Montag, 17. Oktober 2022

Sprudelbad im Toten Meer

Auch wenn das Alltags-Hamsterrad wieder läuft, gibt es doch immer wieder Ereignisse, die für Ausgleich sorgen. Drei Arbeitstage nach dem Urlaub folgt schon ein langes, erlebnisreiches Feiertagswochenende. Am Freitag besuche ich Itay, der nun auch in Tel-Aviv wohnt. Nachdem ich „seine“ Untermiete-Wohnung (und vor allem die Staub- und Schmutzschichten) bestaunt habe, verbringe ich einen sehr erfreulichen und bereichernden Tag mit meinen Kindern in Tel-Aviv.

Sonnenuntergang in Tel-Aviv


Zwei Tage später folgt ein Ausflug mit Übernachtung ans Tote Meer.

Das Tote Meer liegt einige hundert Meter unter dem Meeresspiegel, gleicht aber eher einer surrealen Mondlandschaft als einem irdischen Meer oder See. Kaum tritt am frühen Morgen die Sonne über die Berge am jordanischen Ufer, steigen die Temperaturen auf über dreissig Grad. Umgehend liegt das ganze Gebiet unter einer Dunstwolke, auch jetzt, Mitte Oktober. Der Dunst verwischt alle Übergänge, sodass die umliegenden Berge bis am späteren Nachmittag kaum mehr wahrzunehmen sind. Wortfetzen in unzähligen Sprachen durchdringen die beigefarbene Dunstwolke: russisch, arabisch, hebräisch, englisch, chinesisch, deutsch und vieles mehr.

Das Wasser selbst hat eher die Konsistenz von Öl als von Wasser. Aufgrund des hohen Salzgehalts ist der Auftrieb so stark, dass es einem die Beine hebt, sobald man ins Wasser steigt. Kommt das salzige Wasser mit Wunden oder sogar den Augen in Berührung, brennt es stark. Zur irrealen Stimmung dieses seltsamen Sees trägt bei, dass alle Aktivitäten in Zeitlupe abzulaufen scheinen, sobald man das Wasser betritt. Ganz langsam steigen die Badenden ein, denn der Auftrieb macht schnelle Bewegungen unmöglich. Langsam und vorsichtig bewegen sie sich, um Spritzer zu verhindern. Hier kann man nicht schwimmen oder gar toben, nur einfach ruhig im Wasser sitzen oder liegen. Ich lege mich hin, strecke Beine und Arme von mir und lasse mich schwerelos auf dem Wasser treiben. Auch der Kopf ruht auf dem Wasser, die Ohren knapp unter der spiegelglatten Wasseroberfläche. Blubbernde, schwerelose Ruhe.

Kein Lüftchen trübt die Wasseroberfläche. Das ist wohl die Bedingung für eine neue Entdeckung, die ich heute mache: an einem Punkt des in der Sonne glitzernden Wasserspiegels steigen grosse Blasen auf, wie in einem Sprudelbad. Durch das klare Wasser sehe ich ein etwa 30 cm grosses, dunkles Loch auf dem Meeresgrund. Am Anfang habe ich ein unangenehmes Gefühl und befürchte, dass das Loch in diesem Science-Fiction-See aufklaffen und mich verschlingen könnte. Dann wage ich es langsam, meinen Fuss dem Loch zu nähern. Heisses Wasser steigt in starkem Strom aus dem Loch! Ich habe eine Heisswasser-Quelle auf dem Meeresboden entdeckt! Das Natur-Sprudelbad ist super angenehm. Leider fehlen irgendwelche Festhaltevorrichtungen, damit ich auf den Massagedüsen dieses Natur-Jacuzzi sitzen kann. Meine Versuche scheitern immer wieder, der Heisswasserstrom treibt mich weg. Nach mehreren Versuchen gebe ich auf und lege mich wieder in Relax-Lage auf den Rücken – das einzige, das man hier machen kann.


Mittwoch, 12. Oktober 2022

Das Passwort zum Hamsterrad




Die Flugtickets buchten wir im April. Damals schien der Urlaub Ende September nicht absehbar. Lange Monate des Wartens und der Vorfreude vergingen im Schneckentempo. Die Sommermonate waren arbeitsreich. Ich sass am Schreibtisch, während viele meiner Mitarbeiter wegfuhren und braungebrannt wiederkamen. Mit einer Vollzeitstelle, vielen Überstunden und Hausarbeit am Wochenende bleibt nicht viel Freiraum für Ausbrüche aus dem Alltag. Oft habe ich das Gefühl, dass mein Leben aus Schlafen und Arbeiten besteht. Ich finde nicht einmal Zeit, den verdienten Lohn zu verprassen und zum Glück auch kaum Zeit für die Frage nach dem Sinn.

September. Die Reisedaten rückten näher, der Urlaub wurde greifbar, die Vorfreude stieg. Als die Tage vor der Reise an den Fingern einer Hand abzählbar waren, verbrachte ich schlaflose Nächte vor Freude und Aufregung.

Dann endlich, kaum zu glauben, ging es los. 

Weitläufige Flughäfen, Menschen in seltsamer Kleidung, unbekannte Städte. Fahrten durch unbetretene Landschaften. Unendlicher Wald in Herbstfarben. Fremdartige Dörfer, seltsam gebaute Häuser. Ungewohnte Schriften. Seen, Flüsse, felsige Strände. Versteckte Buchten, glitzernde Sonne im Meer. Farbige Märkte. Eine unbekannte Sprache, offenherzige Menschen. Fremde Speisen, die entdeckt werden wollen. Hotels, zu weiche Betten, unbequeme Kissen. Aufstehen am Morgen und in den Tag hinein leben. Familie, die ich lange nicht mehr gesehen habe. Gute Laune, Ferienstimmung. Geburtstagsfeiern, unser Hochzeitstag. Zeit haben füreinander.


Mit näher rückendem Ende des Urlaubs verging die Zeit immer schneller. Viel zu plötzlich wieder der Rückflug. Am Flughafen der Sohn, der nach einem halben Jahr in Mittelamerika wieder zu Hause ist. Gäste zum Laubhüttenfest.

Unzählige neue Eindrücke, Erlebnisse, Abenteuer. Tage des Staunens und Geniessens, ohne Blick auf die Uhr.

Ich kann nicht behaupten, dass ich mich keinen Moment um die Arbeit gekümmert hätte. Ab und zu überflog ich die E-Mails auf dem Handy, die wichtigsten beantwortete ich. Offensichtliche Krisen gab es keine und den grössten Teil der Zeit konnte ich wirklich abschalten. Innehalten von allem, das mich in normalen Zeiten fast rund um die Uhr beschäftigt.


Aber irgendwann ist er da, dieser Moment. Der Moment, in dem ich mich wieder vor den Computer setze und mich einlogge.

Ich zögere einen Augenblick. Muss das sein? Nie ist mir diese Passworteingabe schicksalshafter vorgekommen. Die Diskrepanz zwischen allen Raum einnehmendem Alltagstrott und dem grenzenlosen Abenteuer Urlaub ist gigantisch und auffälliger denn je.

Dann gebe ich das Passwort ein. Das Hamsterrad setzt sich in Bewegung.



Donnerstag, 8. September 2022

Russische Elefanten



Vor einigen Wochen – vielleicht sind es auch schon Monate – habe ich mir Dostojewskijs „Schuld und Sühne“ auf den Kindle geladen. Sehr weit bin ich unterdessen mit dem Lesen dieses 800-Seiten-Wälzers noch nicht gekommen. Die Sätze sind lang, die Personen mit ihren russischen Namen – teils mit Spitz- oder Kosenamen bezeichnet – vielzählig und wer nicht am Ball bleibt und in einem durchliest, ist bald verwirrt. Es ist kein einfaches Unterfangen, diesen Roman zu lesen, aber etwas Konzentrationsübung kann in unserer flüchtigen Welt nur von Vorteil sein. Doch trotz allen guten Vorsätzen war dieses Projekt für mich schon sehr nahe am Scheitern – bis ich gestern zufällig auf den Film „Die Frau mit den 5 Elefanten“ gestossen bin.

"Die Frau mit den 5 Elefanten" ist die Übersetzerin Swetlana Geier. Die fünf Elefanten sind die fünf grossen Romane von Fjodor Dostojewskij: „Verbrechen und Strafe“, „Der Idiot“, „Böse Geister“, „Die Brüder Karamasow“ und „Ein grüner Junge“.
Swetlana Geier kam 1923 als einziges Kind russischer Eltern in Kiew zur Welt. Sie besuchte eine einfache Schule und nahm auf Veranlassung der Mutter Privatunterricht in Deutsch und Französisch.
Im September 1943 verliessen Swetlana und ihre Mutter Kiew und wurden in Dortmund in ein Ostarbeiterlager interniert.
Nach Kriegsende studierte Swetlana in Freiburg Germanistik und Vergleichende Sprachwissenschaft. Sie heiratete, wurde Mutter zweier Kinder, wurde geschieden und starb 2010, als Oberhaupt einer grossen Familie mit zahlreichen Enkeln und Urenkeln, in Freiburg.


Doch während man sich unter der genialen Übersetzerin dieser Klassiker der Weltliteratur vielleicht eine elegante Dame oder eine zerstreute Professorin vorstellen würde, war Swetlana äusserlich eine bucklige alte Grossmutter, die ein einfaches – heute würde man sagen nachhaltiges – Leben führte. Sie lebte und starb in einem alten „Grossmutterhaus“, das mit seinem Keller, mit den Einmachgläsern und der altmodischen Küche ein Überbleibsel aus einer anderen Welt zu sein schien. Wenn sie nicht las oder übersetzte, kaufte sie frisches Gemüse auf dem Markt, kochte für die Enkelkinder und bügelte ihre weissen Schürzen. Sie war eine Frau, die sich Zeit nahm – für alles. Fürs Teetrinken, fürs Gemüse rüsten, fürs Bleistiftspitzen, und natürlich für die Sprache und das Übersetzen, ihre grosse Leidenschaft.

Das ist wohl der zentrale Grund für die Magie und Sehnsucht, den dieser Film bei den Zuschauern erweckt. Alles an Swetlana schien bedächtig und aufmerksam, die Lebensumstände schlicht und unkompliziert. Aber sie war brillant und faszinierte gerade aufgrund dieses Gegensatzes von Brillanz und Einfachheit. Ihre grenzenlose Liebe zur Sprache ist im Film allgegenwärtig. Das Spiel mit der Sprache lässt ihr Gesicht aufleuchten und ihre Augen strahlen. Der Film macht auch deutlich, wie wichtig ihr die Musikalität der Sprache war. Die Werke Dostojewskijs mussten für sie Symphonien gewesen sein. Zum Korrigieren liess sie sich ihre Übersetzung vorlesen. Sie musste den Text hören, sonst wäre sie wohl beim Selber lesen in den Buchstaben verloren gegangen.

Dass die Übersetzungsarbeit Silbe für Silbe und Wort für Wort mündlich diktiert und per Schreibmaschine getippt stattfand, war angesichts dieser Person fast zu erwarten und ist doch gleichzeitig fast unfassbar.

Der Film liess mich elektrisiert zurück und verschaffte mir einen ganz neuen Blickwinkel auf mein persönliches „Dostojewskij-Projekt“.  Zum Autor Dostojewskij selbst – einem vor zweihundert Jahren in Russland geborenen Menschen – einen Bezug zu finden fällt mit schwer. Aber nun sehe ich bei jedem Wort in der deutschen Übersetzung diese eindrückliche Frau mit ihren lebhaften blauen Augen, höre ihre Stimme beim Übersetzen und das Klappern der Schreibmaschine. So wird jedes Wort zu einem klingenden Erlebnis. Vielen Dank an eine ganz ausserordentliche Frau!

Samstag, 20. August 2022

Diese Woche

Das Töchterchen springt zu steil Kopf in ein nicht sehr tiefes Schwimmbad und taucht blutüberströmt auf. Freunde fahren sie zu uns und der Vater eilt mit der Verletzten in den Notfalldienst, wo die aufgeplatzte Braue genäht wird.

P.S. Das Kind ist 27 Jahre alt.


Unser Menüplan sieht diese Woche etwa so aus:
Müsli mit Mango zum Frühstück
Freekeesalat mit gebratenem Tofu, Fetakäse und Mangostückchen zum Mittagessen
Mango-Eiscreme zum Dessert
Mango „einfach so“ zum Zvieri
Blattsalat mit Mango zum Abendessen
Kurzum: es ist Mangosaison. Nachdem ich am Freitag die letzten fast zehn Mangos für ein Picknick kleingestückelt habe, sind die wohl etwa hundert Früchte unserer Ernte vertilgt.
 



Der Popsänger Zvika Pick, der als einer der musikalischen Schätze Israels galt, stirbt im Alter von 72! Ich habe ihn sehr geschätzt und seine Musik geliebt. Der Tod dieses begabten Sängers ist ein grosser Verlust. Nun höre ich in Trauer seine wunderbaren Lieder.




Unser Sohn Itay feiert 25 Lenze. Nach drei Jahren im Militär und zwei Jahren in der Schweiz bereist Itay in den vergangenen sechs Monaten Mexiko, deshalb feiern wir auch diesen Geburtstag getrennt.
    Sowieso, denke ich, müssten an Geburtstagen eher die Mütter gefeiert werden als die Kinder. Ich bin doch die eigentliche Heldin dieses Tages. Er kann sich jedenfalls bestimmt nicht daran erinnern, wie mir an diesem Tag vor 25 Jahren der Bauch aufgeschnitten wurde und wie er, ein wunderbares Riesenbaby von fast 4.4 kg, unter Ziehen und Dehnen herausgehoben wurde. Die erste Berührung seiner Wange an meiner wird mir auf Ewig in Erinnerung bleiben: Es war die flauschigweichste Berührung, die ich je erlebt hatte! Und sie roch nach Zuckerwatte!
    Itay weiss auch nicht, dass ich kurz nach diesem aufwühlenden Moment tagelang mit schmerzendem Bauch und Achterbahn fahrendem Hormonhaushalt schluchzend durch die Korridore der Geburtenabteilung schlurfte. 
    Zuhause wurde es mit dem gefrässigen unruhigen neuen Baby, das nun zu der nur wenig älteren Schwester hinzukam, nicht einfacher. Es gab viele schöne, besondere, aufregende und lustige Momente mit diesem intelligenten, eigenwilligen und charakterstarken Kind mit seinem umwerfenden Humor, aber auch viele Schwierigkeiten und Sorgen.
    Und jetzt macht das freche Ding mit dem Motorrad Mexikos Strassen unsicher und lässt sich den Geburtstag feiern!

Am Seeufer entlang spazierend behauptete Itay, als ich ihn vor etwa zwei Jahren in Zürich besuchte, dass er nie sesshaft sein möchte, nie eine geregelte Arbeit aufnehmen und nie heiraten werde. Na gut. Wenn er nur zufrieden ist, dann bin ich es auch. Ich wünsche ihm alles denkbar Gute in seinem Nomandenleben und hoffe, dass er vielleicht doch an einem seiner nächsten Geburtstage ein Stück Kuchen mit uns essen wird.



Ein SUP-Gruppenausflug, den ich mir als angenehme Entdeckungsreise entlang versteckter Buchten auf spiegelglattem Meer vorstelle, entpuppt sich im Laufe des Morgens als mehrstündige anstrengende sportliche Aktivtiät mit sehr herausforderndem Wellengang. Na ja, das macht auch Spass, nur anders. Jetzt bin ich Weltmeisterin im Gleichgewichthalten, das soll ja besonders wichtig sein, wenn man älter wird! Dass ich im Moment einige Stunden Entspannung nötiger hätte als sportliche Auszeichnungen, lassen wir mal beiseite. Im Herbst soll das Meer ruhiger werden, dann werde ich bestimmt noch auf meine Kosten kommen.









Samstag, 6. August 2022

FreierMorgenAlleinezuHauseGuteLauneTätigkeiten:



Wissen sie, welche wichtige Geschmackskomponente in gekauftem Holunderblütensirup fehlt? Richtig – Sonne!
Holunderblütensirup muss im Spätsommer mehrere Tage in einem grossen Becken im Schatten vor sich hindümpeln, bevor er aufgekocht und in Flaschen abgefüllt wird. Dann ist Holunderblütensirup greifbar gemachte Sonne in Flaschen. Das ist mir heute morgen klar geworden, unter anderem.


FreierMorgenAlleinezuHauseGuteLauneTätigkeiten:



Gleich nach dem Aufstehen im Garten die reifen Mangos auflesen, die vom Baum gefallen sind

Mango zum Frühstück essen, dazu die gestern gekauften von süsser Reife aufgeplatzten Feigen

Youtube-Playliste hören (gerade so laut, dass man die Luftschutzsirene noch hören würde)

Einen Hefeteig anrühren und Zöpfe formen (nur diesen, nicht irgendeinen)

Lied Everybody's Free von Baz Luhrman’s mehrere Male hintereinander anhören und den Text verinnerlichen

Zum Beispiel

Don't waste your time on jealousy
Sometimes you're ahead, sometimes you're behind
The race is long and in the end, it's only with yourself
Und

Dance, even if you have nowhere to do it but your own living room

Lillet Holunder trinken (4 cl Lillet blanc, 2 cl Holunderblütensirup, etwas Sekt und Sprudelwasser), dazu frisch gebackenen Zopf essen

Sich an den hausgemachten Holunderblütensirup deiner Kindheit erinnern 

Ganz alleine zum Lied It’s Wonderful von Paolo Conte durch die Stube tanzen





Mittwoch, 3. August 2022

Eine Türe weiter

Als ich kürzlich zwei neuen Bekannten erkläre, was und wo ich arbeite, reagieren sie mit offensichtlichem Mitleid und Abneigung. Die Frau, eine Künstlerin (eine richtige, nicht so eine Feierabend-Künstlerin wie ich) rümpft sogar ungeniert die Nase und kann sich ein “Oh wie schrecklich!“ nicht verkneifen. Dabei arbeite ich nicht etwa bei der städtischen Müllabfuhr. Aber – ich bin wohl das, was man sich allgemein unter einem grauen Computermäuschen vorstellt. Meine Arbeit auf dem Gebiet regulatorische Anforderungen für die Zulassung von Medikamenten lässt nur wenig Raum für individuelle Interpretationen, fordert akribisch genaues Detailwissen und konzentrierte Arbeit am Computer. Der stereotypische Beamte, der sich im stillen Kämmerlein in sisyphischer Arbeit mit Dokumentenbergen abschindet, bis er eines Tages vom Stuhl fällt – er könnte tatsächlich, wie ich, an der Zulassung von Medikamenten bei Gesundheitsbehörden gearbeitet haben.

Nun drängt mich nicht das Verlangen, dieses Stereotyp zu widerlegen oder mich zu rechtfertigen. Aber die negativen Reaktionen haben mich doch etwas erschüttert und ich frage mich, wie ICH es eigentlich ertrage, auf einem Fachgebiet zu arbeiten, das andere "schrecklich" finden. 

Tja, was kann man machen, nicht jedermann blüht auf in Zusammenarbeit mit anderen Menschen, mit Schülern, Patienten oder Kunden. Ich persönlich bin und arbeite gerne alleine. Im Alleinsein schöpfe ich meine Kraft. Soziale Kontakte brauche ich nur sehr genau dosiert. Stundenlang alleine und ungestört etwas zu werkeln, dabei Musik zu hören und den Tagträumen freien Lauf zu lassen ist für mich auch in meiner Freizeit der erfüllendste Zeitvertrieb überhaupt. 

Ich habe vielfältige Talente und Hobbys. Aber auch in meiner Kreativität bin ich, ohne mich anzustrengen, akribisch genau. Während meine Geschwister als Kinder die Freizeit in gängigen Jugendbewegungen verbrachten, baute ich meiner fünf Zentimeter grossen Puppe einen Wohnwagen aus Streichhölzern mit detailgetreuer Inneneinrichtung und spannte ein kleines Holzpferdchen vor, damit sie auf Reisen gehen konnte. Als ich vor einigen Jahren einen Töpferkurs besuchte, lachten die Kursteilnehmer über die millimetergenaue Exaktheit meiner künstlerischen Resultate. Obwohl ich meinen Händen freien Lauf gelassen hatte, behaupteten sie, ich besässe ein eingebautes Lineal. 

Der Weg zu meinem „langweiligen“ Beruf hingegen verlief eher kurvenreich. Als ich im zweitletzten Jahr das Gymnasium verlassen wollte, um Schneiderin zu lernen, legten meine Eltern ein kräftiges Veto ein. Sie wollten mir beibringen, etwas Angefangenes zu Ende zu bringen und heute verstehe ich, dass dieses Konzept manchmal seine Richtigkeit haben kann. Mein Wunsch, Schneiderin zu lernen wurde nach der Matura verdrängt von einem diffusen aber chronischen Fernweh und in meiner jugendlichen Verwirrtheit glaubte ich, dass das Studium der Ethnologie die Anwort darauf sein könnte. Ein klägliches Semester lang konnte ich das Gefühl nicht ablegen, eine ziellose und verlorene Studentin unter ziellosen und verlorenen Studenten zu sein. Dann warf ich das Konzept, alles Angefangene zu Ende bringen zu müssen, über den Haufen und beschloss, doch einen kreativen Beruf zu lernen. Aber unterdessen kam zu meinem chronischen Fernweh die Bekanntschaft mit einem jungen Mann aus Israel und schlussendlich konnte mich auch die eben bestandene Aufnahmeprüfung an die Kunstgewerbeschule nicht mehr halten.

In Israel musste ich meinen Lebensunterhalt verdienen und konnte, ohne Ausbildung, ohne Hebräischkenntnisse und ohne Arbeitsbewilligung nicht mehr wählerisch sein. Über einige grandios gescheiterte Versuche als Kellnerin erkämpfte ich mir langsam den Weg in ein geregeltes Arbeitsleben und zu einem Lohn, mit dem ich einen gleichwertigen Beitrag an unser wachsendes Familienbudget beisteuern konnte. Als mir eine Stelle als anzulernende Sachbearbeiterin in einer renommierten pharmazeutischen Firma angeboten wurde, zögerte ich keine Sekunde. Und seither baue ich in sisyphischer Kleinarbeit im stillen Kämmerlein Dokumentenberge ab… 

Nein, so traurig ist es natürlich nicht, auch wenn es so aussehen mag.

Die Jahre in der Firma waren geprägt von vielen verschiedenen Abschnitten, Änderungen und Entwicklungen. Herausfordernde Projekte lösten sich mit langweiligeren Phasen ab. Als unsere Kinder klein waren, passten mir vor allem die gleitende Arbeitszeit und das Verständnis für die Bedürfnisse einer jungen Mutter. Ab und zu brachten mich unausstehliche Mitarbeiter oder einfach der Wunsch nach Veränderung dazu, nach einer anderen Arbeit Ausschau zu halten. Meistens stellte sich dann heraus, dass ich in dem sprichwörtlichen goldenen Käfig sass, aus welchem auszubrechen man schon sehr zwingende Gründe haben musste. Dass die finanzielle Belastung unserer Familie nicht nur auf den Schultern meines Mannes lasten sollte, war und ist mir noch immer wichtig.

Zum Glück habe ich neben meiner Arbeit immer Zeit für meine Hobbys, für Sport und meine kreative Ader gefunden. Dass man mit Handarbeiten, oder überhaupt den Dingen, die einem wirklich gut tun, kein Geld machen kann, habe ich schon lange akzeptiert. Und ja, kann sein, vielleicht habe ich einfach nicht genug Courage oder künstlerischen Drang.


Einmal bin ich in einem schicken Züricher Altstadtquartier vor der kleinen Boutique einer Maßschneiderin stehengeblieben. Über die eigenwilligen, genau gearbeiteten und sehr teuren Modelle im Schaufenster erhaschte ich einen Blick auf die Fachfrau im Hintergrund und mein Herz machte einige Sekunden Pause. Das hätte ICH sein können. Genau so. Hier in Zürich. Ich hätte meine Tage mit dem Entwerfen und Schneidern schöner Kostüme verbringen können. Mit vielfältigen inspirierenden Stoffen, anstatt mit peniblen Regelungen und akribischer Computerarbeit.

Aber wie wäre der Rest meines Lebens verlaufen, wenn ich diese Türe geöffnet hätte und nicht eine andere? Ich hätte mit ziemlicher Sicherheit eine andere Familie. Vielleicht hätte ich die bereichernde Erfahrung in einem anderen Land zu leben verpasst. Vielleicht hätte ich Ärger mit dem Ladenvermieter oder mit launischen Kundinnen. Ich hätte ein anderes Leben. Ein besseres Leben? Das werde ich nie wissen. Immerhin habe ich noch Träume. Das mit der Schneiderin werde ich vielleicht verwirklichen, wenn ich pensioniert bin oder halt in einem nächsten Leben.

Doch, ich habe Grund genug, meine Arbeit zu mögen, obwohl das Fachgebiet auf den ersten Blick für viele abschreckend sein mag. Ich habe viel Freiheit, einen guten Lohn, mein Wissen und meine Erfahrung werden geachtet. Ich schätze es, dass ich mich immer wieder mit kniffligen, organisatorischen und auch mentalen Herausforderungen auseinandersetzen muss. Unterdessen leite ich ein Team und viele Projekte. Es kostet mich einige Überwindung, Angestellte zu leiten, aber auch das ist eine bereichernde Erfahrung. Es erfüllt mich mit Genugtuung, dass ich tatsächlich nützliches Fachwissen weitergeben kann und jüngere Mitarbeiter von mir lernen. Dabei bin ich immer wieder überrascht, dass – trotz wiederholter Betonung, wie wichtig in diesem Fach die Beachtung der kleinsten Details ist – mich in meiner akribischen Genauigkeit einfach keiner schlagen kann.

Die Fotos in diesem Beitrag sind einige meiner Feierabendprojekte.






Mittwoch, 22. Juni 2022

Nazareth

Liebe Leser, falls Nazareth und die heiligen Stätten des Christentums dieser Stadt auf ihrer Wunschliste stehen, vielleicht im Rahmen einer Pilgerreise – seien sie gewarnt.

Es mag in Nazareth einige interessante Ecken geben, aber sonst ist der Besuch in Jesu Geburtsstadt ernüchternd. Die Altstadt ist heruntergekommen, in den Strassen rinnt schmutzig-braunes Wasser unklarer Herkunft. Die Fassaden und Gehsteige sind verrottet und nicht nur in den Hinterhöfen sammelt sich der Abfall. Gebäude sind schlecht unterhalten, die Stadt scheint chaotisch geplant. Alles in allem – eine stinkende, alles andere als einladende Stadt. Obwohl jedes Kellerloch zum Heiligtum deklariert wird, bleiben die Touristen aus. Der einst pulsierende Markt in der Altstadt ist verwaist. In den Kirchen knien einige verklärte Pilgerer vor den heiligen Altären und Ikonen, aber auch für sie empfinde ich keinerlei Art der Begeisterung, sondern eher Befremden.

Während dem Israelischen Unabhängigkeitskrieg (am Tag nach der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel 1948 rückten reguläre Armeeeinheiten der umliegenden arabischen Staaten Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und Irak in das ehemalige britische Mandatsgebiet ein und griffen Israel an) erhielt Nazareth die Möglichkeit, sich zu ergeben, mit der Konsequenz, dass die etwa 17'000 Einwohner (davon etwa 60 Prozent Christen) in ihren Häusern bleiben konnten. Daraufhin kamen rund 20'000 arabische, meist muslimische Binnenflüchtlinge nach Nazareth.

In der offiziell ethnisch gemischten Stadt Nazareth leben heute über hunderttausend Einwohner, wovon etwa ein Drittel Juden und zwei Drittel muslimische und christliche Araber sind. Das macht Nazareth zur Stadt mit der heute größten Gemeinschaft arabischer Israelis in Israel. 

Die kulturellen Unterschiede zwischen den Ethnien sind haarsträubend: Der Übergang vom arabischen in den jüdischen Teil der Stadt, heute Nof Hagalil genannt, kommt einer Reise in ein anderes Land gleich. Hier sind die Strassen breit und sauber und die Häuser einigermassen modern und gut unterhalten, auch wenn Nof Hagalil nicht gerade eine der High-Society Städte Israels ist.

Im arabischen Teil der Stadt scheinen sich Auto-Rowdies uneingeschränkt austoben zu dürfen. Auffallend viele Autos der einschlägigen Marken rasen durch die engen steilen Strassen der Altstadt, sodass man als Fussgänger um sein Leben bangen muss, zumal man oft wegen der nicht vorhandenen oder nicht begehbaren Gehsteige gezwungen ist, mit den Rowdies die Fahrbahn zu teilen. Auch dass die Macho-Luxus-Karrossen überall da abgestellt werden, wo kein ausdrückliches Fahrverbot markiert ist, scheint hier keinen zu stören.
Damit einhergehend ist wohl das Ergebnis einer Studie im Auftrag des israelischen Ministeriums für öffentliche Sicherheit, dass die Einwohner Nazareths von allen Bürgern Israels das größte Risiko haben, Opfer einer Straftat zu werden.


Schuld an der Misère der Stadt ist wohl hauptsächlich die arabische Stadtregierung. Der Disput „Warum sollen wir Steuern zahlen, wenn wir keine Dienste dafür bekommen?“ gegenüber „Wie sollen wir Dienste leisten, wenn keine Steuern bezahlt werden?“ ist so unlösbar wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Und das ist wohl nur eines der geringeren Probleme. In der Stadtregierung beschuldigt man sich gegenseitig über christliche Privilegien, welche die eine Front verteidige und islamischen Chauvinismus, den sich die andere Front zunutze mache.

Ich weiss nicht, was sich die ersten jüdischen Einwanderer oder die Staatsgründer Israels gedacht hatten. Hatten sie irgendwelche Vorstellungen, wie die unterschiedlichen kulturellen Werte der Völker, die hier zusammenleben sollten, in Zukunft zu überbrücken oder auch nur zu ertragen sein könnten? Bestimmt hatten sie keine Ahnung, welche Ausmasse die Probleme hundert Jahre später annehmen würden. Vielleicht dachten sie, die anderen Ethnien und die mit ihnen verbundenen Probleme würden sich mit den Jahren in Luft auflösen. Dabei ist genau das Gegenteil passiert.

Das Freiluftkonzert, welches wir am Donnerstagabend besuchten, war hingegen ein einschlägiger Erfolg, wie es von dem bekanntesten und beliebtesten israelischen Sänger Schlomo Artzi zu erwarten ist.

Während die Altstadt von Nazareth in einer Geländemulde liegt, ist das neue Amphitheater in Nof Hagalil (wo das Konzert stattfand) auf das umliegende Hügelland gebettet. An den meisten Sommertagen ist die Fernsicht aufgrund des Hitzedunstes schlecht, aber nachts ist es hier angenehm kühl und luftig und man kann in der Ferne den Berg Tabor, den See Genezareth und die Lichter Tiberias erkennen. Die markanten Umrisse des Berges Tabor in der Nacht erinnern mich daran, dass ich schon einmal in dieser Gegend „vorbeigekommen“ bin, anlässlich meiner Wanderungen auf dem Shvil Israel. Das entsprechende Foto ist schnell gefunden. 


Eine schöne Gegend! Schade, dass sowohl die Bewohner der Stadt als auch die zuständigen Behörden keinerlei Motivation, Initiative und vielleicht auch Möglichkeit haben, die Stadt auf Vordermann zu bringen.


Donnerstag, 16. Juni 2022

Von Basel nach Nazareth





Wie immer ist mein Besuch in der Schweiz von gemischten Gefühlen geprägt. Während der fünftägigen Reise durchlebe ich von himmelhochjauchzender Begeisterung bis zum dringenden Wunsch, möglichst schnell wieder zu verschwinden, das ganze Repertoire an Gefühlen, begleitet vom grossen Staunen eines Kindes über die Verschiedenheit der Orte, der Leben und der Kulturen.

Basel – was für eine wunderschöne Stadt! Ich flaniere durch die Altstadt, das Münster, die Einkaufsmeilen und bewundere den eindrücklichen Rhein, der breit und dominant die Stadt durchzieht und die zahlreichen Passanten und Touristen. Ich geniesse ein Schoggiweggli und Kaffee bei Sutterbeck. Einen feinen Flammenkuchen und ein Glas Wein am Spalenberg. Wie immer darf eine Rheinüberquerung mit der Fähre nicht fehlen. Ich bin begeistert von den langen Abenden, die die Bewohner Basels für ein gemütliches Chill-Out auf den Rheintreppen nutzen. Ich entdecke die perfekte Eiscreme von Gasparini. Meine Jahre am Basler „Gymi“ habe ich als eher bedrückend, geprägt von seelischem Durcheinander und Notenstress in Erinnerung. Für die Schöhnheit der Stadt hatte ich damals keine Augen. Jetzt dafür umso mehr.

Am Wochenende das Familientreffen im wunderschönen grossen Garten meiner Eltern. Es ist wie in einem klischeehaften französischen Film: ein langer gedeckter Tisch im Schatten eines riesigen Nussbaums, kühler Wein und feine Apero-Häppchen, im Hintergrund eine riesige Paëlla am Köcheln, fröhlich plaudernde Menschen, von den einige, um die filmartig kitschige Stimmung perfekt zu machen, auch noch französisch parlieren!

Am Sonntag reisen die Gäste ab, die Läden sind geschlossen und das Wetter schlägt um. Sturmartige Regenfälle stürzen auf uns hernieder. Ich fühle mich krank, eine Grippe oder Erkältung bahnen sich an. Ich treffe Leute, zu denen ich – obwohl sie Leben zu führen scheinen, die meinem ähneln – keinen Draht finde. 
Ich beginne wieder einmal zu ahnen, dass mir hier, in diesem Dorf in dem ich aufgewachsen bin, sehr schnell die Decke auf den Kopf fallen könnte.

 

Ein weiteres Familientreffen in kleinerem Rahmen, zum Abschluss sozusagen, dann fliege ich zurück in die Hexenküche Israel. Spätestens in Tel-Aviv, wo die Abfahrtstafel im Bahnhof um 18:54 einen Zug anzeigt, der um 18:51 abfahren „wird“ weiss ich, dass mich das Land des „Balagan“ wieder hat.

Leider habe ich aus der Schweiz ein völlig unnötiges Souvenir mitgebracht: Corona! Die Krankheit ist tatsächlich recht unangenehm, mit wechselnden Grippesymptomen, grosser Müdigkeit und leichter Atemnot, verläuft aber einigermassen erträglich, wahrscheinlich dank der Impfungen.

Etwa zehn Tage nach Ausbruch der Krankheit fühle ich mich fast wieder „wie gehabt“ und freue mich jetzt auf einen Wochenendausflug nach Nazareth, einschliesslich eines Konzertes am Abend und Übernachtung in einem vielversprechenden B&B.

Liebe Leser, ich werde die Gelegenheit nutzen und in den Kirchen Nazareths für uns alle beten! Dass wir von Corona und anderen Krankheiten verschont bleiben mögen, dass wir viel Eiscreme essen werden und überhaupt noch viele bereichernde Erlebnisse werden erfahren dürfen. Und dass vielleicht eines Tages auch in Israel Züge nach einem nachvollziehbaren Zeitplan fahren werden!

Donnerstag, 28. April 2022

Eine halbe Stunde Leben

Der heutige Tag steht in Israel für das Gedenken an die Opfer und Helden der Shoah.

Am Vorabend des Holocaust-Gedenktags sind Restaurants und andere Orte des Vergnügens geschlossen. In Schulen und öffentlichen Institutionen werden Gedenkanlässe abgehalten. Im Radio wird nur ruhige Musik gesendet. Die bedrückte Stimmung überschattet die ganze Woche.

Ich nehme diesen Tag sehr ernst. Ich arbeite heute zu Hause, aber für die Gedenkminute, die um zehn Uhr von Sirenen im ganzen Land begleitet wird, gehe ich nach draussen und stehe auf dem Gehsteig. Aber auch wenn ich mein ganzes Leben auf dem Gehsteig stehend verbringen würde, wäre es nicht genug, um der unmessbaren Gräueltaten am jüdischen Volk zu gedenken.

Im Fernsehen schaue ich mir die Berichte und Zeugenaussagen der Shoah-Überlebenden an. Wie jedes Jahr bin ich von neuem erschüttert über die unfassbaren und absurden Ausmasse der Vergehen.

Ich höre die Geschichte von David Leitner, dem Überlebenden, auf dessen Unterarm nicht nur eine sondern zwei tätowierte Häftlings-Nummern prangen, die eine davon durchgestrichen. Ein Schreibfehler? Nein, der Junge David wurde im letzten Moment aus dem Vorraum der Gaskammern geholt, weil ein Lastwagen abgeladen werden musste. Auf der Häftlingsliste war der Todgeweihte schon durchgestrichen, deshalb bekam der von den Toten Auferstandene später „einfach“ eine neue Nummer auftätowiert. Er überlebte mehrere Konzentrationslager und den Todesmarsch als Vierzehnjähriger. Von seiner Familie blieben nur er und sein Bruder am Leben.

Ich verfolge auch den offiziellen Gedenkanlass des Staates Israel. Jedes Jahr werden sechs Holocaust-Überlebende ausgewählt, um Fackeln zum Gedenken an die sechs Millionen während des Holocaust ermordeten Juden zu entzünden. Die jetzt noch Überlebenden waren Kinder zur Zeit der Shoah und ihre Geschichten sind himmelschreiend unfassbar. Hier sind die Geschichten der Fackelanzünder von 2022.


Der Premierminister Naftalie Bennett stellt in seiner Ansprache ein Gedenkblatt vor, das ich nicht werde vergessen können (Gedenkblätter werden von Angehörigen oder Bekannten zum Gedenken an Juden, die während der Schoa ums Leben kamen ausgefüllt. So sollen die Namen und Andenken jedes einzelnen Menschen verewigt werden, der sein Leben wegen Angehörigkeit zum jüdischen Volk hingab oder gegen den Nazifeind kämpfte):


Gedenkblatt für:


Familienname: Reich

Vorname: (Leer)

Geburtsort: KZ Auschwitz

Todesort: KZ Auschwitz

Todesursache: Von der Mutter erstickt

Alter: eine halbe Stunde

Besonders bedrückend empfinde ich es an diesem düsteren Tag, bei einem Blick in die deutschsprachigen Medien festzustellen, dass in Europa der Alltag einfach weitergeht, während uns hier vor Bedrücktheit das Atmen schwer fällt. Auf Facebook und Instagram werden (bestenfalls) Katzenvideos und Kochrezepte geteilt, als wäre dies ein Tag wie jeder andere.

Bezeichnenderweise findet der Holocaust-Gedenktag wenige Tage vor dem Unabhängigkeitstag statt. Die Unabhängigkeit des Staates Israel ist mit der Shoah, der tiefsten Trauer, dem Tiefpunkt der Geschichte, eng verbunden.

An diesem einen Tag sind meine allfälligen Zweifel am dreijährigen Militärdienst unserer Kinder wie weggewischt. Israel muss bestehenbleiben, es darf nie mehr Vergangenheit sein. Die Juden haben keinen anderen Zufluchtsort. Was Menschen auf der ganzen Welt darüber denken mögen, ist mir egal. Auf die Hilfe Anderer ist kein Verlass.

Dienstag, 19. April 2022

Unterdessen blüht der Rasen




Einen Instagram Account zu unterhalten mögen viele Leute, vor allem in meinem Alter, überflüssig oder nutzlos finden. Andere, zum Beispiel meine Tochter Lianne, sind im festen Glauben, dass sich in diesem Social-Media-Tool das reale Leben abspielt, während mein Leben nur eine Scheinwelt ist. Deshalb ist es mir wichtig, wenigstens einen kleinen Einblick in dieses Parallel-Universum zu erhaschen. Und es macht mir Spass, von meinen Töchtern über den Umgang mit der App zu lernen.

Vor allem aber fotografiere ich gerne und auf Instagram finde ich das passende Publikum für meine Landschafts- und Naturfotos. Im Gegenzug verfolge ich Fotos anderer Landschaftsfotografen, Interior- und Strick-Designerinnen. Zugegeben, man kann beim endlosen Scrollen verlorengehen, aber es macht ja auch nichts, wenn der Rasen einmal ein paar Tage blühen darf, anstatt gemäht zu werden. So habe ich zum Beispiel heute morgen erfreut festgestellt, dass ich eine gelbe Blumenwiese im Garten habe.

Auch beim Instagram-Durchscrollen gibt es erleuchtende Momente: Ein Foto, das sich von anderen abhebt und das mich innehalten und einige Sekunden einfach betrachten und verweilen lässt. Ein Blickwinkel, der vielleicht sogar ein Lächeln auf mein Gesicht zaubert.



Beim Blogs lesen oder Blogbeiträge schreiben verhält es sich ähnlich. Blogschreiben ist für mich Sprachgymnastik, Freude an Worten und Texten und manchmal auch Gedankenordnen. Blogs Lesen ist reines Vergnügen. Im Laufe der Jahre habe ich eine Leseliste bevorzugter Blogs zusammengestellt, die ich ab und zu durchschaue. Beiträge einiger Blog-Autoren lese ich immer, andere überfliege ich meist, je nachdem ob etwas meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Und manchmal stosse ich auf Beiträge, die mich einige Momente innehalten, nachdenken, schmunzeln und einfach geniessen lassen.

Zum Beispiel diese zwei:


Sonntag, 10. April 2022

Terror in Tel-Aviv



„Ich wünsche uns allen, dass wir von Trauer und Leid verschont bleiben. Ich denke an die vielen Betroffenen, in diesen Tagen des Terrors und des Krieges.“

Während ich am Donnerstagabend, zwar zeitgemäss aber nichtsahnend, diese Zeilen schreibe und veröffentliche, ist ein junger Mann aus Dschenin, der dazu erzogen worden ist, Terror und Tod mehr zu achten als das Leben, im Bus nach Tel-Aviv unterwegs.

Meine beiden Töchter probieren zur selben Zeit im Dizengoff-Shoppingzentrum Bikinis für den bevorstehenden Sommer an. Sie schicken lustige Fotos aus der Umkleidekabine. Etwas später gehen sie zum Dizengoffplatz, um Freunde zu treffen. Sivan wohnt nur wenige hundert Meter entfernt von dem Platz mit dem Springbrunnen. Wie jeden Donnerstagabend finden sich hunderte unbekümmerte junge Leute hier ein, um das bevorstehende Wochenende zu feiern.

Dann schlägt die Stimmung in Sekundenschnelle um. Schreiende Menschen kommen den Mädchen entgegengerannt. Sie rufen „Terroristen!“ und „Attentat!“ und reissen jedermann mit. In den umliegenden Bars und Restaurants werfen erschreckte Leute Tische und Stühle um und laufen um ihr Leben. Auch meine Töchter und ihre Freunde laufen davon. Sie suchen Schutz in einem Hauseingang. Dort verbringen sie einige Zeit, bis sie in einem Moment der vermeintlichen Sicherheit die weiteren paar Hundert Meter bis zu Sivans Wohnung wagen. Aus den Medien wird bekannt, dass der Terrorist in einer Bar das Feuer eröffnet und dass es bei dem grausamen Attentat Tote und viele Verletzte gegeben hat. Der Terrorist konnte entkommen und war auf der Flucht.

Die Bewohner Tel-Avivs werden gebeten, ihre Wohnungen nicht zu verlassen und sich von den Fenstern fernzuhalten. Im Netz kursieren Videos von Grossaufgeboten an Polizisten, Soldaten und Eliteeinheiten, die Strassen, Hinterhöfe und Wohnungen durchsuchen. Lianne wird klar, dass sie nicht zu dem im Dizengoff-Zentrum geparkten Auto zurückkehren kann und dass sie die Nacht bei ihrer Schwester verbringen wird. In der Wohnung befinden sich noch weitere Freunde, die Schutz suchen. Die jungen Leute machen die ganze Nacht kein Auge zu. Helikopterlärm und Gedanken an wahnsinnige Terroristen, die sich im Gebüsch des Hinterhofs versteckt halten und an schwerbewaffnete Soldaten, die jederzeit an der Türe poltern könnten, lassen sie nicht schlafen. 

Auch ich bleibe lange wach. Dann lege ich mich mit der unangenehmen Erkenntnis schlafen, dass es ein ungeheures Privileg ist, überhaupt in einem sicheren Bett zu liegen.

In den frühen Morgenstunden wird der Terrorist in Jaffa, wo er in einer Moschee Schutz gesucht hatte, gefunden und nach kurzem Schusswechsel erschossen.

Danach wähnt sich Lianne sicher genug, um nach Hause aufzubrechen. Sie geht in Richtung Dizengoff-Parking, am Ort des Attentats, an Scherben, umgeworfenen Stühlen und Tischen vorbei. Dabei wundert sie sich, dass Menschen unterwegs sind, als wäre dies ein Morgen wie jeder andere.

Das Durcheinander unserer Gefühle nimmt kein Ende. Bei Tagesanbruch offenbart sich, dass der Sohn von Eyals Cousin bei dem Attentat erschossen worden ist. Die unsägliche Nachricht lässt sich auf keine Art und Weise mit den Namen unserer Verwandten verbinden, die ich nie anders als lachend und gut gelaunt angetroffen habe. Es ist unfassbar. Wir sind erschüttert. 

Lianne trifft ein und am Nachmittag auch Sivan. Ich bin froh, dass sie mit heiler Haut davongekommen sind, aber mein Herz ist unendlich schwer. Wir sind mit dem Schrecken davongekommen und dieser steckt uns das ganze Wochenende tief in den Knochen. Während der Beerdigung am Sonntag wird das bisschen Schrecken zum hinfälligen Nichts angesichts des unermesslich tiefen Abgrunds, der sich vor Tomers Eltern, seinen Geschwistern und seiner Freundin aufgerissen hat. Für sie wird jetzt nichts mehr sein, wie es war.

Donnerstag, 7. April 2022

Unfall in Tansania (Tag 3)




Neve Shalom / Wahat al-Salam heisst auf hebräisch und arabisch "Oase des Friedens". Der Name steht für ein Dorf zwischen Tel Aviv und Jerusalem, in dem sich Juden und Palästinenser Land, Macht, Alltag und Administration teilen. An einem unserer Wandertage halten wir auf dem kleinen Friedhof des Dorfes inne, der über die Ebene zwischen den Jerusalemer Bergen bis an die Mittelmeerküste blickt.

Auf einem markanten Grabstein entdecken wir eine Aufschrift, die ich hier, frei übersetzt, wiedergeben möchte.


Haltet alle Uhren an
Stellt die Telefone ab
Lasst die Klaviere schweigen
Und die leisen Trommeln
Lasst die Trauergäste kommen
Flugzeuge sollen aufsteigen und in den Himmel schreiben
Sie sind tot

Legt den Tauben Trauerkrawatten an
Und den Polizisten schwarze Handschuhe
Sie waren mein Norden
Sie waren mein Süden
Sie waren mein Westen und mein Osten
Sie waren meine Arbeitstage
Und mein Ruhetag
Sie waren mein Mittag und mein Mitternacht
Sie waren meine Rede und mein Lied
Ich glaubte, die Liebe sei ewig
Ich habe mich getäuscht

Die Sterne sind nicht mehr gewünscht
Lasst sie erlöschen
Packt den Mond ein
Nehmt die Sonne auseinander
Leert die Ozeane aus
Fegt die Wälder leer
Nichts wird mehr sein wie es war


Wir lesen die hebräische Inschrift auf dem verwitterten Stein mehrere Male, bis wir sie allmählich begreifen. Zeile um Zeile entziffernd erahnen wir, dass mehr als ein „herkömmlicher“ Todesfall Grund für die immense Trauer sein muss, die mit diesem Grab verbunden ist. Als wir das Ausmass des Leids erfassen, stehen wir erschüttert an diesem Ort mit seiner spektakulären Aussicht.

Ein kurze Suche auf Google ergibt, dass das Grab und die Inschrift dem ehemaligen Leiter der Friedensschule Ahmad Hijazi und seinem Sohn Adam gewidmet sind, die vor zehn Jahren bei einem tragischen Verkehrsunfall im Urlaub auf Sansibar ums Leben gekommen sind. Mögen sie in Frieden ruhen.

Es ist nicht vermerkt, wer die Trauerzeilen geschrieben hat. War es die Mutter und Ehefrau Maram selbst oder hat jemand ihre tiefste Trauer für sie in Worte umgesetzt? Die Zeilen drücken tiefste Erschütterung aus, ein endgültiges, brutales und abruptes Ende. Unfassbar traurig und bar aller Hoffnung.

Ich wünsche uns allen, dass wir von Trauer und Leid verschont bleiben. Leider gibt es so viele Betroffene, in diesen Tagen des Terrors und des Krieges.

Bedrückt gehen wir weiter.






Freitag, 1. April 2022

Nina geht Baden (Tag 2)

In Israel werden die meisten natürlichen Quellen in menschengefertigten Becken aufgefangen. Das diente vermutlich einst zum Tränken der Tiere, aber auch um die Nutzung des Wassers für verschiedene andere Zwecke zu vereinfachen. Heute werden die Quellen in der Umgebung Jerusalems oft von religiösen Menschen für natürliche rituelle Bäder genutzt. So auch Ein Itamar, eine Quelle mit einladend klarem Wasser. 

Einige junge Männer sind gerade am Baden als wir eintreffen. Jana hat eine ausgeprägte Abneigung gegen alles Religiöse und während wir anderen Wandererinnen noch über das verführerisch blaue Wasser staunen, ist Jana mit zwei der offensichtlich religiösen Männern schon in ein lautes Streitgespräch verwickelt. Wir versuchen, die Streithälse auseinander zu bringen, denn wir möchten lieber in Ruhe das frische Quellwasser geniessen, als politische Fragen auszudiskutieren. Dann bitten wir die Männer, uns Frauen die Quelle für einige Minuten zu überlassen. Warm ist das Wasser bestimmt nicht, aber Nina scheint vom kühlen Nass völlig in den Bann gezogen. Das hellblaue Becken hat eine solche Anziehungskraft auf sie, dass sie – kaum sind die Männer hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden – splitternackt in das Becken springt. Sie scheint sogar vergessen zu haben, dass wir nur vor einer Viertelstunde einige Schulklassen überholt haben, die auf derselben Route unterwegs sind wie wir.

Nach dem Bad schwebt Nina in höheren Sphären. Sie ist überzeugt, dass das Quellwasser spirituelle Kräfte hat. Jana hingegen meint herablassend „Ach was, es ist einfach nur kaltes Wasser“.



Sonntag, 27. März 2022

Vier Frauen und ein roter Alfa Romeo (Tag 1)


 

Am ersten Wandertag treffen wir uns am Bahnhof von Modi’in. Wir haben vor, uns zwei Autos zu behelfen, um morgens von unserer Herberge zur Tageswanderetappe und abends zurückzugelangen.

Genau genommen steht uns aber heute nur EIN Auto zur Verfügung, denn Nina wird erst am Abend zu uns stoßen. Jana soll uns abholen und zum Anfang der ersten Etappe fahren. Jana ist die einzige von uns fünf Frauen, die als junge Frau nicht aus der Schweiz, sondern aus Südamerika nach Israel gekommen ist. Auf den bisher miteinander verbrachten etwa zwanzig Wandertagen lernen wir uns allmählich in unzähligen Gesprächen immer besser kennen. Zum Beispiel erfahre ich von Jana, dass sie es völlig nebensächlich findet, die weiblichen und männlichen Formen im Hebräischen zu verwechseln. Auf den Gebrauch des Begriffes Schoah anstelle von Holocaust legt sie hingegen grossen Wert.

Als Tochter eines Vaters, dessen erste Familie in der Schoah ermordet worden ist, wurde Jana mit einer gewichtigen Last geboren. Das Schicksal legte ihr noch viele weitere Hürden in den Weg, bis sie zu dem wurde, was sie heute ist: eine allein in Tel-Aviv lebende Psychologin, Mutter und Grossmutter, die aus Berufung immer noch arbeitet, obwohl sie schon einiges über siebzig ist. Eine Frau, die das Leben liebt und die Menschen – na ja, vielleicht nicht liebt, aber von ihnen fasziniert ist.

Jana ist eine Kämpfernatur mit sehr ausgeprägten, nonkonformistischen Ansichten. Sie ist nicht leicht kleinzukriegen und mit unbeugsamem Willen meistert sie auch die Israel-Trail-Wanderungen, trotz ihrer kurzen Beine. Und sie sieht, was nicht überrascht, genauso eigenwillig aus, wie sie ist. Eine Mähne von ungebändigtem weissen Haar umrandet ihr braungebranntes, von tiefen Falten geprägtes Gesicht.

Ich stelle mir vor, dass Jana ein unscheinbares altes Auto fährt, da sie weltlichen Dingen sicher keine Aufmerksamkeit schenkt. Oder vielleicht einen alten VW-Käfer – irgendetwas Unkonventionelles auf jeden Fall.

Dann fährt Jana mit etwas Verspätung in einem sportlichen, zweitürigen roten Alfa Romeo auf den Bahnhofplatz. Der winzige Kofferraum dieses Zwei-Personen-Autos ist mit Janas Tasche schon voll und ganz ausgenutzt. Also werden Silvia und Karin auf die knapp bemessenen hinteren Sitze verfrachtet und unter ihrem Gepäck begraben. Ich sitze vorne auf dem Beifahrersitz, auf meinen Knien reichen meine eigene grosse Tasche und der Rucksack bis zur Windschutzscheibe.


 

So zusammengequetscht fahren wir zum Glück nur wenige Minuten zum Anfang der ersten Route. Zwei Velofahrer, die sich auch gerade für ihre heutige Tour bereit machen, staunen nicht schlecht, als aus dem kleinen roten Auto mit den zwei Türen nach und nach vier Frauen mit Taschen und Koffern steigen. Mit unseren weissen Haaren (drei von uns), der Wandermontur – und dem roten Alfa Romeo – sind wir ein seltsames Bild, hier auf diesem leeren Parkplatz um acht Uhr morgens. “Was guckt ihr?“, fährt Jana die Velofahrer an, die vor Staunen die Kiefer nicht mehr hochkriegen.

„Wow, ihr seid einsame Klasse! Wir wünschen euch einen wundervollen Tag!“, strahlen die Männer. Mit diesem Gruss wandern wir am ersten Tag los.

Wandertage

Vor einigen Wochen habe ich mit einer Gruppe von fünf befreundeten Frauen einen weiteren Abschnitt unserer Israel-Trail-Wanderung unter die Füße genommen. In dieser vierten Etappe sind wir im Zentrum Israels angelangt und von Modi‘in bis nach Jerusalem gewandert. Es sind – wieder – vier Tage voller Erlebnisse. Tage des Staunens, der Unbekümmertheit, der Gelassenheit und der schmerzenden Füsse. Ein wunderbarer und höchst willkommener Ausgleich zum Alltag. Hier folgen vier Geschichten und ein paar Bilder von den vier Tagen.



Donnerstag, 17. Februar 2022

Ein Abend im Wunderland

Ich werde älter. Die Liste der Beweise für mein Älterwerden wird immer länger. Ich trage meine Haare jetzt grau, vorne sind sie sogar weiss. Meine Abende verbringe ich meistens strickend auf dem Sofa. Zwischen neun und zehn Uhr döse ich ein. Auch Eyal wird älter. Er wird immer müder und dicker und sieht kaum noch etwas, trotz Brille. Und ich – ich bin eine strickende alte Frau mit weissen Haaren und einem alten Mann.

Aber manchmal breche ich aus! (Wenn auch aus eher fragwürdigen Anlässen) An einem Abend dieser Woche verlasse ich das Büro etwas früher und fahre nach Tel-Aviv. Ich werde am Abend Eyal im Ichilov-Spital besuchen, wo er sich heute einer grauen Star-Operation hat unterziehen lassen.

Diese Gelegenheit verbinde ich mit einem Besuch bei unserer Tochter Sivan. Sie lebt schon ein halbes Jahr mit ihrem Freund in einer niedlichen kleinen (leider völlig überteuerten) Wohnung im pulsierenden Zentrum von Tel-Aviv. Ich schäme mich fast zu sagen, dass ich in dieser ganzen Zeit nur etwa zweimal bei ihr gewesen bin. Meistens fehlt mir abends nach der Arbeit die Energie für weitere Aktivitäten und das Sofa und die Strickerei rufen (siehe oben)…

Dabei liebe ich Tel-Aviv. Ich bin bei jedem Besuch von neuem von dieser lebensfrohen Stadt begeistert. Begeistert von den jungen Leuten mit ihrem unbekümmerten Lebensstil, von der frechen individuellen Mode, von den unzähligen kleinen Cafés und originellen Läden. Begeistert von diesem pulsierenden Leben, das nie ruht, auch nicht in den kleinsten Stunden der Nacht.

Natürlich ist in Tel-Aviv längst nicht alles rosig. Zum Beispiel gibt es k-e-i-n-e Parkplätze. Deshalb fährt Sivan auf einem E-Scooter die Nachbarschaft ab bevor ich ankomme, um nach einem freien Parkplätzchen Ausschau zu halten. So machen sie und ihr Freund das immer, wenn einer von ihnen mit dem Auto – das unterdessen zu einem lästigen und überflüssigen Anhängsel geworden ist – nach Hause kommt. Bald schickt mir Sivan eine Meldung, dass sie in der Sirkinstrasse fündig geworden ist. Leider stellt sich aber heraus, dass das Plätzchen einen halben Meter zu kurz ist und so fahre ich schliesslich ins nächste Parkhaus.

Bei Sivan angekommen werde ich zuerst, wie befürchtet, für eine kleine Putzaktion eingespannt. Nach einer kurzen Diskussion über verschiedene Erwartungen darf ich dann nach draussen und wir flanieren in Richtung des naheliegenden Strandes. Ich bestaune die meist recht heruntergekommenen, dicht beieinanderstehenden Häuser, die kleinen interessanten Hinterhöfe und ergattere mir durch die Fenster intime Einblicke in fremde Stuben. Auf der breiten Flaniermeile, die sich dem Strand entlang kilometerweise bis ins südlich gelegene Yafo zieht, tummeln sich Spaziergänger, Jogger und eilige Velofahrer. Unterdessen ist es schon dunkel, die Beach-Volleyballfelder sind hell beleuchtet und sportliche junge Leute vertreiben sich den Abend bei einem Spielchen.

Ich fühle mich wie Alice im Wunderland und damit das Erlebnis kein Ende nehme, beschliessen wir zu Fuss ins Ichilov-Spital weiterzugehen. Laut Google Maps sollte das in etwa 35 Minuten zu bewältigen sein. In einem kleinen Café setzten wir uns für ein Päuschen an eines der Tischchen auf dem Gehsteig. Auf den drei Stühlen am Tisch neben uns sitzen ein junges Paar und ein hübscher Hund mit blauen Augen. Immer wieder halten Leute inne, um den Hund zu streicheln und sich mit dem Pärchen zu unterhalten. Es ist, als ob alle sich kennen würden. Das liegt vielleicht auch an den Joints, die sie rauchen, als wären es Zigaretten.

Google Maps scheint heute etwas verwirrt zu sein – als wir weitergehen, hat sich die Distanz auf 40 Minuten erhöht, obwohl wir gefühlt schon die halbe Stadt durchquert haben.

Warum fahren wir nicht mit einem Scooter? Fragt Sivan. Na klar! Warum nicht?! Wenn ich Fahrrad-, Ski- und Rollerskater fahren kann, kann ich bestimmt auch E-Scooter fahren, denke ich ohne zu Zögern. Wir halten für mich nach einem gelben Modell Ausschau (diese sollen etwas langsamer sein als die Grauen), dabei verlässt mich ein wenig der Mut. Aber schon gibt es kein Zurück! Schnell haben wir ein passendes Fahrzeug gefunden und dann geht es los. Die technische Handhabung ist, wie erwartet, kein grosses Problem, trotz des leichten Knieschlotterns. Als schwieriger erweist sich das Umfahren der anderen Verkehrsteilnehmer auf dem stark frequentierten Scooter- und Velofahrstreifen. Fahrräder, Scooters und auch Fussgänger scheinen hinter, neben und vor mir recht unvorhersehbar in alle Richtungen unterwegs zu sein. Die Fahrbahn ist nicht immer eben und ich muss mich recht konzentrieren. Sivan saust locker und unbekümmert vor mir her und ich ziehe ihr – anfangs ein wenig versteift und angespannt, dann immer sicherer und mutiger – nach. Bald düse ich im flotten Slalom durch die Stadt. Das macht Spass! Passanten, Autos, Busse und Häuser sausen an mir vorbei. Ich schüttle mein weisses Haar im kühlen Fahrtwind. Natürlich habe ich – in meinem jugendlichen Leichtsinn – keinen Helm aufgesetzt. „Ich bin siebenundfünfzig und das Leben macht Spass!“, ruft mein Herz übermütig den vorbeifliegenden Passanten zu. Nach kurzer rasanter Fahrt haben wir Google Maps überlistet und kommen im Spital an.

Im verdunkelten Spitalzimmer lege ich mich zu Eyal auf das Bett. Er sieht, mit dem verdeckten Auge und müde nach der Operation, noch älter aus als sonst. Ich hingegen bin heute zum ersten Mal E-Scooter gefahren und bin voll guten Mutes, dass es in unseren Leben noch viele „zum ersten Mal“ geben wird.

Es ist schon recht spät geworden, deshalb fahren wir mit einem AutoTel-Wagen zu Sivan’s Wohnung zurück. Das sind öffentlich bereitstehende Autos, in die man sich einfach setzen und wegfahren und sie dann auf eigens für sie reservierten Parkplätzen wieder abstellen kann.

Im Parkhaus steige ich nach Bezahlen einer saftigen Parkgebühr in mein eigenes altvertrautes Fahrzeug. Auf der Fahrt von der Stadt, die niemals schläft in mein gemächliches Dorf, das niemals aufwacht spiele ich mit dem Gedanken, unser zu gross gewordenes Haus gegen eine Wohnung in Tel-Aviv zu tauschen. Schliesslich habe ich noch viele Jahre voller aufregender Erlebnisse vor mir.



„Ich habe immer gedacht, die Zeit wäre ein Dieb, die mir alles stiehlt, was ich liebe. Aber jetzt weiß ich, dass sie uns gegeben, bevor sie uns genommen wird und jeder Tag ist ein Geschenk. Jede Stunde. Jede Minute. Jede Sekunde.“ Zitat aus Alice im Wunderland

Dienstag, 25. Januar 2022

Ein Morgen



Nachts regnet es. 
Davon bekomme ich schlafend nicht allzu viel mit, aber die Strassen sind nass, als ich mich im Dunkeln aus dem Haus stehle. Am noch nächtlich grauen Morgenhimmel fegt der Wind gerade die letzten Wolken weg. Nach zehn Minuten Fahrt ins Nachbardorf ist es hell und ich beginne zu laufen. 

Das Laufen ist wie immer, auch nach mehr als zehn Jahren, eine Herausforderung. Der Körper verlangt auf jedem der mehreren Tausend Schritten nachdrücklich nach seinem natürlichen Ruhezustand. Der Kampf ist immer da. Die Kunst ist es, die Gedanken daran nicht überhand nehmen zu lassen. Meine Sinne sind damit beschäftigt, die frische feuchte Luft, den wolkigen blauen Himmel, die regennassen Bäume und Sträucher und den Morgendunst sehend, riechend und hörend in mich aufzunehmen. Ich freue mich über die aufgehende Sonne, die sich in den Pfützen spiegelt und über die Kraft und Lebendigkeit meines Körpers an diesem Morgen. 

Dann, schweissnass trotz der kühlen Morgentemperaturen, fahre ich weiter ins Büro zum Duschen. Während der kurzen Fahrt bemitleide ich all jene Fahrer, die aus dem muffigen Bett noch halb schlafend zur Arbeit fahren, ohne eine Runde an der frischen Luft gedreht zu haben. 

Als ich etwas später die Duschräume verlasse, ist der Himmel wieder grau verhangen. Auf den wenigen Metern Fussweg ins Büro tropft schon leichter Regen auf mein frisch gewaschenes Haar. Es wird ein nasser Tag werden. Die trockene Stunde war ein Geschenk des Himmels an die Morgenläufer.


Mittwoch, 12. Januar 2022

Ein Heim für Pinguine

In den Wintermonaten fallen die Temperaturen in unserem Haus auf arktische Verhältnisse. Nächtliche Aussentemperaturen um 9 bis 12 Grad, schlechte Bauqualität, fehlende Isolation und Unterkellerung und ein luftdurchlässiges Ziegeldach führen dazu, dass im Winter in unserer Stube ideale Bedingungen für Pinguine herrschen. Wir diskutieren seit Jahren über Anschaffung eines Gasofens, heizen aber weiterhin  nur in wirklich prekären Stunden  mit Klimaanlage, deren Wärme in Sekundenschnelle wieder verpufft und ausserdem die Luft austrocknet. Ende Dezember, als es einige Tage nacheinander grau, kalt und regnerisch war, zeigte das Thermometer in der Stube 16.7 Grad Celsius. Bis es im Frühling wieder wärmer wird, bekämpfen wir die Kälte indem wir uns warm anziehen und möglichst aktiv sind (Putzen, Kochen, Treppenlaufen, Seilspringen, Hampelmänner, usw.). Abends sitzen wir mit warmen Decken in der Stube und trinken literweise heissen Tee. Nachts wappnen wir uns mit einer wunderbaren Daunendecke gegen die eisigen Lüfte im Schlafzimmer. 

Natürlich liegt die Innentemperatur nicht immer bei 16.7 Grad, aber über 18 oder 19 Grad sind es zwischen Dezember bis Ende Februar selten.

Der menschliche Körper scheint sich an Temperaturen zu gewöhnen. Unterdessen komme ich mit den Kältegraden ganz gut zu recht. Die 20 bis 25 Grad in den Häusern meiner Familie und Bekannten in der Schweiz empfinde ich als schon fast unerträglich.

Wie die meisten Israeli ziehe ich unterdessen den Winter dem Sommer vor. Die zahlreichen Sonnentage sind ein Segen. Diese vermögen zwar unser Haus bis im März kaum zu erwärmen, spenden aber viele Stunden erfreuliches Sonnenlicht und täglich einige Stunden angenehme Wärme (draussen, wohlgemerkt, nicht drinnen). Auch jetzt im Januar wird es auf unserem Sitzplatz unter dem Vordach gerne bis 25 Grad warm, so dass man sich der warmen Socken und Fliesjacken für kurze Zeit entledigen kann und sich sogar vor Sonnenbrand schützen muss. So wird die Vitamin-C- and -D-Pause am späten Vormittag zum puren Genuss.



Montag, 3. Januar 2022

Kein bisschen Chaos

Gemäss den aktuellen Corona-Regelungen muss ich mich nach Rückkehr aus einem Land, das auf Israels roter Liste steht (Schweiz), zwei Wochen in Quarantäne begeben. Mit einem negativen PCR-Test kann ich die Quarantäne auf Wunsch nach sieben Tagen verkürzen. Auch nach der Ankunft am Flughafen Tel-Aviv musste ich mir schon für einen Test in der Nase bohren lassen. Ich war überrascht, wie flott die Ankommenden durch die verschiedenen Stationen (Passkontrolle, PCR-Test, Gepäckabgabe) katapultiert wurden. Nach knapp 15 Minuten konnte ich den Flughafen verlassen, nach Durchführen des PCR-Tests, mit dem Koffer in der Hand und der Verpflichtung, für meine Heimisolation zu sorgen.

Von diesem Moment an trafen während einer Woche mehrmals täglich SMS-Nachrichten der Covid-Polizei ein, um meine Quarantäne zu überwachen. Vor dem Flug hatte ich dem elektronischen Ortungsverfahren zugestimmt und meine Quarantäneadresse angegeben. Wer sich nicht elektronisch orten lassen möchte, muss sich einfach ab und zu auf einen Besuch der Polizei in persona gefasst machen. Ich bevorzugte die elektronische Variante und deshalb durfte nun die Polizei über Satellitenortung jederzeit überprüfen, ob ich auf dem Bürostuhl im Zimmer oder auf dem Sofa in der Stube sass.

Die Isolation empfand ich als höchst willkommene Einrichtung um mich von der seelischen Aufgewühltheit, den Strapazen und Eindrücken der Reise zu erholen. Ich konnte schlafen bis ich ohne Wecker aufwachte, im Heimbüro arbeiten und mir über Mittag im Garten die Wintersonne auf den Pelz brennen lassen. Ausserdem trug ich eine Woche lang dieselben alten Kleider, wusch meine Haare nicht, liess mein Fitnesstraining sausen und mir die Einkäufe vom Supermarkt nach Hause liefern. Die israelische Covid-Polizei konnte stolz auf mich sein, ich war unbestreitbar die Klassenstreberin in diesem Verein der zu Überwachenden. Ich verspürte nicht die geringste Versuchung, aus dem Gefängnis auszubrechen. Mit gutem Gewissen und in sekundenschnelle verschickte ich per Fingerdruck eine Woche lang Standortmeldungen aus der angegebenen Wohnadresse.

Mit einem weinenden Auge beschloss ich aber doch, nach einer Woche den zweiten PCR-Test zu machen, um die Quarantäne zu verkürzen.

Die nächste Drive-in-Teststation ist nur wenige Autominuten von unserem Wohnort entfernt. Mit der geschätzt mehrere hundert Autos langen Warteschlange hatte ich jedoch nicht gerechnet. Die Krankenzahlen schnellen in diesen Tagen wieder in die Höhe und sowohl Reiserückkehrer als auch Personen, die aufgrund von Kontakt mit Corona-Kranken in Quarantäne sind, müssen den Test über sich ergehen lassen.

Es ist Schabbat, ich habe gerade nichts anderes zu tun und wie es aussieht, bewegt sich die Autoschlange ziemlich schnell voran. Also reihe ich mich ein und dann staune ich nur noch über dieses Beispiel musterhafter Organisation. Da können sich andere Länder  auch solche, die sich für Meister der Ordnung halten  getrost eine Scheibe von uns abschneiden. Eine grosse Anzahl junger Leute, wahrscheinlich Studenten, frischen temporär mit den Test-Aktivitäten ihr Taschengeld auf. Die Tests sind von der israelischen Heimatfront organisiert und gratis. Das nun folgende Szenario dauert etwa 40 Minuten und verläuft wie folgt: Schon ziemlich am Anfang wird der Verkehr auf der langen Strasse vor der Teststation in zwei Reihen auf beide Seiten der Fahrbahn geschleust. Flugblätter mit einem einzulesenden Code werden verteilt. Mit dem Code öffnet sich ein elektronisches Formular auf dem Handy, mit welchem ich mich für den Test anmelde (ich tippe fahrend am Steuer, wohlgemerkt). Man kann aus etwa fünf verschiedenen Gründen für den PCR-Test wählen. Für mich relevant ist die letzte: Verkürzung der Quarantäne. Das Ausfüllen des Formulars wird mit Erhalt eines Strichcodes bestätigt. Jetzt bin ich registriert. Dann fahre ich im Schritttempo weiter und als ich mich endlich der Teststation, einem grossen Plastikzelt nähere, geht es weiter mit der Registrierung: Ein Angestellter liest meinen Strichcode ein und übergibt mir zwei Klebeetiketten, die er einem kleinen handgehaltenen Drucker entnimmt. Nach den zwei Autos vor mir bin ich an der Reihe: Ich übergebe meine Kleber einer der jungen Frauen im Schutzanzug. Sie entnimmt flink die Proben aus meinem Rachen und Nase, ohne dass ich das Auto verlassen muss. Der Test dauert zwanzig Sekunden, dann bin ich entlassen und darf nach Hause fahren.




Weil aufgrund des grossen Ansturms Verzögerungen beim Erhalt der Resultate entstehen könnten, mache ich mich auf mindestens zwei weitere Tage in Quarantäne gefasst. Aber schon nachts um zwei, während ich schlafe, senden mir die fleissigen Mitarbeiter des Testlabors eine Mitteilung, dass die Testresultate negativ sind. Zwei Stunden später, um 4:06, folgen die Mitteilungen des Gesundheitsministeriums und der israelischen Covid-Polizei, dass ich das Quarantänegefängnis ab 2.1.2022 um 04:04 verlassen darf. Um 8:01 hinkt meine Krankenkasse mit derselben Nachricht hinterher. Somit sind nun sämtliche Systeme synchronisiert, die mich, mein Leben und jeden meiner Schritte in engmaschiger elektronischer Überwachung unter Kontrolle haben.

Für die israelische Covid-Polizeit bedeutet das Ende meiner Quarantäne der Verlust der geflissentlichsten Kontrollandin. Für mich bedeutet es: Zurück in den Alltag.