Sonntag, 27. März 2022

Vier Frauen und ein roter Alfa Romeo (Tag 1)


 

Am ersten Wandertag treffen wir uns am Bahnhof von Modi’in. Wir haben vor, uns zwei Autos zu behelfen, um morgens von unserer Herberge zur Tageswanderetappe und abends zurückzugelangen.

Genau genommen steht uns aber heute nur EIN Auto zur Verfügung, denn Nina wird erst am Abend zu uns stoßen. Jana soll uns abholen und zum Anfang der ersten Etappe fahren. Jana ist die einzige von uns fünf Frauen, die als junge Frau nicht aus der Schweiz, sondern aus Südamerika nach Israel gekommen ist. Auf den bisher miteinander verbrachten etwa zwanzig Wandertagen lernen wir uns allmählich in unzähligen Gesprächen immer besser kennen. Zum Beispiel erfahre ich von Jana, dass sie es völlig nebensächlich findet, die weiblichen und männlichen Formen im Hebräischen zu verwechseln. Auf den Gebrauch des Begriffes Schoah anstelle von Holocaust legt sie hingegen grossen Wert.

Als Tochter eines Vaters, dessen erste Familie in der Schoah ermordet worden ist, wurde Jana mit einer gewichtigen Last geboren. Das Schicksal legte ihr noch viele weitere Hürden in den Weg, bis sie zu dem wurde, was sie heute ist: eine allein in Tel-Aviv lebende Psychologin, Mutter und Grossmutter, die aus Berufung immer noch arbeitet, obwohl sie schon einiges über siebzig ist. Eine Frau, die das Leben liebt und die Menschen – na ja, vielleicht nicht liebt, aber von ihnen fasziniert ist.

Jana ist eine Kämpfernatur mit sehr ausgeprägten, nonkonformistischen Ansichten. Sie ist nicht leicht kleinzukriegen und mit unbeugsamem Willen meistert sie auch die Israel-Trail-Wanderungen, trotz ihrer kurzen Beine. Und sie sieht, was nicht überrascht, genauso eigenwillig aus, wie sie ist. Eine Mähne von ungebändigtem weissen Haar umrandet ihr braungebranntes, von tiefen Falten geprägtes Gesicht.

Ich stelle mir vor, dass Jana ein unscheinbares altes Auto fährt, da sie weltlichen Dingen sicher keine Aufmerksamkeit schenkt. Oder vielleicht einen alten VW-Käfer – irgendetwas Unkonventionelles auf jeden Fall.

Dann fährt Jana mit etwas Verspätung in einem sportlichen, zweitürigen roten Alfa Romeo auf den Bahnhofplatz. Der winzige Kofferraum dieses Zwei-Personen-Autos ist mit Janas Tasche schon voll und ganz ausgenutzt. Also werden Silvia und Karin auf die knapp bemessenen hinteren Sitze verfrachtet und unter ihrem Gepäck begraben. Ich sitze vorne auf dem Beifahrersitz, auf meinen Knien reichen meine eigene grosse Tasche und der Rucksack bis zur Windschutzscheibe.


 

So zusammengequetscht fahren wir zum Glück nur wenige Minuten zum Anfang der ersten Route. Zwei Velofahrer, die sich auch gerade für ihre heutige Tour bereit machen, staunen nicht schlecht, als aus dem kleinen roten Auto mit den zwei Türen nach und nach vier Frauen mit Taschen und Koffern steigen. Mit unseren weissen Haaren (drei von uns), der Wandermontur – und dem roten Alfa Romeo – sind wir ein seltsames Bild, hier auf diesem leeren Parkplatz um acht Uhr morgens. “Was guckt ihr?“, fährt Jana die Velofahrer an, die vor Staunen die Kiefer nicht mehr hochkriegen.

„Wow, ihr seid einsame Klasse! Wir wünschen euch einen wundervollen Tag!“, strahlen die Männer. Mit diesem Gruss wandern wir am ersten Tag los.

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