Mittwoch, 17. Juli 2024

Immer wieder der 7. Oktober

An unserem Kühlschrank, der nach der Küchenrenovation viele Monate in sauberem Inox-Look ohne störende Zettelchen oder farbige Fotos glänzte, hängt seit Oktober wieder ein einziges, blumenverziertes, laminiertes Blatt: das Schabbatgebet im Gedenken an Nitzan.
Seit Nitzan ermordet worden ist, zündet Sivan jeden Freitag die Schabbatkerzen an und spricht das Gebet, in welches sie Nitzan miteinschliesst. Weder Sivan noch sonst jemand in meiner Familie ist religiös, doch vielleicht spenden Gebete Trost, wer weiss. Jeder hat seine eigenen Wege, das Geschehene zu bewältigen.

Sivan besucht auch öfter die Familie von Nitzan. In ihrem Haus, in der Strasse hinter uns, treffen sich die Freunde, als wären Nitzan und Lidor immer noch anwesend.

Als Ronit, die Mutter von Nitzan Sivan vor einiger Zeit fragte, ob sie sie zu einem Besuch der Stätte des Massakers begleiten möchte, schrillten bei Sivan die Alarmglocken. "Auf gar keinen Fall! Das könnte ich nicht aushalten!" dachte sie – und antortete "Ja, natürlich komme ich mit".

An einem Tag dieser heissen Sommerwoche reiste Nitzans Familie in Begleitung von Freunden und Bekannten nach Re'im.


Am Abend erzählte mir Sivan von den Eindrücken des schweren Tages:

Die Strasse 232, in deren Nähe das Nova-Festivalgelände lag, ist blutgetränkte Erde. Der Hauch des Horrors liegt über der Gegend. Das Gestrüpp, jeder Busch, jedes Sandkorn und jeder Windhauch scheinen von den höllischen Geschehnissen zu erzählen, deren stumme Zeugen sie waren. 
Am 7. Oktober positionierten sich Hunderte Hamas-Terroristen entlang dieser Straße. Sie besetzten die Kreuzungen und erschossen und massakrierten Dutzende auf der Straße fahrende Zivilisten in ihren Autos. Nachdem die mordenden Bestien abgezogen waren, lagen alle paar Meter Fahrzeuge auf der Strasse, viele auf dem Kopf, zerstört, zerschossen, verkohlt. Die palästinensischen Terroristen hatten Granaten in die Fahrzeuge geworfen, in denen sich schon halbtote oder erschossene Menschen befanden. 
Die Autos sind unterdessen weggeräumt, doch Einschusslöcher, grosse dunkle Flecken und beschädigte Stellen überall zeugen von den grauenhaften Stunden.



Der offene Schutzbunker, in welchem Nitzan ermordet wurde, hat die Grösse eines kleinen Zimmers. Etwa dreissig junge Festivalbesucher hatten darin vermeintlichen Schutz gesucht, während die barbarischen Mörder in der Gegend wüteten. Um die zwanzig Menschen sind in dem Bunker ermordet worden. Mehrere wurden von den Bestien auf ihre Pick-ups gezerrt und nach Gaza verschleppt, wo sie bis heute festgehalten werden. Einige haben das Inferno überlebt. Sie lagen verletzt während Stunden unter den zerfetzten Leichen ihrer Freunde, bis Hilfe kam.

Bekannt geworden ist die heldenhafte Geschichte von Aner Shapira: Er packte sieben Handgranaten, welche die Barbaren in den Bunker warfen, und schleuderte eine nach der anderen zurück, bis ihn die achte tötete. Sein Freund Hersh Goldberg-Polin, einige Schritte hinter ihm, verlor durch die Explosion eine Hand. Minuten später drangen Hamas-Terroristen in den Bunker ein, nahmen den verletzten Hersh und andere als Geiseln mit und liessen die Ermordeten und Verletzten in Lachen von Blut und Zerstörung zurück.

Es gibt eine mehrstündige Wiedergabe der Horrorstunden im Bunker. Eine der jungen Frauen hatte, irgendeiner Eingabe folgend, auf ihrem Handy die Aufnahmefunktion betätigt und endlos laufen lassen. 

Lidor, der Verlobte von Nitzan, verliess irgendwann den überfüllten Todesbunker in einem verzweifelten Versuch, zu entkommen. Heute hängt sein Bild neben den zwei Einschusslöchern an der Leitplanke, wo er niedergeschossen wurde. Auf der Aufnahme aus dem Bunker hört man Nitzan sagen: "Jetzt haben sie meinen Lidor erschossen". Nitzan wurde eine unermessliche Zeitspanne später durch die Granaten getötet. Es dauerte eine Woche, bis ihre Überreste identifiziert werden konnten.




Der Bunker wurde gereinigt und irgendwann frisch getüncht. Die Einschusslöcher und Beschädigungen sind noch da und zeugen von den grauenhaften Ereignissen. Hunderte Kerzen, Bilder und Inschriften erinnern auf dem Boden und an den Wänden an die Ermordeten.

Im Januar wurden auf dem ehemaligen Festivalgelände von den Angehörigen der 364 ermordeten Menschen Bäume gepflanzt. Lauter kleine Pflänzchen trotzen jetzt hier der prallen Sonne. Jedes trägt ein Bild und jedes einzelne ist Zeichen für ein nach qualvollen letzten Stunden brutal geraubtes Leben. Irgendwann werden der Aufenthalt auf diesem Schlachtfeld und die Hitze zuviel, Sivan muss sich übergeben.

Am Abend erzählt Sivan von der Reise und zeigt mir die Fotos. Bei den Aufnahmen vom Innern des Bunkers denke ich unweigerlich an ihre Berichte aus den Gaskammern in den Konzentrationslagern in Europa, die sie mit ihrer Klasse im Abschlussjahr, vor etwas mehr als zehn Jahren, besuchte. Dort waren die Opfer die Grosseltern ihrer Generation, hier sind es ihre Freunde und Bekannten.

Als ich Sivan am nächsten Tag noch einmal auf ihre Schilderungen anspreche, scheint sie zuerst nicht zu wissen, wovon ich rede. Sie erwidert etwas, das überhaupt nichts mit dem Thema zu tun hat. Mir wird klar, dass sie die Erinnerung daran schon wieder ganz tief in ihr Innerstes verdrängt hat.



Obwohl ich nur in Gedanken dabei gewesen bin, wühlen mich Sivans Berichte enorm auf und lassen mir viele Tage und Nächte keine Ruhe. Wie lebt man weiter? Einige beten, andere schreiben. Stunden und Tage vergehen und werden zu Monaten. Nichts wird besser. Viele der Freunde unserer Kinder gehen seit dem 7. Oktober keiner geregelten Arbeit nach und sind unfähig, Zukunftspläne zu schmieden. Wir wissen nicht, was sein wird. Und wir können nicht fassen, was gewesen ist.





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