Die Corona-Restriktionen werden gelockert, was das Zeug hält. Fast alles ist wieder geöffnet, ab morgen auch die Schulen für alle Altersstufen. Nur die Restaurants, Kultur- und Vergnügungsstätten und die Strände bleiben noch geschlossen. Die Verkehrsstaus zu Stosszeiten sind schon wieder da. Die Bahn fährt noch nicht. Busverkehr gibt es schon länger, aber bei der israelischen Bahn stand der Kundendienst noch nie im Vordergrund und es erstaunt nicht, dass die Corona-Situation ausgenutzt wird, bis der private Verkehr unter der Belastung zusammenbricht.
Ich kann die Bahnangestellten gut verstehen. Auch ich werde ab nächster Woche wieder tageweise im Büro erwartet, kann mich aber noch nicht dazu aufraffen. Gestern habe ich erfahren, dass mein Vorgesetzter die Firma verlässt. Er ist ein wunderbarer Mensch, einen besseren Vorgesetzten hätte ich mir nicht wünschen können. Überhaupt erwarten uns in der Abteilung wieder einmal einschneidende Änderungen, nachdem mehrere Mitarbeiter in Führungspositionen gekündigt haben. Für mich locken Aussichten auf eine weitere Beförderung. Das lässt mich auf neue und verheissungsvolle Möglichkeiten hoffen. Aber ich sehe den Veränderungen mit gemischten Gefühlen entgegen. Es war angenehm, einen Chef zu haben, der kompetent ist und der mich immer in allen Belangen bedingungslos unterstützt. Bis anhin war meine Arbeit sehr gemütlich bis langweilig. Nun werde ich mehr Verantwortung übernehmen, öfter selbständig Lösungen finden und mehr Präsenz zu US-Arbeitszeiten zeigen müssen.
Dabei habe ich mich doch gerade so schön an mein Hausmütterchen-Dasein gewöhnt. Ich habe so lange von einem Sabbatical geträumt, die zwei Monate Corona waren für mich ein Geschenk vom Himmel. Dass ich gerade vor dem Lockdown noch eine Lohnerhöhung erhalten habe, war fast zu gut, um wahr zu sein.
Ich fühle mich so ausgeruht wie schon lange nicht mehr, obwohl ich jeden morgen um sechs Uhr aufstehe. Die Schmerzen in der Schulter sind verschwunden, ohne dass die geplanten Physiotherapietermine stattgefunden hätten. Sportlich fühle ich mich in Topform. Es ist ein Riesenvorteil, wenn man sich seine Tage, die Zeit und die Trainings nach eigenem Gutdünken einteilen kann. Der Garten ist so perfekt zurechtgemacht wie schon lange nicht mehr. Das Haus ist mehr oder weniger sauber. Ich stelle fest, dass ich etwas Schmutz oder Unordnung viel besser ertragen kann, wenn ich nicht wegen Tausend anderer Dinge im Stress bin. Der Gerümpelschrank in der Kammer ist immer noch nicht aufgeräumt und ich finde mich damit ab, dass es wohl auf ewig so bleiben wird. Dafür habe ich meine Koch- und Backkünste perfektioniert, ich finde ich verdiene fast einen Michelin-Stern für meine Kreationen. Oder immerhin den Nobelpreis, seufzte meine Tochter gestern, als sie noch ein Stück des Schokoladen-Fudge-Kuchens mit Mürbeteig-Boden verschlang.
Es geht mir wirklich nur gut im Moment. Ich werde es locker nehmen mit der Rückkehr zum gehabten Alltag und Stress.
Seit gestern zieht die erste Hitzewelle über das Land. Für die ganze Woche werden Temperaturen über 30 Grad erwartet, am Dienstag sogar bis 37. Beim Wäscheaufhängen an der prallen Sonne am frühen Morgen kann ich das erste Stück schon beinahe trocken wieder abnehmen, als das letzte hängt. Dann schliesse ich schon um neun Uhr morgens alle Fenster, um die Hitze zu verbannen. Kein Wunder sehen die Strände trotz Verbot aus wie eine einzige grosse fröhliche Corona-Afterparty: Menschengetümmel, soweit das Auge reicht. Wie ich in den Nachrichten sehe, findet man kaum ein Plätzchen, um ein Badetuch auf den Boden zu legen.
All diejenigen, die zu Beginn der Corona-Krise noch leicht schockiert gedacht haben, dass sich etwas ändern würde auf unserem Planeten, dass wir unsere Werte und Gewohnheiten überdenken würden – sie alle schütteln gerade noch ein wenig die vom Zuhausebleiben steifen Glieder und verfallen umgehend wieder in den alten Trott. Demnächst werden wir auch erneut wie die Wahnsinnigen hierhin und dorthin fliegen, sobald die Fluggesellschaften aus ihrem aufgedrängten Winterschlaf erwachen. Auch ich selbst fiebere meinem Flug im Juli entgegen. Es ist also fast alles beim Alten. Wir werden dasselbe Theaterstück weiterspielen, nur bis auf Weiteres mit Mundschutz-Masken und Fiebermessen.
Heute Vormittag möchte ich noch etwas Gnocchi zubereiten und diese dann einfrieren. Musik zu hören und Gnocchi über die Gabel zu rollen ist für mich die vollkommene Beschäftigungstherapie. Bestimmt werden wir die Vorräte zu schätzen wissen, wenn ich wieder im Hamsterrad vor mich hin spurten und für nichts mehr Zeit haben werde.
Der Blick aus dem Fenster erfolgt aus Israel, wo ich seit 1988 lebe. Geboren und aufgewachsen bin ich in der Schweiz. Aus meinem Fenster blicken auch Eyal, mein israelischer Mann und meine erwachsenen, sehr israelischen Kinder, Sivan, Itay und Lianne. Die Personen sind echt, unsere Namen aber frei erfunden.
Samstag, 16. Mai 2020
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2 Kommentare:
Ich hoffe sehr, dass es uns gelingt, ein klitzekleines Bisschen von der gewonnenen Bedächtigkeit mitzunehmen. Mir geht es ganz ähnlich wie dir und ich verspüre beinahe ein wenig Wehmut, wenn ich daran denke, dass die beschauliche Zeit bald Geschichte sein wird.
Liebe Schreibschaukel,
Das hoffe ich auch!Ich jedenfalls habe einige ganz persönliche Lektionen aus der Krise gelernt und hoffe, diese verwirklichen zu können.
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