen Karten und gehen für sie einkaufen. Bei allem Eifer vergessen sie nicht, immer schön nach Krümeln Ausschau zu halten.

Meiner Schwiegermutter geht es schon merklich besser. Die Schmerzen haben deutlich nachgelassen – obwohl Grosi das Kraut nach den ersten Versuchen nicht mehr angerührt, sondern in einer gut versteckten Schublade weggesperrt hat.

Montag, 15. Juni 2020

Es hat Schaum drin

Vor einigen Jahren, anlässlich einer kurzen Geschäftsreise nach Deutschland, ass ich mit einer Mitarbeiterin dunkler Hautfarbe aus Amerika zu Mittag. Beim Dessertbuffet war die Kollegin besonders neugierig auf einen Schaumkopf. Sie kannte das Dessert nicht und man erklärte ihr, dass es mit Eiweissschaum gefüllt war. Sie erlag der süssen Versuchung und legte sich ein Paradestück auf einen Teller. Zurück am Tisch erwähnten einige unverfrorene Mitarbeiter die Thematik des nicht mehr ganz zeitgemässen Namens für das Schoko/Schaum-Gebäck. Und während Jacintha nun die Ausdrücke Negerkuss und Mohrenkopf mit starkem amerikanischem Akzent spielerisch auf der Zunge rollte, verzehrte sie genüsslich den Schaumkopf – mit Messer und Gabel! Diese lustige Szene ist mir wieder in den Sinn gekommen, als ich entdeckte, dass das Thema in den letzten Tagen in der Schweiz die (Mohren-) Köpfe heisslaufen lässt.

Worum geht es? Der Grossverteiler Migros hat beschlossen, in einigen Filialen die Dubler-Mohrenköpfe aus dem Sortiment zu nehmen, weil der traditionelle Namen von einigen Bevölkerungsgruppen als diskriminierend empfunden wird, die Firma Dubler sich aber weigert, ihre Markenware umzubenennen.

Seit dem Entschluss der Migros, die anstössigen Schaumköpfe aus dem Regal zu nehmen, ist die Debatte über das M-Wort zu einem der wichtigsten Tagesthemen geworden. Unzählige Artikel und Glossen darüber füllen die Zeitungen. Die Kommentarspalten in den sozialen Netzen quellen über. Während Amerika brennt über der Rassimus-Debatte, streiten Herr und Frau Schweizer über den Namen einer Süssigkeit. Bei dem ganzen „Gschiss“ darf natürlich auch meine Meinung nicht fehlen.

Schon etwas länger als die Meinungsverschiedenheiten über den Namen Mohrenkopf – genauer genommen seit den verschiedenen Einwanderungswellen der Juden aus allen Himmelsrichtungen Anfang des letzten Jahrhunderts – gibt es in Israel eine Debatte über die Benachteiligung bestimmter Ethnien. Obwohl die Kluft zwischen Mizrahim (Juden aus östlichen Ländern und Spanien) und Ashkenazim (Juden aus westeuropäischen Ländern) in den vergangenen Jahren bestimmt geringer geworden ist, sind viele Israelis überzeugt, dass die Mizrahim immer noch diskriminiert werden. Auch für meinen Mann Eyal, Sohn irakischer Juden, ist es offensichtlich, dass Mizrahim heute noch in allen Sektoren des öffentlichen Lebens, der Akademie, dem Justizwesen, sowie auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden. Schon öfters habe ich ihn erbittert Beispiele von ungerechter Verteilung von Ämtern oder Stellen aufzählen hören. Er ist leidenschaftlich davon überzeugt, dass die Ashkenazim nach allen Möglichkeiten an einer gesellschaftlichen Elitestellung festhalten und dass den Mizrahim in Israel nicht die gleichen Chancen gewährt werden.

Gerade weil ich weiss, was Eyal und seine Familie zu dem Thema denken, ist mir eine Diskussion an meinem Arbeitsplatz unvergesslich in Erinnerung. Das Thema ethnische Benachteiligung war gerade wegen irgendeinem Fall in den Medien und wurde nun in der Kaffeeküche diskutiert. Meine vier – wohlgemerkt ashkenazischen! – Mitarbeiterinnen kamen nach kurzer Erläuterung des Themas einstimmig zum Schluss, dass es heute in Israel keine ethnische Benachteiligung mehr gibt. Sie selbst waren noch nie bewusst damit konfrontiert worden und somit war für sie klar, dass das Problem nicht existierte. Die Runde von vier Ashkenaziot, die übereinstimmend beschloss, dass es in Israel keine ethnische Diskriminierung gibt, wurde für mich zum Schlüsselerlebnis. Ich verstand, dass Rassismus, vor allem wenn er ganz subtil daherkommt, von Nicht-Betroffenen oft nicht wahrgenommen wird und dass wir den Betroffenen das Recht darauf einräumen müssen, selbst zu bestimmen, was sie als rassistisch empfinden.*
So viel zum Argument „der Name Mohrenkopf ist nicht rassistisch gemeint“.

„Aber es war doch schon immer so“, rufen Viele – und merken nicht, dass dies überhaupt ein Gegenargument ist. Eine Aussage, die sich in ihrer Dummheit selbst widerlegt. Würden wir nichts ändern, dann lebten wir heute noch in Höhlen und Frauen wären das rechtlose Eigentum der Männer.

„Man kann es nicht allen recht machen“. Nein, kann man nicht. Aber wenn man das Herz auf dem rechten Fleck hat, kann man versuchen, Rücksicht auf die Gefühle einiger Wenigen zu nehmen, anstatt rechthaberisch auf seiner Meinung zu verharren. Damit macht man es vielleicht nicht allen recht, aber es ist doch ein Babyschritt auf besseres mitmenschliches Verständnis zu.

Mit dem Festhalten an der Bezeichnung Mohrenkopf setzt die Firma Dubler meines Erachtens ein Zeichen für rückständiges Festhalten an veralteten Traditionen, während sie mit einem Namenswechsel ein Zeichen setzen könnte für Rücksichtnahme und Fortschrittlichkeit. Ja, die Aussage Herrn Dublers, man solle sich lieber um faire Bezahlung der Kakao-Lieferanten kümmern, ist ernst zu nehmen. Das schliesst aber Modernisierung der Sprache und Erneuerung von veralteten Ausdrücken nicht aus. Leider habe ich beim Anhören eines Gesprächs mit Herrn Dubler auf „tag-täglich“ aber den Eindruck bekommen, dass dieser zwar ein unbesiegbares Schaumkuss-Rezept in der Tasche, mit kreativer Innovativität aber nicht gerade viel am Hut hat.

Schaumküsse gibt es übrigens auch in Israel. Sie sind lange nicht so schmackhaft wie die der Firma Dubler und sie werden Crembo genannt. Das hebräische Crembo bedeutet frei übersetzt „es hat Schaum drin“ und ich finde, dieser gefällige und unkomplizierte Ausdruck könnte auch in der Schweiz ein echter Markthit werden. Ausserdem könnte man mit diesem hebräischen Namen nicht nur ein Zeichen gegen Rassismus, sondern auch für Israel setzen und würde somit gleich zwei Treffer mit einem Schuss landen.



*Die Chancengleichheit für israelische Araber spreche ich hier hier absichtlich nicht an, das ist ein weiteres, noch viel komplexeres Thema, welches separat diskutiert werden müsste.

Samstag, 13. Juni 2020

Bald, aber nicht heute

Die Corona-Regelungen sind in den vergangenen Tagen so weit gelockert worden, dass wir wieder unserem geregelten Alltag nachgehen können. Auch ich sollte mich so langsam vom Heimbüro verabschieden. Den firmeneigenen Bildschirm und die Dockingstation habe ich letzte Woche schon zurück ins Büro gezügelt. Das war einfach. Mich selbst wieder regelmässiger dorthin zu bringen, ist schwieriger. Dabei spricht im Grunde genommen nichts dagegen. Die zwei Tage, die ich letzte Woche im Büro gearbeitet habe, brachten sogar etwas angenehme Abwechslung in den neuen Alltag zu Hause. Und doch kann ich mich jeden Tag von neuem kaum dazu aufraffen, morgens das Haus zu verlassen, um erst am Abend wiederzukommen.

Bevor wir vom Corona-Virus zur Entschleunigung gezwungen worden sind, war mein Alltag minutiös durchgeplant. Alles war fast bis ins letzte Detail geordnet, aufgeteilt und verplant. Ich sprang rund um die Uhr zackig von einer Tätigkeit zur nächsten und das lief wie geschmiert. Wie sonst hätte ich all die vielen Aufgaben erledigen können, die ich mit den Jahren übernommen hatte? Ein Fehltritt hätte das rund laufende Hamsterrad aus dem Takt gebracht.

Unterdessen habe ich zweieinhalb Monate Zeit gehabt, um andere und etwas lockerere Gewohnheiten anzunehmen. Von Tag zu Tag wurde kaum merklich alles etwas langsamer und immer öfter liess ich einfach einmal etwas sausen.

Jetzt gerade kann ich gar nicht mehr so recht begreifen, wie ich das übervolle Pensum von einst überhaupt je schaffen konnte. Nebst Vollzeit-Bürojob einen grossen Haushalt (mit Garten!) alleine zu schmeissen. Und dann noch fast jeden Tag frühmorgens zu trainieren. In aller Herrgottsfrühe aufzustehen, dann Lauf- oder Crossfittraining. Danach Dusche in der Firma und Frühstück, während der Rechner hochfährt. So war ich jeweils um acht Uhr frisch und energiegeladen bereit, um den Arbeitstag in Angriff zu nehmen. Ich mochte diesen Ausgleich an der frischen Luft zu den langen Stunden im muffigen Büro.

Aber diese ganze Maschinerie jetzt wieder hochzufahren...? Dabei habe ich mich gerade erst daran gewöhnt, mich kurz vor sieben von den ersten Sonnenstrahlen wach kitzeln zu lassen. Und jetzt wieder fast noch in der Nacht Hopp-aus-dem-Bett-in-die-Schuhe-springen-und-loslaufen? Irgendwie klappt das gerade nicht mehr so richtig.

Dabei ist das Laufen nicht etwa das Problem. Aber die ganzen Vorbereitungen. Um am frühen Morgen in nur zwanzig Minuten aus dem Bett zu hüpfen und loszufahren, muss am Vorabend alles fertig parat gelegt und eingepackt werden.

Nun denn, ich mache mich ans Packen. Weil ich es nicht mehr gewöhnt bin und damit ich nichts vergesse, schreibe ich eine Liste: Sporttasche packen. Kleider und Schuhe fürs Büro. Unterwäsche nicht vergessen! Duschzeug. Schminksachen. Joggingkleider und Schuhe bereitlegen. Die Laufuhr. Eine Flasche Wasser. Etwas für das Frühstück. Einige Snacks für zwischendurch im langen Bürotag. Dann probiere ich einige Kleider an, denn nach zehn Wochen im Trainingsanzug weiss ich nicht mehr, was ich an Büro-tauglichen Outfits noch habe. Schliesslich ist alles parat. Die Laufschuhe stelle ich unten an der Treppe bereit, damit ich am Morgen nur noch hineinschlüpfen muss.

Morgens um fünf reissen mich ungewohnte Klingeltöne aus dem Schlaf. Ich brauche einige Sekunden bis ich mich erinnere, dass das mein Wecker ist. Es ist noch stockdunkle Nacht.

Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, warum ich so früh aufstehen wollte. Also drehe ich mich auf die andere Seite und schlafe noch fast zwei Stunden. Dann stehe ich gut erholt auf. Unterwegs in die Küche stolpere ich fluchend über ein Paar Laufschuhe, die jemand auf der Treppe hat stehen lassen. Schliesslich frühstücke ich gemütlich. Das Training und das Büro werden noch einen weiteren Tag auf mich warten müssen.

Samstag, 16. Mai 2020

Alles beim Alten

Die Corona-Restriktionen werden gelockert, was das Zeug hält. Fast alles ist wieder geöffnet, ab morgen auch die Schulen für alle Altersstufen. Nur die Restaurants, Kultur- und Vergnügungsstätten und die Strände bleiben noch geschlossen. Die Verkehrsstaus zu Stosszeiten sind schon wieder da. Die Bahn fährt noch nicht. Busverkehr gibt es schon länger, aber bei der israelischen Bahn stand der Kundendienst noch nie im Vordergrund und es erstaunt nicht, dass die Corona-Situation ausgenutzt wird, bis der private Verkehr unter der Belastung zusammenbricht.

Ich kann die Bahnangestellten gut verstehen. Auch ich werde ab nächster Woche wieder tageweise im Büro erwartet, kann mich aber noch nicht dazu aufraffen. Gestern habe ich erfahren, dass mein Vorgesetzter die Firma verlässt. Er ist ein wunderbarer Mensch, einen besseren Vorgesetzten hätte ich mir nicht wünschen können. Überhaupt erwarten uns in der Abteilung wieder einmal einschneidende Änderungen, nachdem mehrere Mitarbeiter in Führungspositionen gekündigt haben. Für mich locken Aussichten auf eine weitere Beförderung. Das lässt mich auf neue und verheissungsvolle Möglichkeiten hoffen. Aber ich sehe den Veränderungen mit gemischten Gefühlen entgegen. Es war angenehm, einen Chef zu haben, der kompetent ist und der mich immer in allen Belangen bedingungslos unterstützt. Bis anhin war meine Arbeit sehr gemütlich bis langweilig. Nun werde ich mehr Verantwortung übernehmen, öfter selbständig Lösungen finden und mehr Präsenz zu US-Arbeitszeiten zeigen müssen.

Dabei habe ich mich doch gerade so schön an mein Hausmütterchen-Dasein gewöhnt. Ich habe so lange von einem Sabbatical geträumt, die zwei Monate Corona waren für mich ein Geschenk vom Himmel. Dass ich gerade vor dem Lockdown noch eine Lohnerhöhung erhalten habe, war fast zu gut, um wahr zu sein.

Ich fühle mich so ausgeruht wie schon lange nicht mehr, obwohl ich jeden morgen um sechs Uhr aufstehe. Die Schmerzen in der Schulter sind verschwunden, ohne dass die geplanten Physiotherapietermine stattgefunden hätten. Sportlich fühle ich mich in Topform. Es ist ein Riesenvorteil, wenn man sich seine Tage, die Zeit und die Trainings nach eigenem Gutdünken einteilen kann. Der Garten ist so perfekt zurechtgemacht wie schon lange nicht mehr. Das Haus ist mehr oder weniger sauber. Ich stelle fest, dass ich etwas Schmutz oder Unordnung viel besser ertragen kann, wenn ich nicht wegen Tausend anderer Dinge im Stress bin. Der Gerümpelschrank in der Kammer ist immer noch nicht aufgeräumt und ich finde mich damit ab, dass es wohl auf ewig so bleiben wird. Dafür habe ich meine Koch- und Backkünste perfektioniert, ich finde ich verdiene fast einen Michelin-Stern für meine Kreationen. Oder immerhin den Nobelpreis, seufzte meine Tochter gestern, als sie noch ein Stück des Schokoladen-Fudge-Kuchens mit Mürbeteig-Boden verschlang.

Es geht mir wirklich nur gut im Moment. Ich werde es locker nehmen mit der Rückkehr zum gehabten Alltag und Stress.

Seit gestern zieht die erste Hitzewelle über das Land. Für die ganze Woche werden Temperaturen über 30 Grad erwartet, am Dienstag sogar bis 37. Beim Wäscheaufhängen an der prallen Sonne am frühen Morgen kann ich das erste Stück schon beinahe trocken wieder abnehmen, als das letzte hängt. Dann schliesse ich schon um neun Uhr morgens alle Fenster, um die Hitze zu verbannen. Kein Wunder sehen die Strände trotz Verbot aus wie eine einzige grosse fröhliche Corona-Afterparty: Menschengetümmel, soweit das Auge reicht. Wie ich in den Nachrichten sehe, findet man kaum ein Plätzchen, um ein Badetuch auf den Boden zu legen.

All diejenigen, die zu Beginn der Corona-Krise noch leicht schockiert gedacht haben, dass sich etwas ändern würde auf unserem Planeten, dass wir unsere Werte und Gewohnheiten überdenken würden – sie alle schütteln gerade noch ein wenig die vom Zuhausebleiben steifen Glieder und verfallen umgehend wieder in den alten Trott. Demnächst werden wir auch erneut wie die Wahnsinnigen hierhin und dorthin fliegen, sobald die Fluggesellschaften aus ihrem aufgedrängten Winterschlaf erwachen. Auch ich selbst fiebere meinem Flug im Juli entgegen. Es ist also fast alles beim Alten. Wir werden dasselbe Theaterstück weiterspielen, nur bis auf Weiteres mit Mundschutz-Masken und Fiebermessen.

Heute Vormittag möchte ich noch etwas Gnocchi zubereiten und diese dann einfrieren. Musik zu hören und Gnocchi über die Gabel zu rollen ist für mich die vollkommene Beschäftigungstherapie. Bestimmt werden wir die Vorräte zu schätzen wissen, wenn ich wieder im Hamsterrad vor mich hin spurten und für nichts mehr Zeit haben werde.

Sonntag, 26. April 2020

500 Meter

Die Tage rasen dahin. Ein etwas anderer Alltag hat sich breit gemacht und wir alle haben uns irgendwie damit arrangiert, jedes Familienmitglied gemäss seinen eigenen Bedürfnissen. Ich persönlich verbringe den frühen Morgen mit Sport, Dusche, Frühstück und etwas Hausarbeit und oft erst gegen Mittag arbeite ich einige Stunden im „Homeoffice“. Dafür arbeite ich manchmal in den späten Abend hinein und kann so die Arbeitszeit meinen amerikanischen Teamkollegen anpassen.

Natürlich gibt es mit den drei jungen Damen, die jetzt umständehalber hier wohnen, auch einige Reibereien. Manchmal werden Stimmen laut, Türen werden geschletzt. Was die Küche anbetrifft, habe ich ein Notstandgesetz erlassen müssen, demzufolge zwischen 13 und 16 Uhr keiner ausser mir diesen Raum betreten darf. Nur so kann ich am Mittag in Ruhe kochen, essen und die Küche aufräumen, ohne dass jemand anders genau zum Zeitpunkt, als ich vier Pfannen auf dem Herd jongliere, Frühstückseier braten will.

Schlimme Zeiten im Corona-Lockdown I
Überhaupt scheint sich nun unser Leben hauptsächlich in der Küche abzuspielen. Wir kochen, backen und essen ununterbrochen. Das reflektiert sich auch in unserem Familienbudget, in welchem die Ausgaben für Reisen, Ausflüge, Vergnügen, Kultur, Restaurants und Kleider auf null geschrumpft sind, während die Ausgaben für Esswaren in astronomische Höhen schnellen. 

Das Zuhause sein ist ganz gemütlich, aber es fehlen die Unterbrüche, seien diese nun erfreulicher oder auch weniger geschätzter Art. Ab und zu ein Treffen mit Freundinnen, die Laufgruppe, irgendwelche Termine – und sei es nur beim Zahnarzt! Ohne etwas Abwechslung werden die Tage zu einer undefinierbaren Einheitsmasse. Erstaunlicherweise scheint die Zeit immer schneller zu vergehen, je weniger im Alltag los ist. Erst noch Montag ist es schon wieder Samstag. Und welcher Tag ist eigentlich heute? Montag, Dienstag, -tag, -tag, -tag. So fliegen die Wochen dahin, während ich immer noch in der Küche stehe oder auf dem Sofa sitze. Nun sehne ich mich danach, abends die Haustüre zu öffnen, einzutreten, nach Hause zu kommen. Zu fühlen, dass ich den Tag hindurch verschiedenes erlebt habe. Auch wenn es vor Corona meistens etwas zu viel war. 

Ab heute dürfen alle Läden, die sich nicht in gedeckten Einkaufzentren befinden, wieder öffnen. Auch die Coiffeure und Kosmetikstudios empfangen wieder Kunden. Ich finde das recht verwirrend, denn andererseits dürfen wir uns immer noch nicht weiter als 500 Meter von unserer Wohnung entfernen. Wie bitte ist das zu vereinbaren? Was genau darf ich denn eigentlich ausserhalb des 500-Meter-Radius nicht, wenn die Läden doch dort liegen? Grössere Läden, die über eine bestimmte Mindestfläche verfügen, sind sogar schon einige Tage wieder geöffnet, zum Beispiel die Ikea Filialen. Darüber wird in den Medien viel diskutiert und gespottet, denn gemäss Regelung dürfte ich in der Ikea mit Hunderten anderen Kunden durch die Gänge spazieren, alleine über die Felder laufen aber weiterhin nicht. Prompt stellt ein  israelischer Komiker ein Foto von sich ins Netz, auf welchem er mit Surfboard unverkennbar an den gemäss Regelungen abgesperrten Strand fährt – während als Bildunterschrift zu lesen ist „Unterwegs zu Ikea“.

Beim Laufen heute Morgen staune ich über einen Polizisten, der auf seinem Motorrad auf dem Rad- und Fussgängerweg langsam an den überraschten Freizeitsportlern vorbeifährt. Auch heute sind auf dem jeweils stark frequentierten Weg trotz Corona-Regelungen mehrere Radfahrer und Jogger unterwegs. Was sucht der Polizist hier? Will er Bussen austeilen? Nur für Abschreckung sorgen? Ich beobachte die Szene von meinem hoffentlich sicheren Waldweg aus. Auf dem Wegabschnitt, den ich sehen kann, hält der Polizist niemanden an. Vielleicht verwirren die widersprüchlichen Regelungen sogar ihn? Oder weiss er bei der Überzahl an Sportlern gar nicht, wen er zuerst bestrafen soll? Ich jedenfalls bin auch heute wieder einmal ohne Busse oder Verwarnung davongekommen, obwohl ich viele Kilometer mehr zurückgelegt habe als erlaubt – und unterwegs erst noch einige Erdbeeren von den Feldern gestohlen habe...

Für die Feiertage dieser Woche, den Gedenktag für die Gefallenen und den Unabhängigkeitstag, ist noch einmal totales Lockdown angesagt. Was den Unabhängigkeitstag anbetrifft, habe ich dafür Verständnis. Dieses Fest lockt jeweils sogar eingefleischte Stubenhocker aus ihren Wohnungen. Ganz Israel wird zu einer einzigen grossen Grillparty. Sogar auf Verkehrsinseln werden Einweggrillgeräte und Campingmöbel aufgeklappt, weil die Parkanlagen, die Wäldchen, ja jedes Fleckchen Grün schon belegt sind und überall Platzmangel herrscht.

Was den Gedenktag für die gefallenen Soldaten und die Terroropfer anbetrifft, ist die Regelung zum Lockdown ein schwer zu akzeptierender Beschluss. Es werden nur virtuelle Gedenkfeiern stattfinden und Angehörigen wird untersagt sein, die Gräber ihrer Liebsten aufzusuchen. Dieser Tag ist einer der traurigsten und schwersten in Israel und die Tatsache, dass man sich zu Hunderten zum Möbel kaufen in der Ikea treffen darf, es aber untersagt ist, den Friedhof aufzusuchen, wirft schon einige Fragen auf. Der Autor Meir Shalev malt sich in einem aktuellen Medienartikel absurde Situationen aus, in denen die Angehörigen der Gefallenen und der Terroropfer, die zum Friedhof fahren wollen, von einer Polizeikontrolle zum Umkehren angehalten werden, während Ikeabesucher die Kontrolle passieren dürfen.

Die Zeiten sind verwirrend und alles wird hinterfragt. Kein Wunder sehnt man sich wieder nach etwas Normalität. Diese scheint aber gerade nirgendwo zu finden sein. Auch wenn man endlich für etwas so Alltägliches wie Einkaufen für kurze Zeit aus der Enge des Hauses ausbricht, trifft man nicht auf Mitmenschen, die grüssen und zu einem Schwatz verweilen, sondern auf seltsame Wesen, die sich merkwürdig verhalten und mit Mundschutz und Plastikhandschuhen durch die Gänge eilen.

Schlimme Zeiten im Corona-Lockdown II

Dienstag, 14. April 2020

Jogginghosen und ein Corona-Geburtstagsfest

Ab heute Abend, für das zweite Pessachfest, gilt bei uns wieder für eineinhalb Tage absolutes Ausgangsverbot. Also kremple ich meinen Trainingsplan wieder einmal um und ziehe meine Laufrunde auf heute Morgen vor, bevor ich morgen nicht mehr vor die Türe treten darf. Natürlich ist Sport im Freien auch jetzt schon verboten, aber morgen früh wird es noch verbotener sein.
Danach gehe ich vor dem Lockdown noch zwei, drei Sachen einkaufen. Wir haben jetzt Maskenpflicht. Die Maske schränkt mein Sichtfeld ein und erschwert das Atmen, aber immerhin kann man sich den Lippenstift sparen. Schade eigentlich, denn etwas Farbe könnte in diesem öden Alltag nicht schaden. Besonders verführerisch sind all die maskierten und ungeschminkten Gesichter jedenfalls nicht. Was mich persönlich anbetrifft, würde ich die Maske gerade lieber über meinen grauen Haaransatz ziehen, als meinen Mund zu verstecken. Neu ist auch, dass es jetzt salonfähig geworden ist, im Homedress oder Trainingsanzug unter die Leute zu gehen. Wer macht sich überhaupt noch die Mühe, sich anständig anzuziehen? Karl Lagerfeld behauptete einst etwas überspitzt, dass jemand, der eine Jogginghose trägt, die Kontrolle über sein Leben verloren hat. Wie recht er damit hatte! Was würde er über eine Menschheit sagen, die in Jogginghosen, ungefärbten Haaren und hässlichen Masken einkaufen geht? Corona regiert! Wir haben tatsächlich keine Kontrolle über unser Leben mehr. Aber hatten wir das vor Corona? Die ganze Herumraserei und Herumfliegerei – das war uns schon etwas ausser Kontrolle geraten. Mit oder ohne Jogginghose.


Schon zwei von Lianne’s Freundinnen haben in dieser Zeit, in der alles anders ist, ihren 18. Geburtstag gefeiert. Nun ist ein 18. Geburtstag nicht irgendein Geburtstag, sondern ein bedeutungsvoller Schritt in die offizielle Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Im Januar feierte Lianne ihre Volljährigkeit mit einer feuchtfröhlichen Party, denn nebst den vielen Pflichten, mit denen der Übertritt in die Erwachsenenwelt verbunden ist, bringt er ja auch einige erfreuliche Rechte mit sich.
Aber wie feiert man jetzt, in Zeiten des social distancing, des Ausgehverbots und der Maskenpflicht Geburtstag? Es gelten neue Werte und Gesetze. Was darf man denn heute eigentlich genau? Die Vorschriften ändern sich ja täglich. Und was erlauben die Eltern, die trotz Volljährigkeit doch noch etwas zu sagen haben? Wie genau hält jede einzelne Familie die Vorschriften ein? Nach vielen Diskussionen, Vorschlägen und verworfenen Ideen fällt die Wahl der Jugendlichen, die erstaunlich flexibel im Umdenken sind, auf eine Autokolonne. Die feiernden Freunde und Freundinnen schmücken ihre Autos (in den meisten Fällen die der Eltern) und hängen farbig beschriftete Banner an die Antennen und Autofenster, dann fahren sie in einer langen Kolonne beim Geburtstagskind vor. Die Gratulantin wird mit Gehupe und lauter Musik nach draussen gerufen. Jetzt hält jedes einzelne Auto kurz bei ihr an und die fahrenden Freunde überreichen ihr einer nach dem anderen irgendeine Kleinigkeit, einen Luftballon, einen Kuchen, eine Glückwunschkarte. Natürlich alles ohne die Autos zu verlassen, aus gebührlicher Distanz und mit Maske. Weil sich jedermann nach Feiern und Freude sehnt, lockt der Lärm bald auch die Nachbarn an die Fenster und in die Gärten und auch sie rufen dem Geburtstagskind gute Wünsche zu. Ob der ganzen Fröhlichkeit kann man fast vergessen, wie traurig die Situation eigentlich ist. Auf dem Videofilmchen, das natürlich gedreht werden muss und das ich mir später ansehen darf, sind ein zu Tränen gerührtes Geburtstagskind und viele begeisterte Nachbarn und Freunde zu sehen. Laut Lianne war es fantastisch und die beste Geburtstagsfeier seit langem. Vielen Dank, Corona!

Donnerstag, 2. April 2020

Ich habe Zeit

Nachdem ich in den ersten Tagen Ausgangssperre und Homeoffice vom neuen Zustand fast euphorisch begeistert – oder vielleicht einfach im Schockzustand – war, geht mir nun langsam die Puste aus und ich lande auf dem harten Boden der unliebsamen Realität. Ja, es ist wunderbar, den ganzen Tag die Familie um sich und mehr Zeit für alles zu haben, nirgendwo hinrennen zu müssen, jeden Tag gemeinsam zu essen, aber… In unserer Stube wird es eng, sie muss zurzeit als Heimbüro, Meetingraum, Klassenzimmer, Fitnesszentrum, Spielzimmer, Hobbyraum und Heimkino für mehrere Personen herhalten. Und so langsam gehen mir nicht nur die Rezept-Ideen, sondern vor allem die Lust und die Initiative aus. Ich bin gerne zuhause, aber was da draussen los ist, ist unfassbar: Dieser surreale und apokalyptische Zustand, in dem einfach nichts mehr beim Alten ist – das bringt den grössten Stubenhocker in Verdruss. Ich hätte jetzt doch gerne mein altes Leben zurück, oder wenigstens Teile davon.

Am meisten bedrückt mich das Wissen um die vielen Menschen, die leiden: Meine Töchter, deren Leben mit Vollbremsung lahmgelegt worden ist. Die Schwiegereltern, die krank und zu Hause eingesperrt sind. Die Eltern in der Ferne, von denen ich nicht so recht weiss, wie sie mit dem neuen Alltag zurechtkommen, mit dem sie sich nun im Alter noch auseinandersetzen müssen. Die unzähligen Arbeitslosen. Die Aussicht auf den wirtschaftlichen Kollaps. Die Ahnung, dass das alles vielleicht noch ewig dauern wird. Die Angst, dass es noch viel schlimmer kommen könnte. Ich versuche, nicht zu viel zu grübeln, aber man kann der Realität nicht entkommen, sie lauert überall.

Sivan und Lianne sind verwirrt und frustriert, weil ihre Leben ohne Vorwarnung zunichtegemacht und aufs Abstellgleis gefahren worden sind. Sogar der Fernunterricht pausiert, wegen Pessachferien. Wer braucht denn jetzt Ferien? Ferien von was? Vom Nichts? Nach zwölf Jahren Schule sind Liannes Abschlussprüfungen bis in die ferne Zukunft aufgeschoben. Das ist wie Marathonlaufen und Aufgeben bei Kilometer 41. Die Schulreise ist widerrufen, Pfadfinder-Aktivitäten abgesagt, Schulabschlussfeier storniert, Ferienpläne eingefroren, Armeeeintritt ungewiss – und vor allem – Freunde treffen verboten! Arme Jugendliche, die Abend für Abend mit den Eltern in der Stube sitzen müssen, anstatt sich mit Gleichaltrigen zu treffen und das Leben auszukosten.

Ausblick im Homeoffice
Am Nachmittag nehme ich insgesamt drei Stunden an zwei Meetings teil. Zur Einleitung beschreiben Arbeitskollegen aus aller Welt ihre individuelle Corona-Situation. Persönliche Schicksale sind um vieles ergreifender als alle noch so hohen Zahlen in den Nachrichten. Jemand berichtet aus New York, wo man lieber gar nicht einkaufen geht, sondern nur zuhause bleibt und alles daran setzt, gesund zu bleiben, auch wenn das Essen langsam ausgeht. Eine Frau spricht aus ihrer Wohnung in Mailand, die sie schon fünf Wochen nicht mehr verlassen hat. Später wird das Meeting langweiliger und ich döse ein. Ein Nickerchen im Homeoffice, mit Kopfhörern in den Ohren und einem Vorgesetzen, der irgendwo in den USA etwas erklärt, dem ich beim besten Willen nicht folgen kann. Als die Besprechung zu Ende ist, entdecke ich, dass die Chefin vor zehn Minuten einen privaten Facebookpost hochgeladen hat. Sie ist wohl auch nicht so recht bei der Sache.






Mein Strickprojekt ist erfolgreich zu Ende gekommen. Jetzt arbeite ich an einem Puzzle mit 1000 Teilen. Es ist kompliziert, ich lege jeden Tag im Durchschnitt etwa fünf Teile. Macht nichts, ich habe Zeit!

Andere besinnen sich auf bodenständiges, einfaches aber zeitaufwendiges Kochen, zum Beispiel meine Verwandte Sara, die in Quarantäne hausgemachte Teigwaren und anderes kocht und dabei in Gedanken bei ihrer Nonna ist. 

Sonntag, 29. März 2020

Verbotenes Vergnügen


Auf Facebook verfolge ich schon seit längerer Zeit eine Gruppe von Lauffreunden. Die Gruppe zählt mehrere tausend Mitglieder – alle mehr oder weniger fanatische Hobbyläufer – die Resultate, Erfahrungen und Gedanken zum Thema Laufen posten. Einige Posts sind hilfreich oder originell, andere wische ich ungelesen weg, wie das auf Facebook eben so ist. Seit wir wegen Corona Ausgangssperre haben und uns nur noch in einem Radius von Hundert Metern von der eigenen Wohnung bewegen dürfen, ist auf dieser Facebook-Gruppe die Hölle los. Die Läufer haben sich in zwei Lager gespalten und streiten, dass die Fetzen fliegen. Die Posts zum Thema überschlagen sich und sorgen für erhitzte Gemüter. Die Einen finden es gefährlich und unverantwortlich bis kriminell, sich dem Gesetz zu widersetzen, die Anderen halten die Regeln für übertrieben, missachten die Massnahmen und brüsten sich täglich mit aktuellen Laufresultaten, trotz Verbot. Beide Seiten können jeweils den Vertretern der Opposition absolut kein Verständnis entgegenbringen.

Ich persönlich bin zwischen den Lagern hin- und hergerissen. Beide haben plausible Argumente. Ich laufe seit zehn Jahren zwei-, drei- oder viermal die Woche, nur mit kurzen Unterbrüchen wegen Verletzungen oder Krankheit. Für mich ist Laufen Leben. Das unbeschreibliche Gefühl, dass mein Kopf immer leichter wird, je mehr ich mich mit der Schwere des Körpers auseinandersetze. Dass ich immer näher bei mir bin, je weiter ich weglaufe. Ich brauche das Laufen wie die Luft zum Atmen, es hält mich vital, hilft mir, meine Gedanken zu ordnen und Stress abzubauen.

Aber dafür das Gesetz zu brechen? Mich mit der Polizei anlegen? Vielleicht sogar eine Busse verpasst bekommen? Und ganz abgesehen von der Regelverletzung – ich will in dieser Corona-Geschichte weder mich selbst noch Andere gefährden. Darf ich selbst abwägen, ob die Normen mehr nutzen oder schaden? Welche und wie viele kleine Regelverletzungen gehen noch durch? Wäre eine Laufrunde schlimmer, als bei Rot die Strasse zu überqueren? Wie viel Selbstbestimmungsrecht darf ich mir zugestehen? Auf meiner Laufstrecke ist das Ansteckungsrisiko verschwindend klein. Immerhin laufe ich im Gelände, wo sich Fuchs und Hase guten Abend (in meinem Fall guten Morgen) sagen und die Chance jemanden zu treffen, ist verschwindend klein.

Aber die Regeln sind klar: Sportliche Aktivitäten im Freien sind verboten. Wo kämen wir hin, wenn jeder nur seine Extrawurst vor Augen hätte? Das Virus scheint wirklich gefährlich zu sein und für die Eindämmung der Epidemie einige Wochen zu Hause zu bleiben, sollte doch machbar sein. Dann laufe ich eben zu Hause hundertmal die Treppe hoch, oder übe eine Stunde Seilspringen.  

Einige Tage lang wiege ich das Dafür und Dawider ab. Versuche, mit mir selbst auszuhandeln, wie die neuen und alten Werte zusammenpassen. Ich denke mir die kreativsten Heimtrainings aus, um fit zu bleiben. Vom obersten Stock in die hinterste Ecke im Garten und zurück. Zweihundertmal die Strasse rauf und wieder runter. Dann wieder verwerfe ich alles und denke, dass es doch kein so schlimmes Verbrechen sein kann, mich früh morgens aus dem Dorf zu schleichen und mutterseelenallein etwas über die Felder zu laufen. Und wenn mich jemand verpatzen würde? Etliche Male suche ich in Gedanken die kürzeste Route von unserem Haus ins Gelände.

Schlussendlich stelle ich den Wecker. Noch vor dem Sonnenaufgang stehle ich mich aus dem Haus. Bei den Nachbarn ist es noch dunkel, da lauert also keine Gefahr. Trotzdem pocht mein Herz stärker als sonst. Hinter jeder Ecke, hinter jeder Hauswand vermute ich einen Verräter. Und da, steht da nicht jemand am Fenster? Ich laufe etwas schneller. Ich bin ein Gesetzesbrecher! Ich treibe Sport und das ist verboten!

Als ich endlich die Hauptstrasse überquere, die unser Dorf von den Feldern trennt, entdecke ich noch in weiter Ferne ein einzelnes Auto. Ist es ein Streifenwagen? Ich sprinte mit voller Kraft los und erreiche den sicheren Feldweg einige Sekunden bevor das Auto hinter mir vorbei braust. Ich bin gerettet! Jetzt habe ich feuchte braune Erde unter den Füssen, frische Luft und Blütenduft in der Nase und Vogelgezwitscher in den Ohren. Inspiriert von den Beinen hüpft meine Seele davon. Ich atme auf und ziehe beruhigt los, über die blühenden Wiesen, während die Sonne aufgeht…


Donnerstag, 26. März 2020

Fitness in Zeiten von Corona

Keine Sorge, liebe Leser, hier erwartet sie nicht ein weiterer Vorschlag für ein Heimtraining bei Ausgangssperre. Viel mehr geht es um Sport im Fernunterricht und um die Bewältigung einer Abschlussprüfung in skurrilen Zeiten. Und ja, der Beitrag ist etwas länger, aber bestimmt müssen sie ja in den nächsten Stunden nirgendwo hin, es sei denn, sie seien Arzt, Pflegepersonal oder arbeiten an der Entwicklung eines Impfstoffs.

Sport ist an den israelischen Oberstufen ein offizielles Abschlussprüfungsfach. Für das „Bagrut“ (Abitur) müssen die Schüler nebst anderen Disziplinen auch drei Kilometer Laufen. Lianne ist aber keine sportliche Person – ihr Körper befindet sich in einem Ruhemoment, das nur schwer in Bewegung zu bringen ist. Deshalb beschäftigt sie die Frage, wie diese Lauf-Nuss zu knacken ist, schon seit geraumer Zeit. Eigentlich schon seit Anfang Oberstufe taucht das Thema bei uns zu Hause sporadisch auf – nur um dann schnellstens wieder unter den Teppich gewischt zu werden. Einst noch zuversichtlich, entwarf ich für Lianne ein grosszügiges zweijähriges Trainingsprogramm, später dann ein etwas intensiveres für einige Monate. Aber all das Gerede fruchtete nichts und eines Tages stand das befürchtete Prüfungsdatum – der 25. März – unmittelbar bevor.

Wenige Wochen vor dem Termin sah Lianne nun doch noch ein, dass sich das unliebsame Thema durch Verdrängen wohl nicht beseitigen lassen würde und raffte sich widerwillig dazu auf, etwas für ihre Fitness zu tun. Sie zog sich sportlich-modisch an, stimmte die Farbe des Laufshirts auf die Socken ab, schminkte sich sorgfältig und als das Outfit perfekt war, zog sie los. Aber schon nach wenigen Hundert Metern ging ihr die Puste aus und sie fand bestätigt, was sie schon lange wusste: dass Hopfen und Malz verloren ist. Nach Luft ringend verfluchte sie die Lehrerin, die Schule und den Sport im Allgemeinen. Sie kann, will und wird nicht laufen! Eher lernt ein Elefant Seiltanzen, als dass ein unverbesserlicher Stubenhocker in drei knappen Wochen zum Läufer wird.

Nun ist Lianne gerade volljährig geworden und somit selbständig krankenversichert (das bedeutet, dass wir, ihre Eltern, keinen Zugriff mehr auf ihre Daten haben, aber weiterhin die Versicherungsraten berappen müssen, solange sie noch zur Schule geht).

Die erste grandiose Aktivität, die sich Lianne als selbständiges Krankenkassenmitglied leistete, war das Erlügen einer Achillessehnenentzündung und das Erbetteln eines Attests von unserem Familienarzt. Der Arzt stellte das gewünschte Schreiben grosszügig aus, ohne die Patientin zu begutachten. Zwar hatte die Beglaubigung einen Haken, denn sie war auf einen Monat befristet, aber immerhin befreite sie Lianne vom ersten Prüfungstermin. Für den Wiederholungstermin, der einen Monat später drohte, würde sie sich rechtzeitig auch noch etwas einfallen lassen. Kommt Zeit, kommt Rat!

Kommt Corona! Zwar wird die Erde nicht kurz vor der Prüfung von einem Meteoriten aus der Bahn geworfen, wie sich das Lianne insgeheim gewünscht hatte – aber ein fast so fatales Virus zwingt uns momentan, sämtliche Pläne und Aktivitäten aufs Abstellgleis zu stellen. Die Zukunft ist bis auf Weiteres storniert. Somit auch alle Abschlussprüfungen. Hurra! Endlich darf Lianne offiziell faulenzen, bis sie nach Verwesung stinkt. Ja, natürlich ist die ganze Situation nicht gerade rosig und dass sie ihre Freunde nicht mehr treffen kann und eigentlich so schnell wie möglich die Schule hinter sich lassen und die Welt entdecken wollte, weicht nun einer abgrundtiefen Enttäuschung. Aber immerhin, die Laufprüfung scheint erst einmal aus der Welt geschafft zu sein. Halleluja!

Ab sofort brilliert Lianne in der Disziplin „Auf-dem-Sofa-liegen“. Diese unterbricht sie nur ab und zu, um Knabbernachschub aus der Küche zu besorgen. Für kurze Zeit ist ihr Leben fast perfekt.

Aber nach wenigen Tagen im Schockzustand rauft sich die Lehrerschaft zusammen und richtet sich für den Fernunterricht ein. Und sie nehmen es ernst: Nach zwei Tagen Fernunterricht beklagt sich Lianne, dass sie in den letzten 48 Stunden mehr Arbeiten geschrieben habe als in den vergangenen drei Monaten! Dann schiesst die Sportlehrerin mit einer besonders unverschämten Idee den Vogel ab: Sie schickt Lianne ein detailliertes einmonatiges Trainingsprogramm und fordert sie auf, ihr die mit der Fitness-App Strava aufgezeichneten Laufübungen online zur Kontrolle zu schicken. Was für eine Hexe! Ist es nicht genug, dass uns dieses verflixte Virus das Leben zur Hölle macht? Nicht einmal auf dem eigenen Sofa lassen einen die Lehrer in Ruhe!

Zusätzlich soll Lianne als Strafaufgabe für drei im Januar geschwänzte Sportstunden zwanzig Burpees (Liegestützsprünge) machen und eine Vidoaufnahme davon der Lehrerin schicken. Ach, wenn es nur das ist – kein Problem! Gegen ein angemessenes Entgelt ist die sportliche Schwester bereit, die Aufgabe für sie auszuführen. Immerhin ist Sivan gleich gross und hat ähnliches Haar. Dass sie einiges dünner ist, wird mit drei übereinander angezogenen dicken Trainingsanzügen ausgeglichen. Ihre Burpees sind perfekt. Sie wird nur von hinten gefilmt und hopp, schon ist das Filmchen im Kasten.

Was die Aufzeichnungen des Lauftrainings anbetrifft – was läge näher als mich dafür einzuspannen? Schliesslich gehe ich eh dreimal in der Woche laufen und es wäre doch unverzeihlich, diesen Heimvorteil nicht zu nutzen. Meine vehemente Absage akzeptiert Lianne zwar enttäuscht aber vielleicht auch etwas erleichtert, denn der Gedanke, sich mehrere Male von ihrem Handy trennen zu müssen, lag ihr eh schwer auf dem Magen.

Endlich schafft es eine Freundin, Lianne zum ersten Training zu motivieren. Aber die Laufrunde wird – wie nicht anders zu erwarten – eine Katastrophe. Irgendwie vermasselt Lianne die Aufzeichnung mit der App und obwohl sie mindestens zwanzig Minuten mit der Freundin in der Nachbarschaft umher schlurft, werden davon nur acht Minuten aufgezeichnet. Sie ist am Boden zerstört! Wie konnte es nur passieren, dass sich wertvolle Trainingsminuten im Nichts auflösten?! So konnte es nicht weitergehen! Eine handfestere Lösung musste her.

Not macht bekanntlich erfinderisch. Lianne hat zwar müde Beine, aber ein kluges Köpfchen. Für das zweite Training steigt sie mit Handy ins Auto, stellt die FitnessApp an – und fährt mit 8 km pro Stunde einmal ums Quartier. Ha! Das perfekte Training ist in der Tasche! So scheint es immerhin, aber bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass die Aufzeichnung eine seltsame Zickzackform hat. Hmm, ob die Lehrerin das merken würde?

Die Rettung kommt vom Himmel, denn in diesen Zeiten ist auf höhere Gewalt Verlass: Eine Ausgangssperre! Ab sofort dürfen wir uns nur noch in einem Radius von 100 Metern von der eigenen Wohnung bewegen. Wenn das nicht eine göttliche Eingebung ist! Mit den neuen Massnahmen scheint die Sportprüfung endlich in unerreichbare Ferne zu rücken.

Lianne liegt wieder auf dem Sofa. Aber mir scheint, dass diese Prüfung nicht totzukriegen ist. Wenn eine Sehnenentzündung und ein Corona-Virus ihr noch nicht den Garaus gemacht haben, vermute ich, dass sie demnächst in irgendeiner Form wieder den Kopf heben wird. Ich bin gespannt...

Mittwoch, 18. März 2020

Prosit!

Entgegen aller dringlichsten Empfehlungen fahre ich heute wieder ins Büro. Die Verbindung und die Ausrüstung im Heimbüro waren gestern katastrophal. Ich habe eine komplizierte Arbeit zu erledigen, für welche ich meine beiden grossen Bildschirme und akzeptable Netzverbindung benötige.

Die Strassen sind auch zur Hauptverkehrszeit wie ausgestorben. Auch die Büros sind menschenleer. Ich geniesse die Ruhe und weiss nun sogar meine graue Büroeinrichtung zu schätzen! Nur das Reinigungspersonal ist noch da und putzt in Scharen und als ginge es um Leben und Tod. Eine der Frauen wedelt auch um mich herum und reibt meine direkte Umgebung mit Unmengen von antiseptischen Feuchttüchern ab. Sie erledigt ihre Arbeit so eifrig, dass sie sogar den gebotenen Zwei-Meter-Abstand vergisst.

Zum Mittagessen lasse ich mir vom Asiaten Sushi liefern, obwohl ich mich beim letzten mal gewaltig über den extremen Abfallberg geärgert und mir vorgenommen habe, nur noch unverpackte Mahlzeiten zu essen. Die Sushi-Mahlzeit ist auch heute wieder in unzählige Kartonschächtelchen mit Plastikdeckeln verpackt und der hinterlassene Abfallberg ist mindestens dreimal so umfangreich wie das Essen, das ich zu mir nehme. Aber leider gibt es auch in der Kantine nur noch umweltschädlich abgepacktes Essen.

In der verwaisten Kaffeeküche finde ich eine angebrochene Flasche Roséwein. Der wird ja auch nicht frischer, denke ich, und genehmige mir einige Tropfen. In einem Plastikbecher, wohlgemerkt, etwas anderes finde ich gerade nicht. Aber das macht ja jetzt alles nichts mehr aus, schliesslich müssen wir nur noch irgendwie überleben.
Nach einem Becher Rosé sieht die Welt aus dem Bürofenster fast schon aus, als wäre alles beim Alten. Prosit! Nach uns die Sintflut!

Sonntag, 15. März 2020

Surreale Szenen

Im Restaurant, in welchem meine Tochter arbeitet(e), werden heute die Waren verteilt oder weggeschmissen. Dann werden die Türen bis auf Weiteres verriegelt. Sie ist ganz froh, dass sie nicht mehr arbeiten muss, denn sie zieht gerade um und braucht die freien Tage. Womit sie ihre Miete bezahlen wird? Es ist wahrlich ein Segen, wenn man nicht mehr als drei Tage vorausdenken kann!

Abfall. Einst lebten wir in Saus und Braus

In unserer Kantine (ja, ich bin heute noch zur Arbeit gefahren, denn die Anweisungen des Arbeitgebers sind eher unklar) gibt es ab sofort in Aluschalen abgepackte Mahlzeiten, dazu Einweg-Plastikbesteck. Soviel zu meinem letzten Beitrag betreffend Plastikmüll. Im Kampf ums Überleben verpassen wir der Erde den Todesstoss.

Am Eingang zur Kantine zählt der Kantinenchef die Besucher, damit sich zu keinem Zeitpunkt mehr als sieben Personen in der 200 Menschen fassenden Halle befinden. Die drei Angestellten an der Ausgabe tragen Gesichtsmasken und Plastik-Handschuhe. Über allem liegt ein starker Duft von Desinfektionsmitteln. Die Tische sind in möglichst grossen Abständen nach draussen auf den Kunstrasen gestellt worden. An jedem Tisch stochert eine einzelne Person in ihrem Essen herum. Viele tragen ihre weissen Laborkittel, einige haben ihre Labor-Schutzbrillen in die Stirne geschoben. Wie ich aus der Ferne einschätzen kann, gibt es plastikweissen Reis, Antibiotika-Poulet und genmanipulierte Erbsen. Die Szene ist so surreal, dass ich so schnell wie möglich weg muss. Danke, mir ist der Appetit vergangen!


In diesen Zeiten schreibt man am besten gar nichts mehr für die Öffentlichkeit. Was heute stimmt, wird morgen widerrufen und ist übermorgen peinlich.
Ich werde Tagebuch für mich selbst schreiben, dafür umso öfter. In einigen Jahren werden wir bestimmt darüber staunen. Falls Sie unter den Überlebenden sein sollten – die Word-Datei befindet sich in meinem PC unter C:\Privat\Geschreibsel\MeinCoronaTagebuch.docx.