Nun liegt die Wanderung schon mehrere Wochen zurück. Am Wochenende sortiere ich die Fotos – und noch einmal meine Eindrücke. Meine drei Wanderkameradinnen und ich haben insgesamt etwa 70 Kilometer zurückgelegt, jeden Tag von sieben Uhr morgens bis spätnachmittags einen Fuss vor den anderen setzend. Wir haben an schattigen Plätzchen gerastet, unsere Notdurft hinter Sträuchern verrichtet, in Bächen die Hände gewaschen, Begeisterung über die schönsten Pflanzen und Aussichten geteilt, geplaudert, Witze gemacht, Geschichten erzählt und interessante Gespräche geführt. Die Wege führten oft über schwieriges Gelände, durch dorniges Gebüsch, steil bergauf oder gefährlich bergab, über Felsen und durch Bäche.
Auf einer mehrtägigen Wanderung erkennt man, dass sich eindrückliche, herausfordernde, malerische oder sogar paradiesisch schöne Wegstücke immer wieder mit langweiligen, widrigen oder mühsamen Abschnitten abwechseln. Erst alles zusammen ergänzt sich zu einem grossen Ganzen – genau wie im Leben.
Das stundenlange Gehen wirkt meditativ. Sich nur mit Gehen, Hören, Riechen, Sehen beschäftigen. Den Gedanken freien Raum lassen. Die Augen wandern lassen und sich am Reichtum der Natur sattsehen. Anstrengung, Schwitzen, Schmutz, Schmerzen – die Auseinandersetzung mit dem Körper trägt dazu bei, dass man ganz bei sich ist. Sich die Sonne auf das Haupt brennen und den Wind das Haar zerzausen lassen, sich im Bach waschen. Mit der Natur im Einklang sein. Sich auf das Wesentliche beschränken. Sich am Abend mit schmerzenden Füssen und berauscht von den Eindrücken des Tages ins Bett legen und in tiefen Schlaf fallen. Am nächsten Morgen erneut neugierig wieder aufbrechen. All das ergibt ein vollkommenes Pendant zu eingesessen Gewohnheiten, einen perfekten Ausbruch aus dem Alltag.
Sehr abwechslungsreich sind auch die Begegnungen mit anderen Shvil-Wanderern, den „Shvilisten“. Wie die Israelis so sind, begrüsst man sich nicht nur, sondern ist sofort im Gespräch: Wo bist du losgelaufen? Welches Ziel hast du heute? Wo übernachtest du? Wie die Landschaften wechseln sich auch die Begegnungen immer wieder ab, oft nach einem kurzen Wortwechsel, manchmal nach längeren Gesprächen. Menschen kommen und gehen, man sieht sich auf immer anderen Teilstücken wieder. Besondere Beachtung gebührt auf dem Shvil jenen Wanderern, die im Gelände übernachten und ihre gesamte Ausrüstung mittragen. Wir bestaunen einen wandernden Hund mit eigenem, Hunde-gerechtem Rucksack (natürlich hat er auch einen menschlichen Begleiter dabei, der für ihn die Karten liest). Eine Gruppe Achtzehnjähriger, kurz vor dem Militärdienst, stolpert energiegeladen im Lauftempo bergauf und bergab. Ein junges Ehepaar erzählt uns, dass die Shvilwanderung, ohne Unterbruch bis nach Eilat, ihre Hochzeitsreise ist. Mit zwei Männern nehmen wir im Gehen ein Gespräch auf, welches sich schnell vertieft und erst einige Zeit und viele Kurven später stellen die beiden fest, dass sie ihre Frauen und Familien irgendwo zurückgelassen und vergessen haben.
Die drei am Anfang nur oberflächlich bekannten Wanderpartnerinnen sind mir mit jedem Schritt vertrauter und schlussendlich zu lieben und geschätzten Kameradinnen geworden. Ich musste mich nach vier bereichernden Tagen leider verabschieden, ich wurde an der Arbeit zurückerwartet. Die Kolleginnen wanderten noch die Shvil-Abschnitte fünf und sechs weiter. Ich war in Gedanken bei ihnen während sich meine wunden Füsse unter dem Bürotisch erholten. Sobald die Blasen verheilt waren, suchte ich ein passendes Geschäft auf und gab für neue Wanderschuhe ein Vermögen aus. Bestimmt würde ich diese bald gebrauchen, wenn ich die weiteren Shvil-Abschnitte unter die Füsse nehmen werde.
Ein Grafitti am Weg: Corona hat uns nicht aufgehalten |