Donnerstag, 2. April 2020

Ich habe Zeit

Nachdem ich in den ersten Tagen Ausgangssperre und Homeoffice vom neuen Zustand fast euphorisch begeistert – oder vielleicht einfach im Schockzustand – war, geht mir nun langsam die Puste aus und ich lande auf dem harten Boden der unliebsamen Realität. Ja, es ist wunderbar, den ganzen Tag die Familie um sich und mehr Zeit für alles zu haben, nirgendwo hinrennen zu müssen, jeden Tag gemeinsam zu essen, aber… In unserer Stube wird es eng, sie muss zurzeit als Heimbüro, Meetingraum, Klassenzimmer, Fitnesszentrum, Spielzimmer, Hobbyraum und Heimkino für mehrere Personen herhalten. Und so langsam gehen mir nicht nur die Rezept-Ideen, sondern vor allem die Lust und die Initiative aus. Ich bin gerne zuhause, aber was da draussen los ist, ist unfassbar: Dieser surreale und apokalyptische Zustand, in dem einfach nichts mehr beim Alten ist – das bringt den grössten Stubenhocker in Verdruss. Ich hätte jetzt doch gerne mein altes Leben zurück, oder wenigstens Teile davon.

Am meisten bedrückt mich das Wissen um die vielen Menschen, die leiden: Meine Töchter, deren Leben mit Vollbremsung lahmgelegt worden ist. Die Schwiegereltern, die krank und zu Hause eingesperrt sind. Die Eltern in der Ferne, von denen ich nicht so recht weiss, wie sie mit dem neuen Alltag zurechtkommen, mit dem sie sich nun im Alter noch auseinandersetzen müssen. Die unzähligen Arbeitslosen. Die Aussicht auf den wirtschaftlichen Kollaps. Die Ahnung, dass das alles vielleicht noch ewig dauern wird. Die Angst, dass es noch viel schlimmer kommen könnte. Ich versuche, nicht zu viel zu grübeln, aber man kann der Realität nicht entkommen, sie lauert überall.

Sivan und Lianne sind verwirrt und frustriert, weil ihre Leben ohne Vorwarnung zunichtegemacht und aufs Abstellgleis gefahren worden sind. Sogar der Fernunterricht pausiert, wegen Pessachferien. Wer braucht denn jetzt Ferien? Ferien von was? Vom Nichts? Nach zwölf Jahren Schule sind Liannes Abschlussprüfungen bis in die ferne Zukunft aufgeschoben. Das ist wie Marathonlaufen und Aufgeben bei Kilometer 41. Die Schulreise ist widerrufen, Pfadfinder-Aktivitäten abgesagt, Schulabschlussfeier storniert, Ferienpläne eingefroren, Armeeeintritt ungewiss – und vor allem – Freunde treffen verboten! Arme Jugendliche, die Abend für Abend mit den Eltern in der Stube sitzen müssen, anstatt sich mit Gleichaltrigen zu treffen und das Leben auszukosten.

Ausblick im Homeoffice
Am Nachmittag nehme ich insgesamt drei Stunden an zwei Meetings teil. Zur Einleitung beschreiben Arbeitskollegen aus aller Welt ihre individuelle Corona-Situation. Persönliche Schicksale sind um vieles ergreifender als alle noch so hohen Zahlen in den Nachrichten. Jemand berichtet aus New York, wo man lieber gar nicht einkaufen geht, sondern nur zuhause bleibt und alles daran setzt, gesund zu bleiben, auch wenn das Essen langsam ausgeht. Eine Frau spricht aus ihrer Wohnung in Mailand, die sie schon fünf Wochen nicht mehr verlassen hat. Später wird das Meeting langweiliger und ich döse ein. Ein Nickerchen im Homeoffice, mit Kopfhörern in den Ohren und einem Vorgesetzen, der irgendwo in den USA etwas erklärt, dem ich beim besten Willen nicht folgen kann. Als die Besprechung zu Ende ist, entdecke ich, dass die Chefin vor zehn Minuten einen privaten Facebookpost hochgeladen hat. Sie ist wohl auch nicht so recht bei der Sache.






Mein Strickprojekt ist erfolgreich zu Ende gekommen. Jetzt arbeite ich an einem Puzzle mit 1000 Teilen. Es ist kompliziert, ich lege jeden Tag im Durchschnitt etwa fünf Teile. Macht nichts, ich habe Zeit!

Andere besinnen sich auf bodenständiges, einfaches aber zeitaufwendiges Kochen, zum Beispiel meine Verwandte Sara, die in Quarantäne hausgemachte Teigwaren und anderes kocht und dabei in Gedanken bei ihrer Nonna ist. 

2 Kommentare:

wegwunder hat gesagt…

Ach, ich kann dir gut nachfühlen... dankbar, dass wir in der Schweiz noch einigermassen frei sind, uns zu bewegen. Liebe Grüsse, Sibylle

Yael Levy hat gesagt…

Liebe Sibylle, Ja, wir sind etwas mehr eingeschränkt. Geniesst es, dass ihr soweit gehen oder fahren dürft, wie ihr wollt! Auch wenn es dabei oft kein Ziel gibt, weil alles geschlossen ist. Den Weg zum Ziel machen – zu dieser Erfahrung werden wir jetzt gezwungen, das hat auch sein Gutes.
Auch liebe Grüsse
Yael