Sonntag, 25. August 2024

Krieg und zwei platte Reifen

Auch wenn es heute früh einige Stunden anders ausgesehen hat, uns geht es immer noch – doch, ich sage "gut". Man kann unseren Alltag im Ausnahmezustand kaum beschreiben, weder mit einem, noch mit vielen Worten. Doch wieder ist für uns, an unserem Wohnort, ein Tag ohne Alarm vergangen. Wir müssen nicht in den Schutzraum rennen, wir bewegen uns frei in einem bestimmten Umkreis, wir gehen zur Arbeit und vergnügen uns, soweit es geht. Wir (meine Familie) sind einigermassen in Sicherheit. Wenn man das Mikro betrachtet und nicht das Makro, geht es uns also immer noch gut. Anderswo ist das nicht so, wie man zum Beispiel bei Lila lesen kann.

Um uns herum herrscht Chaos und die Situation wird jeden Tag schlimmer. Vor zwei Wochen versetzten mich die Nachrichten über den unmittelbar bevorstehenden Angriff aus dem Iran einige Tage in Panik. Unterdessen habe ich mich beruhigt und würde nun meinen Gemütszustand eher als zutiefst frustriert beschreiben. Ich versuche, mir eine "mir ist alles egal" Haltung zu eigen zu machen. Ich gebe mir grösste Mühe, die kleinen guten Momente zu geniessen und Schlimmeres möglichst von mir fernzuhalten. Fernsehen schaue ich seit Jahren nicht mehr, schon gar keine Nachrichten. Nun stelle ich auch bewusst  beim Autofahren das Radio leise, wenn es Zeit für Nachrichten ist. Auf Instagram und Facebook scrolle ich bei unerfreulichen Nachrichten schnell weiter. Es ist so viel los - ich will nicht mehr rund um die Uhr mit Katastrophen konfrontiert werden. Ich will einfach nichts mehr hören und wissen.

Doch ich lebe nicht auf einer einsamen Insel und weiss natürlich trotzdem, dass die israelische Armee vergangene Woche sechs Entführte tot geborgen hat, nachdem diese am 7. Oktober lebend nach Gaza verschleppt, wochen- oder monatelang gefoltert und schlussendlich von ihren Hamas-Bewächtern ermordet worden sind. Ich weiss auch, dass die entführte Agam Berger vor vier Tagen in Hamas-Geiselhaft 20 Jahre alt geworden ist, dass überhaupt bald alle entführten Israelis in Geiselhaft mindestens einmal Geburtstag hatten. Ich weiss, dass am Wochenende wieder fünf oder sechs Soldaten gefallen sind.

 Passionsfrüchte aus unserem Garten. Ich zelebriere und geniesse jede Einzelne.



Letzte Woche verbrachte Lianne einige Tage im Spital. Eine Riesenzyste hatte sich gebildet, die mit intravenöser Medikamentenabgabe behandelt werden musste. Zum Glück sprach Lianne auf die Medikamente gut an und wurde vor dem Wochenende wieder nach Hause entlassen. Sie muss jedoch noch weiter viele Medikamente einnehmen. Leider ist sie als Folge auf die Krankheit ihre zwei Jobs als Tagesmutter erst einmal los, denn bei solchen Gelegenheitsarbeiten kann man es sich nicht leisten, zwei oder drei Wochen krank zu sein.

Die Stunden in der Notaufnahme waren nicht gerade ein grosser Spass. Viele kranke oder verunfallte Menschen, Junge und Alte, das ist schwer mitanzusehen. Am Schlimmsten war jedoch mein Kopfkino. Mir drängten sich Gedanken an ein Mega-Attentat auf und ich konnte die Bilder von Dutzenden, ja Hunderten blutender Schwerstverletzten, welche die Notaufnahme wie ein Tsunami überschwemmten, einfach nicht loswerden. So war es am 7. Oktober, das erzählten uns die Freunde von Yotam. Sie entkamen den Hamas-Terroristen mit Splittern am ganzen Körper, wurden jedoch im südlichen Soroka-Spital in der ganzen Aufregung nicht einmal beachtet.

An einem gewöhnlichen Montag verläuft hier jedoch alles einigermassen ruhig und nach drei Stunden Aufnahmeprozedur bekam Lianne ein Bett mit Aussicht im 6. Stock. Für uns bedeuteten diese Tage täglich mühsame Fahrten nach Tel-Aviv, lange Besuche in der stinkenden Abteilung (bitte entschuldigt, aber Dermatologie ist schrecklich) und vor allem viele Sorgen um Lianne und ihre Gesundheit.

Nach einem sehr ruhigen Wochenende, an welchem wir uns erst einmal von dem ganzen Spitaltumult erholen mussten, lagen Eyal und ich heute früh beide um vier Uhr morgens wach. Warum rumorte die Klimaanlage plötzlich so? Ich drehte mich lange im Bett und konnte mein Gedankenkarusell erst mit etwas Lesen beruhigen. Kurz nachdem ich endlich wieder eingeschlafen war, zog Eyal, schon frisch geduscht, um 6 Uhr dreissig an der Decke und weckte mich auf, um mir mitzuteilen, dass die IDF vor Kurzem im Norden eine Präventivoperation geflogen hat (unsere Klimaanlage ist also doch in Ordnung!) und nun die Hisbollah ihre Raketen und Drohnenangriffe sowohl in der Zahl als auch in der Reichweite ausweitete. Die Raketen kamen heute morgen schon bis nach Akko, das ist nur 80 Kilometer von uns entfernt. Eyal musste  trotz allem ins Büro, doch ich würde im Heimoffice arbeiten und meine Schwiegermutter zu uns holen.

Später schien sich die Lage zu beruhigen, oder sich immerhin im Moment nicht mehr auszuweiten. Durch die Präventivoperation konnte die IDF den von der Hisbollah und dem Iran für fünf Uhr morgens geplanten Grossangriff auf das Zentrum Israels verhindern. Im Laufe des Tages und nachdem sie innert Stunden einige Hundert Raketen nach Israel abgefeuert hatten, gaben dann sowohl die Hisbollah als auch der Iran bekannt, dass das für heute alles wäre.

Lianne, unsere Realitätsverdrängungskünstlerin, verschlief wieder einmal alles. Erst gegen zehn stand sie auf und sagte, noch schläfrig "Ich versteh nichts mehr. Haben wir Krieg oder was? Kann ich mit meiner Freundin in die Shoppingmall fahren?"

Was sollte ich sagen? Ja, wir haben Krieg, aber im Moment kommt er nur bis 80 Kilometer von hier. Du kannst also fahren. Wir machen weiter, so lange es geht. Was in ein paar Stunden sein wird, weiss keiner.

Im Nachhinein hätte Lianne vielleicht doch zu Hause bleiben sollen, denn die Shoppingtour endete mit zwei platten Reifen, da sie den Parkplatz (mit meinem Auto!) in die Gegenrichtung verliess und dabei die Krallen übersah.

Alltag eben!




Mittwoch, 14. August 2024

Wir bleiben hier

Ob der morgige Gipfel in Katar einen Durchbruch bei der Geiselfrage bringen wird? Ich bin skeptisch. Die Hamas will ja gar keine Verhandlungen. Und das trifft sich bestens. Ich nämlich auch nicht.

Die europäischen Medien geben sich grösste Mühe, Israel und die Hamas als gleichermassen schuldige Partner darzustellen, doch diese Kriegsparteien – eine genozidale Terrormaschinerie und eine liberale Demokratie – und ihre Ziele könnten nicht gegensätzlicher sein. Auch den "Geiseldeal" im November stellte der Grossteil der europäischen Medien dar, als gehe es um einen Austausch von auf beiden Seiten aus verschiedenen, mehr oder weniger lauteren Gründen inhaftierten Gefangenen. Dass es sich in Wahrheit um rechtmässig verurteilte palästinensische Straftäter im "Deal" gegen brutalst gejagte, verletzte, gegen ihren Willen in unmenschlichsten Bedingungen in Gaza festgehaltene unschuldige Zivilisten, darunter Kinder und junge Frauen handelte, blieb viel zu oft unerwähnt.

Einer der überführten palästinensischen Straftäter, der im November im Austausch gegen israelische Geiseln auf freien Fuss gesetzt wurde, war der kaum 18-jährige Palästinenser Tarek Daus. Nach seiner Freilassung verpasste der von Hass indoktrinierte Tarek keine Gelegenheit, sich weiter mit terroristischen Tätigkeiten zu befassen. Diese Woche sah er seine grosse Chance gekommen, als ein 60-jähriger jüdischer Mann die Stadt Qalqilya betrat. Der junge Palästinenser eröffnete das Feuer auf ihn und verletzte den Israeli schwer. Zwei weitere Palästinenser wurden bei dem Attentat ebenfalls verletzt. Das Auto des israelischen Mannes wurde vom palästinensischen Mob in Brand gesetzt. Der 18-jährige Schütze floh vom Tatort und wurde am Ende der Verfolgungsjagd von der IDF getötet.


Der im November freigelassene 18-jährige Palästinenser Tarek Ziad Abd al-Rahim Daus


(Zweifellos sollte man sich als nicht-arabischer Israeli in diesen Zeiten nicht in die arabischen Städte in Israel begeben, wenn man an seinem Leben hängt. Während es jedoch für Juden lebensgefährlich ist, arabische Orte zu betreten, besteht die israelische Bevölkerung weiterhin aus 20 Prozent Arabern, die im Kernland Israel leben und sich sicher und frei bewegen können. Sie haben die gleichen Rechte wie ihre jüdischen oder andersgläubigen israelischen Mitbürger. Auch an meinem Arbeitsplatz und in meinem gesamten Umfeld ist jeder fünfte Mensch, der mir begegnet und mit dem ich zu tun habe, Araber/in.)

In deutschen Medien ist über den vorgenannten Vorfall unter anderem zu lesen ("die Zeit", 12.8.2024):
"Palästinenser melden einen Toten nach israelischem Militäreinsatz im Westjordanland. Bei einem Einsatz der israelischen Armee im Westjordanland ist nach palästinensischen Angaben ein 18-jähriger Palästinenser getötet worden". 

Was entnimmt der gutgläubige Leser diesen Zeilen? Wer ist der Schuldige? Wer das Opfer? Offensichtlich, so suggeriert der Newsticker, sind einige Israelis an einem heiteren Montagmorgen aufgestanden, haben sich aus Langeweile Uniformen angezogen und sich gesagt "Na, was machen wir heute? Gehen wir doch ins Westjordanland und erschiessen wir in einem Militäreinsatz (sprich: nach Lust und Laune) einige Palästinenser."
Hat man irgendwo nachlesen können, dass dem Militäreinsatz ein von einem Palästinenser verübtes Attentat vorausging? Ist vielleicht mit einem Wort erwähnt worden, dass Tarek anlässlich des Geiseldeals im November freikam, weil er als Minderjähriger zu den zu Unrecht inhaftierten palästinensischen Kindern gezählt wurde? Natürlich nicht, es passt ja schliesslich nicht ins gängige Narrativ.

Ich bringe diesen Vorfall hier auf um zu zeigen, wie komplex die Situation ist. Ich, wir, alle Israelis, wollen vor allem und an erster Stelle die in Gaza festgehaltenen Geiseln wieder bei ihren Familien wissen. Wenn möglich, ohne dabei irgendjemandem zu schaden. Klar, wenn ich die Mutter einer der Geiseln wäre, wäre ich bereit, Hunderttausend Terroristen für mein Kind freizugeben. Die ganze Welt würde ich opfern für mein Kind. Zum Glück bin ich das aber nicht, meine Kinder sind einigermassen sicher zu Hause. Dort möchte ich sie auch weiterhin wissen und ich habe, offen gestanden, grosse Zweifel an irgendeinem Abkommen mit der Hamas und ihrer Verbündeten. Unter anderem, weil ich riesengrosse Angst habe vor "palästinensischen Kindern", die in einem Deal auf freien Fuss kommen sollten.


In meinem letzten Blogbeitrag habe ich über unser Dilemma betreffend einer Flucht aus Israel geschrieben. Am Dienstag Tischa B'Av, dem Tag, an dem die Chancen auf den iranischen Angriff am Grössten zu sein schienen, war der gewünschte Flug spontan da. Wie ein Wink Gottes erschien ein (zugegeben sehr spontaner, für den Abend desselben Tages) Schnäppchenflug nach Basel, zu einem mehr als erschwinglichen Preis. 

Nach einigen Minuten Nachdenkens liess ich das Angebot verfallen. Ich kann nicht behaupten, dass meine Wahl sonnenklar wäre, es gibt immer wieder Momente grosser Zerrissenheit. Aber ich habe gewählt: Ich werde am kommenden Samstag mit meinen Töchtern die Theatervorstellung in Tel-Aviv besuchen, für welche wir schon vor Wochen Karten besorgt haben. Ich werde am Sonntag mit meiner Familie den Geburtstag meines Sohnes feiern. Hier in Israel. Vielleicht riskieren wir dabei unser Leben. Doch könnte ich es ertragen, meine Freunde und Angehörigen in der Ferne in Gefahr zu wissen?

Ganz klar ist mir vor allem, was ich in Europa sicherlich nicht ertragen könnte: die anti-israelische Lügenpresse. Das Obengenannte ist nur ein winziges Beispiel für die unzähligen kleinen "Updates": Scheinbar ausgewogene Nachrichten, die die Meinung der Weltöffentlichkeit formen. Mit dieser Lügenpresse, die Hamaspropaganda ohne zu hinterfragen übernimmt und damit den Terroristen in die Hände spielt, möchte ich nicht leben. Sie ist in Europa der aktuelle Trend (nett ausgedrückt), doch – wenn man die Fakten aus erster Hand kennt – immer aufs Neue schockierend und unerträglich. Auch mit einer Gesellschaft, die von nichts wissen will und einfach inbrünstig hofft, dass der Lärm der grossen Welt die Stille im eigenen lieben Dörfchen nicht stören möge, hätte ich grösste Mühe.

Den Schnäppchenflug vom Dienstag habe ich aus diesen Gründen verschmäht. Bis zum nächsten Mal, wer weiss!





Montag, 5. August 2024

Tausend Tode

Donnerstag, 25. Juli

Wir erwachen mit der Nachricht über die Tötung von Ismail Hanyieh und anderen Terror-Schlüsselfiguren.

Sonntag, 28. Juli

Iran und seine Verbündeten beginnen, mit den Säbeln zu rasseln. Laut den Medien ist nun ein Vergeltungsschlag des Irans unvermeidlich.

Montag, 29. Juli

Nach dem Anhören der höchst unheilvollen Achtuhr-Nachrichten und noch energiegeladen vom Morgentraining fasse ich einen Entschluss: Wir müssen gehen. Es ist so weit. Ich werde mit den Kindern reden und Flüge buchen. Wenigstens meine Töchter sollten mit mir kommen. Das ist nicht gerade feministisch, ich weiss, aber bei den Männern der Familie ist es aus verschiedenen Gründen gerade etwas schwierig. Immerhin, der Entschluss ist gefasst und ich spreche zuerst mit Sivan. Überraschenderweise sagt sie sofort zu. Sie ist dabei, obwohl sie ihren Verlobten zurücklassen wird. In ihrer Wohnung in Tel-Aviv schläft sie seit einigen Tagen mit neben dem Bett bereitliegenden Kleidern, für alle Fälle. Auch sie hält diese Anspannung nicht mehr aus.

Ich beginne, Flüge zu suchen. Das sieht schlecht aus. Die Preise für einen El Al Flug nach Zürich sind auf mindestens 1300 Dollar gestiegen – und es gibt keine Plätze.

Dienstag, 30. Juli


Ich spreche mit Itay und informiere ihn über unser Vorhaben, abzuhauen. Er will auch mit und das macht die Sache jetzt um einiges komplizierter. Er hat seit dem 7. Oktober nicht mehr gearbeitet und nun endlich gerade in diesen Tagen einen Kurs abgeschlossen und eine neue Arbeit angefangen. Ich fühle mich schlecht bei dem Gedanken, ihn davon wegzureissen. 
Und wer soll all diese überteuerten Flugtickets bezahlen?

Ich kann mich nicht auf die Arbeit konzentrieren, verbringe den ganzen Tag auf verschiedenen Webseiten und Apps, die Flüge anbieten – aber keines der Angebote ist wirklich angemessen.

Mittwoch, 31. Juli

Ausgerechnet mit Lianne, der Jüngsten, habe ich keinen Erfolg. Sie ist eine Meisterin im Verdrängen. Sie lebt in einer perfekten Welt mit schönen Menschen auf TikTok und Instagram. Krieg? Bedrohung? Davon will sie nichts wissen. Ausserdem hat sie gerade zwei neue Babysitterjobs, die sie viel mehr beschäftigen, als irgendwelche höchstwahrscheinlich unrealistischen und völlig übertriebenen Kriegsfantasien. Ich komme mit meiner Panikmache nicht zu ihr durch. Ich suche trotzdem weiter Flüge, finde aber nichts Passendes. Dass ich nicht weiss, wie viele Passagiere wir sein werden, macht die Sache nicht einfacher.

Donnerstag, 1. August

In der Schweiz feiert man den Nationalfeiertag, wir bezeichnen 300 Tage Fernbleiben unserer Entführten in Gaza.

Eyal wird in Israel bleiben. Er zieht es offensichtlich vor, arbeitend vor dem PC zugrunde zu gehen. Na ja, jedem das seine. Ausserdem ist er abgehärtet, schliesslich hat er schon den Sechstage-Krieg miterlebt, den Jom-Kippur-Krieg, den Golfkrieg, die Libanonkriege...

Einen passenden Flug habe ich sowieso noch nicht gefunden. Dann kommt mir auch noch in den Sinn, dass ich am Sonntag einen Termin beim Zahnarzt habe. Eine gebrochene Zahnbrücke muss vor der Flucht unbedingt noch ersetzt werden. Ich teile den Kindern mit, dass die Abreise auf Montag verschoben wird.

Das Flugangebot wird immer prekärer. Delta und United Airlines streichen ihre Flüge nach Israel. Gemäss der Flug-Schnäppchen-App gibt es noch Charterflüge nach Athen, Belgrad, Zagreb, Bari, Verona – aber ob die dann auch wirklich fliegen werden? Mein Plan ist jetzt, dass wir spätestens am Sonntagnachmittag mit gepackten Koffern bereit sein und dann spontan den nächstbesten Flug nach Europa nehmen werden.

Freitag, 2. August

Die Familie von Nitzan feiert Nitzans Geburtstag. Nitzan wäre 29 geworden, aber sie wird für immer 28 bleiben. Sivan geht mit einer Freundin an den surrealistischen Anlass. Zum Geburtstagsfest einer ermordeten Freundin. Dass meine Kinder so etwas erleben müssen.

Itay und Sivan und ihr Verlobter kommen zum Schabbatessen. Wenn man den Medien Glauben schenkt, steht der Angriff unweigerlich bevor.

Vor dem Schlafengehen bitte ich Eyal, die Pistole aus dem Safe zu holen. Wozu? meint er, der Angriff aus dem Iran wird kein Frontalangriff von Terroristen sein. Ich weiss, erwidere ich, aber wenn sie eine Atombombe abwerfen und wir nicht alle getötet werden, dann musst du das tun. Mit diesen Aussichten gehen wir schlafen.

Samstag, 3. August

Ein weiterer Morgen, an dem wir uns wundern, dass wir unbehelligt erwachen. 

Sivan und Lianne hätten heute mit ihrer Cousine und ihren Kindern einen Wasservergnügungspark besuchen sollen, aber die Cousine sagt ab. Die Lage...

Wir räumen endlich den Schutzraum auf. 

Ich suche weiter nach Flügen, aber es ist aussichtslos, es gibt keine Plätze mehr. 

Am Abend mähe ich den Rasen, säubere die Kanten, reche Laub. Die Mangos sind alle gepflückt, mein Garten ist parat, die Iraner können kommen!

Sonntag, 4. August

Wieder erwachen wir staunend, dass der Angriff noch nicht stattgefunden hat. 

In meine Mailbox flattern mehrere E-Mails meines Arbeitgebers mit Anweisungen für den Ernstfall. Auf den beigelegten Grundrissplänen sind die Schutzräume und die kürzesten Fluchtwege rot gekennzeichnet. Ausserdem werden ausgebildete Fachleute für eine freiwillige medizinische Notfallgruppe gesucht. Dann noch eine Meldung für den Fall, dass der Alarm beim Mittagessen in der Kantine losgeht.

Ein Ausschlag an meiner linken Hand wird immer schlimmer und ich kratze mich nachts wund.

Mir wird klar, dass ich gut daran täte, mich mit der Situation abzufinden: Wir fliegen nirgendwo hin. Wir bleiben hier. Ich treibe mich in den Wahnsinn mit unrealistischen Fluchtgedanken.

Beim Zahnarzt wird die gebrochene Brücke ersetzt. Jetzt wäre ich bereit...

Montag, 5. August

Immer noch kein Angriff. Heute, oder sicher innerhalb der nächsten 24 Stunden geht es los! behaupten die Medien jeden Tag aufs Neue, seit einer Woche. Unterdessen bin ich schon Tausend Tode gestorben.

Ich finde mich damit ab, dass wir nicht fliegen werden, aber vielleicht sollte ich mit unserem Freund Avi, dem Skipper sprechen?

Die in Gaza festgehaltenen Ariel Bibas und Karina Ariev haben heute Geburtstag. Ariel wird fünf Jahre alt, Karina zwanzig. Ich weiss nicht, was mehr schmerzt: Die Aussicht auf einen grossen Krieg oder die Tatsache, dass wegen der neuen Bedrohung aus dem Iran die Befreiung der Geiseln in den Hintergrund gerückt zu sein scheint. In nur 60 Tagen ist es ein Jahr. Werden wir sie je wiedersehen?

Im Büro erzeugt die Klimaanlage in unserem Stockwerk ein dumpf brummendes Geräusch. Ich versuche zu arbeiten, aber immer wieder muss ich genauer hinhören, um mich zu vergewissern, dass es eben nur die Klimaanlage ist und nicht der Lärm von Kampfflugzeugen.

2 3 4 Einatmen
2 3 4 Luft anhalten
2 3 4 5 6 7 Ausatmen
Wiederholen, am besten den ganzen Tag



Sonntag, 4. August 2024

Freude und Leid

Oren Smadja


Der israelische Judoka Oren Smadja gewann 1992 die olympische Bronzemedaille, drei Jahre später belegte er bei den Weltmeisterschaften den zweiten Platz. Dass sich Oren bei den Israelis auch jetzt noch, viele Jahre nach diesen sportlichen Errungenschaften, großer Beliebtheit erfreut, liegt wohl vor allem an seiner angenehmen und sportlichen Persönlichkeit. Oren ist einfach rundum sympathisch, er ist aufrecht und mutig, verkörpert Gemeinschaftssinn und Solidarität, doch vor allem ist er bescheiden und einer von uns.

Seit 2010 trainiert Oren die israelischen Judoka, darunter Or Sasson, Gewinner der Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen 2016 und Sagi Muki, der bei den Judo-Europaspielen 2015 und bei den Weltmeisterschaften 2019 in Tokio Goldmedaillen gewann.

Wie alle Israelis hat auch Oren nebst seinem Beruf eine weitere wichtige Aufgabe: Er ist oder war einst Soldat der IDF und er ist Vater, Onkel und Bruder von Soldaten. Als am 20. Juni, ausgerechnet an Orens Geburtstag, sein 25-jähriger Sohn Omer im Krieg gegen die Hamas im Gazastreifen durch Mörserbeschuss getötet wurde, weinte das ganze Land mit dem berühmten Vater und seiner Familie. Doch als echter Sportler und Judoka lässt sich Oren nicht unterkriegen. Nach Ende der dreissigtägigen Trauerzeit gab er bekannt, dass er das israelische Nationalteam an die olympischen Spiele in Paris begleiten würde.

Wie nahe Freude und Leid zusammenliegen, zeigen die aufwühlenden Momente in Paris, in denen der israelische Judoka Peter Paltchik und sein Trainer Oren nach dem Sieg, der die Medaille einbrachte, unter Tränen ihrer Freude und ihrem Schmerz Ausdruck verleihen (im Video ab ca. 01:30 bis 02:30). Zuschauer, die die Sprache nicht verstehen und den Hintergrund nicht kennen, mögen denken, Paltchik sei einfach gerührt über die ausserordentliche Errungenschaft. Doch vielmehr weint er bittere Tränen für sein Volk Israel, er weint vor Schmerz über die Freunde, die nicht mehr wiederkommen werden und vor allem über das persönliche Leid seines Trainers Oren. Das Video braucht keine Übersetzung, ich finde, es ist eindrücklich genug, die beiden starken Männer weinen zu sehen.

Sechs Medaillen in verschiedenen Disziplinen hat das kleine Land Israel, welches seine zahlreichen Feinde gerne von den olympischen Spielen ausgeschlossen gesehen hätten, in Paris gewonnen. Ein anderes Video übersetze ich doch, denn Oren hat eine Botschaft, die mich persönlich sehr berührt und in diesen Tagen, da wir uns an jeden Strohhalm klammern, ermutigt: "Wir werden diese Krise überstehen, wir werden gedeihen, wir werden vereint Erfolge verzeichnen. Wir werden dieses Land weiter ausbauen, dieses Land, das nur das Allerbeste verdient. Sie (unsere Feinde und Missgönner aller Sorten - eigene Anmerkung) werden an ihren Orten leben und zusehen, wie wir wachsen und gedeihen, und das ist unsere Rache. Am Israel Chai!"


Samstag, 20. Juli 2024

Eine Zeile im Newsticker


Man kann und mag gar nicht alles Schlimme aufzählen, das in den letzten Monaten bei uns hier im Nahen Osten los ist. Die Liste ist unerschöpflich. Der Wahnsinn nimmt kein Ende und es scheint fast jeden Tag schlimmer zu werden. Ich weiß, dass sich meine Bekannten in der Schweiz und überhaupt Menschen anderswo auch mit grösster Mühe nicht vorstellen können, was diese irrwitzige Situation für uns bedeutet. Mit meinem Blog versuche ich, einen kleinen Einblick in unser Leben vor Ort in diesem umstrittenen Teil der Welt zu vermitteln. 
Rein äußerlich betrachtet führen wir, oder immerhin diejenigen von uns, die nicht evakuiert, an der Front, verletzt oder sonst irgendwie von den katastrophalen Folgen des Krieges direkt betroffen sind, ein recht alltägliches Leben. Wir gehen arbeiten und wir vergnügen uns sogar. Wir treiben Sport, gehen ans Meer, treffen Freunde, essen in Restaurants. Nur die Gedanken und Gespräche befassen sich hauptsächlich mit dem Krieg und seinen Auswirkungen. Und trotz aller scheinbarer Normalität ist unser Alltag leider auch fast immer absurd abnormal.




"Ein Toter und mehrere Verletzte nach Explosion in Tel Aviv"
Hinter einer unauffälligen Zeile im Newsticker verschiedener Tageszeitungen, die man in Europa gleichgültig überfliegt, stehen anderswo oft Welten, die zusammenbrechen.

Meine beiden älteren Kinder Sivan und Itay leben im Zentrum Tel-Avivs nur einen Kilometer voneinander entfernt. Freitagnachts um drei Uhr wird Itay von einer heftigen Explosion aus dem Schlaf gerissen. Der Blick ins Netz ergibt nach wenigen Minuten, dass in der nahen Ben Yehuda Strasse etwas Katastrophales passiert sein muss. Sivan wohnt an der Ecke Ben Yehuda und jetzt gehen weder sie noch ihr Freund ans Telefon, trotz wiederholten Anrufen. Ans Schlafen ist nicht mehr zu denken, Itay wirft sich ein T-Shirt über, steigt auf einen Scooter und beginnt im Dunkeln der Nacht eine panikartige Odyssee durch Tel-Aviv. Zuerst rast er zur Wohnung seiner Schwester. Als trotz kräftigem Poltern niemand öffnet, verstärken sich Itays Befürchtungen und er beschließt, den Ort der Explosion aufzusuchen. Dutzende Menschen befinden sich schon auf der Strasse und versuchen herauszufinden, was los ist. Trümmer liegen herum, zerbrochene Fenster, in den Geschäften sind die Regale zusammengebrochen, es riecht nach Feuer. Das Gebiet ist abgesperrt, weder die Polzei noch die Sanitäter scheinen Genaueres zu wissen.
Endlich ruft Sivans Freund zurück. Er hat einen ausserordentlich gesegneten Schlaf und von allem nichts mitbekommen. Sivan jedoch schläft diese Nacht bei uns, dreißig Kilometer nördlich von Tel-Aviv. Auch sie haben die unzähligen Anrufe nicht wecken können. Deshalb klingelt gegen vier Uhr dann mein Handy. Itay vergewissert sich, dass seine Schwester in Sicherheit ist. Danach fährt er, beruhigt oder nicht, nach Hause um bis zum Morgen noch etwas Schlaf nachzuholen. 
Wir hingegen sind jetzt wach und versuchen uns schlau zu machen, was passiert ist. Doch erst am Morgen klärt sich das Bild: Die Huthis im Jemen, Verbündete des Terrorregimes Iran, haben mit mehreren Sprengstoffdrohnen das Zentrum Tel-Avivs angegriffen. Eine der Drohnen ist in der Ben Yehuda Strasse explodiert, nur wenige Meter von der amerikanischen Botschaft entfernt. Einmal mehr haben meine Kinder Glück gehabt. Nicht so die Menschen, die bei der Attacke verletzt wurden und vor allem nicht der Mann, der in seiner Wohnung getötet wurde.

Itays nächtliche Abenteuer sorgen immerhin für Gesprächsstoff am Schabbatessen und sogar – was bleibt uns anderes übrig – für einiges Gelächter. Dass Sivans Verlobter einfach weiter schläft, während in seiner unmittelbaren Nachbarschaft eine Drohnenattacke stattfindet und ein Haus explodiert ist ja auch wirklich lustig, nicht wahr? Sivan behauptet, dass ihn auch eine Bande Hamas-Terroristen direkt neben dem Bett nicht wecken könne. Sie witzelt, dass er sich wahrscheinlich wie immer auf die andere Seite drehen und murmeln würde "nur noch fünf Minuten bitte". 
Das sind unsere ganz normalen Gespräche und Witze beim gemeinsamen Abendessen: absurd abnormal.

Noch erwähnenswert wäre, dass Tausende Geschosse aus dem Libanon den Norden Israels seit Monaten unbewohnbar machen. An die Hunderttausend Israelis sind evakuiert und können nicht in ihre Häuser zurück. Städte, Dörfer, Wohnhäuser, Plantagen und Wälder sind zerstört, Menschen wurden verletzt und getötet.

Was wollen die Huthis im Jemen oder die Hisbollah im Libanon von uns? Wollen sie mit uns über den Frieden reden? Haben sie ein Problem mit jüdischen "Siedlern" im Westjordanland? Wollen sie vielleicht eine friedliche Zweistaatenlösung? Nein, wenn sie und ihre feinen Freunde im Iran, für die sie operieren, überhaupt eine Lösung wollen, dann die Endlösung: Sie wollen Israel vernichten. 


 

Mittwoch, 17. Juli 2024

Immer wieder der 7. Oktober

An unserem Kühlschrank, der nach der Küchenrenovation viele Monate in sauberem Inox-Look ohne störende Zettelchen oder farbige Fotos glänzte, hängt seit Oktober wieder ein einziges, blumenverziertes, laminiertes Blatt: das Schabbatgebet im Gedenken an Nitzan.
Seit Nitzan ermordet worden ist, zündet Sivan jeden Freitag die Schabbatkerzen an und spricht das Gebet, in welches sie Nitzan miteinschliesst. Weder Sivan noch sonst jemand in meiner Familie ist religiös, doch vielleicht spenden Gebete Trost, wer weiss. Jeder hat seine eigenen Wege, das Geschehene zu bewältigen.

Sivan besucht auch öfter die Familie von Nitzan. In ihrem Haus, in der Strasse hinter uns, treffen sich die Freunde, als wären Nitzan und Lidor immer noch anwesend.

Als Ronit, die Mutter von Nitzan Sivan vor einiger Zeit fragte, ob sie sie zu einem Besuch der Stätte des Massakers begleiten möchte, schrillten bei Sivan die Alarmglocken. "Auf gar keinen Fall! Das könnte ich nicht aushalten!" dachte sie – und antortete "Ja, natürlich komme ich mit".

An einem Tag dieser heissen Sommerwoche reiste Nitzans Familie in Begleitung von Freunden und Bekannten nach Re'im.


Am Abend erzählte mir Sivan von den Eindrücken des schweren Tages:

Die Strasse 232, in deren Nähe das Nova-Festivalgelände lag, ist blutgetränkte Erde. Der Hauch des Horrors liegt über der Gegend. Das Gestrüpp, jeder Busch, jedes Sandkorn und jeder Windhauch scheinen von den höllischen Geschehnissen zu erzählen, deren stumme Zeugen sie waren. 
Am 7. Oktober positionierten sich Hunderte Hamas-Terroristen entlang dieser Straße. Sie besetzten die Kreuzungen und erschossen und massakrierten Dutzende auf der Straße fahrende Zivilisten in ihren Autos. Nachdem die mordenden Bestien abgezogen waren, lagen alle paar Meter Fahrzeuge auf der Strasse, viele auf dem Kopf, zerstört, zerschossen, verkohlt. Die palästinensischen Terroristen hatten Granaten in die Fahrzeuge geworfen, in denen sich schon halbtote oder erschossene Menschen befanden. 
Die Autos sind unterdessen weggeräumt, doch Einschusslöcher, grosse dunkle Flecken und beschädigte Stellen überall zeugen von den grauenhaften Stunden.



Der offene Schutzbunker, in welchem Nitzan ermordet wurde, hat die Grösse eines kleinen Zimmers. Etwa dreissig junge Festivalbesucher hatten darin vermeintlichen Schutz gesucht, während die barbarischen Mörder in der Gegend wüteten. Um die zwanzig Menschen sind in dem Bunker ermordet worden. Mehrere wurden von den Bestien auf ihre Pick-ups gezerrt und nach Gaza verschleppt, wo sie bis heute festgehalten werden. Einige haben das Inferno überlebt. Sie lagen verletzt während Stunden unter den zerfetzten Leichen ihrer Freunde, bis Hilfe kam.

Bekannt geworden ist die heldenhafte Geschichte von Aner Shapira: Er packte sieben Handgranaten, welche die Barbaren in den Bunker warfen, und schleuderte eine nach der anderen zurück, bis ihn die achte tötete. Sein Freund Hersh Goldberg-Polin, einige Schritte hinter ihm, verlor durch die Explosion eine Hand. Minuten später drangen Hamas-Terroristen in den Bunker ein, nahmen den verletzten Hersh und andere als Geiseln mit und liessen die Ermordeten und Verletzten in Lachen von Blut und Zerstörung zurück.

Es gibt eine mehrstündige Wiedergabe der Horrorstunden im Bunker. Eine der jungen Frauen hatte, irgendeiner Eingabe folgend, auf ihrem Handy die Aufnahmefunktion betätigt und endlos laufen lassen. 

Lidor, der Verlobte von Nitzan, verliess irgendwann den überfüllten Todesbunker in einem verzweifelten Versuch, zu entkommen. Heute hängt sein Bild neben den zwei Einschusslöchern an der Leitplanke, wo er niedergeschossen wurde. Auf der Aufnahme aus dem Bunker hört man Nitzan sagen: "Jetzt haben sie meinen Lidor erschossen". Nitzan wurde eine unermessliche Zeitspanne später durch die Granaten getötet. Es dauerte eine Woche, bis ihre Überreste identifiziert werden konnten.




Der Bunker wurde gereinigt und irgendwann frisch getüncht. Die Einschusslöcher und Beschädigungen sind noch da und zeugen von den grauenhaften Ereignissen. Hunderte Kerzen, Bilder und Inschriften erinnern auf dem Boden und an den Wänden an die Ermordeten.

Im Januar wurden auf dem ehemaligen Festivalgelände von den Angehörigen der 364 ermordeten Menschen Bäume gepflanzt. Lauter kleine Pflänzchen trotzen jetzt hier der prallen Sonne. Jedes trägt ein Bild und jedes einzelne ist Zeichen für ein nach qualvollen letzten Stunden brutal geraubtes Leben. Irgendwann werden der Aufenthalt auf diesem Schlachtfeld und die Hitze zuviel, Sivan muss sich übergeben.

Am Abend erzählt Sivan von der Reise und zeigt mir die Fotos. Bei den Aufnahmen vom Innern des Bunkers denke ich unweigerlich an ihre Berichte aus den Gaskammern in den Konzentrationslagern in Europa, die sie mit ihrer Klasse im Abschlussjahr, vor etwas mehr als zehn Jahren, besuchte. Dort waren die Opfer die Grosseltern ihrer Generation, hier sind es ihre Freunde und Bekannten.

Als ich Sivan am nächsten Tag noch einmal auf ihre Schilderungen anspreche, scheint sie zuerst nicht zu wissen, wovon ich rede. Sie erwidert etwas, das überhaupt nichts mit dem Thema zu tun hat. Mir wird klar, dass sie die Erinnerung daran schon wieder ganz tief in ihr Innerstes verdrängt hat.



Obwohl ich nur in Gedanken dabei gewesen bin, wühlen mich Sivans Berichte enorm auf und lassen mir viele Tage und Nächte keine Ruhe. Wie lebt man weiter? Einige beten, andere schreiben. Stunden und Tage vergehen und werden zu Monaten. Nichts wird besser. Viele der Freunde unserer Kinder gehen seit dem 7. Oktober keiner geregelten Arbeit nach und sind unfähig, Zukunftspläne zu schmieden. Wir wissen nicht, was sein wird. Und wir können nicht fassen, was gewesen ist.





Donnerstag, 11. Juli 2024

Die Acht-Uhr-Nachrichten

Auf der zehnminütigen Heimfahrt vom Training vernehme ich heute Morgen aus den Acht-Uhr-Nachrichten, dass nun betreffend des neuesten Abkommens zwischen der Hamas und Israel eine echte Chance auf eine Einigung bestehe. Es handelt sich um ein mehrstufiges Abkommen und die einzelnen Schritte werden vom Nachrichtensprecher in kurzen Sätzen erläutert. Sie scheinen, aus Distanz betrachtet, völlig plausibel und durchführbar. Die Grundrisse des Abkommens liegen fest, jetzt gehe es nur noch um die Details und die Folge der einzelnen Schritte. Um auch eventuell kritische Zuhörer von der Richtigkeit des Abkommens zu überzeugen, wird gleich noch die Aussage des kürzlich aus der Geiselhaft befreiten Alexej eingeblendet, der bekundet, wie sehr ihm und den anderen Geiseln die Gespräche über ein Abkommen während des Horrors in Gaza Hoffnung gespendet hatten.

Mir ist jedoch nach wie vor völlig unklar, wie man überhaupt in Betracht ziehen kann, sich mit einer bestialischen Bande von Mördern und Terroristen an einen Tisch zu setzten. Die Ziele des Krieges in Gaza waren von Israel von Anfang an klar definiert: Befreiung oder Rückgabe der Geiseln und Vernichtung der Hamas. Unterdessen ist wohl vielen klar geworden, dass ein Auslöschen der Hamas nicht so einfach, wenn nicht gar unmöglich ist. Es sei denn, man würde Hunderttausende zivile Opfer in Kauf nehmen, und das scheint wohl keine Option zu sein.

Auslöschen kann man sie also nicht, ein glaubwürdiger Verhandlungspartner sind sie auch nicht. Wenn man zwischen Pech und Schwefel wählen muss, mag ein Abkommen wohl vorerst die bevorzugte Lösung sein. Auf die Dauer sieht es für Israel so oder so schlecht aus.

Mir kommt ein Artikel über den damaligen Großmufti von Jerusalem in den Sinn, den ich einmal gelesen habe. Hajj Amin al-Husayni wurde 1921 im damaligen Palästina von der britischen Besatzungsmacht als Mufti von Jerusalem zum Oberhaupt der Muslime von Palästina ernannt. Vor und während dem Zweiten Weltkrieg kollaborierte der Mufti vom Nahen Osten aus mit Hitler und den Nazis und er hetzte Araber und Muslime gegen die Alliierten auf.
Ende 1947 versuchten die Briten herauszufinden, ob der Mufti ein gewisses Maß an Flexibilität in Bezug auf seine Haltung zur Teilung des Landes zwischen Juden und Muslimen hätte, die er vorerst strikt abgelehnt hatte. Das war nicht aber der Fall. Er erklärte:

"Wir hätten nichts gegen den Abzug der britischen Truppen aus Palästina. Wir haben keine Angst vor den Juden und ihren Organisationen, Irgun, Haganah, der Stern-Gruppe. Am Anfang könnten wir verlieren. Wir werden viele Verluste haben, aber am Ende werden wir gewinnen."

Was meinte er mit dem "Ende"? Ich befürchte, es handelte sich schon damals nicht einfach um den nächsten Krieg, oder irgendeine andere zeitlich festgelegte Errungenschaft, sondern um ein grösseres, globales Ziel: „Israel existiert und wird weiter existieren, bis der Islam es ausgelöscht hat, so wie er schon andere Länder vorher ausgelöscht hat.“ (Aus der Charta der Hamas).

Israels Feinde, und damit auch die Feinde des Westens, sind entschlossen, beharrlich und ausdauernd. Ein Abkommen mehr oder weniger – das mag ihr Ziel vielleicht um einige Jahre verzögern. Es wird sie aber schlussendlich nicht von ihrem Streben nach dem Erreichen „des Endes“ abbringen.

Und wir? Auch wir haben die Vernichtung der Hamas auf unser Banner geschrieben, aber nach einigen Monaten knicken wir ein. Wir verfügen nicht über die unnachsichtige und fast übermenschliche Hartnäckigkeit unserer Feinde. Wir wollen vor allem unsere in Gaza festgehaltenen Brüder und Schwestern zu Hause wissen, nicht mehr jeden Tag Berichte über gefallene Soldaten in den Schlagzeilen sehen, wir wollen wenigstens einigermassen in Sicherheit leben und wir wollen an den Frieden glauben. Kurzfristig gesehen ist das verständlich.

Ich kann nur hoffen, dass sich – längerfristig, rückblickend und dann wahrscheinlich zu spät gesehen – die Variante, Hunderttausende zivile Opfer in Kauf zu nehmen, nicht doch als diejenige herausstellen wird, die eine noch grössere Katastrophe verhindert hätte.