Mittwoch, 3. September 2025

Schweizer Idylle, israelische Realität

Wegen des instabilen Gesundheitszustandes meiner Eltern – und dank eines verlockenden Flugangebotes – bin ich schon wieder für eine Woche in der Schweiz.
Nicht nur das Wetter ist hier völlig anders. Es wirkt surreal, wie nicht-existent nur vier Flugstunden entfernt die Probleme sind, die in Israel unseren Alltag bestimmen.

Kein Krieg, keine Raketenalarme. Keine Ehemänner, die seit Monaten im Reservedienst sind, keine Kinder, die als Soldaten in Gaza kämpfen. Keine jungen Männer, für die schrecklichste Kriegssituationen Alltag sind. Keine Gefallenen, keine Verletzten, keine Kriegs- und Terror-Traumata. Keine seit dem 7. Oktober 2023 schmerzlich vermissten Familienmitglieder, Freunde oder Bekannten, die nie mehr wiederkommen werden. Kein Riss in der Gesellschaft, weil man sich über die Rückführung der Geiseln und die Weiterführung des Krieges uneinig ist. Keine unlösbaren regionalen Konflikte, keine ständige Bedrohung durch die Nachbarländer. Keine Achterbahn-fahrende Wirtschaft wegen der Kriegskosten. Keine Alltagsgespräche, die sich alle, aber wirklich alle, nach wenigen Minuten immer um ein einziges Thema drehen: „haMazav“, die „gegenwärtige Situation“.



Fast erscheint mir das Leben in der Schweiz ein wenig leer. Worüber macht man sich hier eigentlich Sorgen? Wo man das Velo abstellen darf und wo nicht? Oder über ein paar Migranten zuviel? In einer Skala von existentiellen Problemen von 1 bis 100 – die ich gerade frei erfunden habe – liegt die Schweiz für mich bei 10. Israel hingegen bei gefühlten 250. 250, das heisst in Worten: nicht mehr auszuhalten.

Gerade heute Morgen gibt es wieder grossflächigen Alarm von Netanya bis Jerusalem wegen Raketen aus dem Jemen. Lianne ist mit dem Auto nach Tel-Aviv unterwegs. Sie ruft mich an und erzählt, jemand habe sie von hinten angefahren, weil alle plötzlich in Panik anhalten oder in alle Richtungen rennen. Sivan lässt in ihrer Tel-Aviver Wohnung die Tomatensauce anbrennen, während sie im Treppenhaus Schutz sucht. Doch was ist schon eine angebrannte Tomatensauce? Nicht der Rede wert.

Hier hingegen läuten friedlich die Kirchenglocken, während ich diese Zeilen schreibe. In den Nachrichten spricht man, wie immer, über Völkermord und Hunger in Gaza.

Die Frage liegt auf der Hand – wo möchte ich sein? Soll ich wirklich nach Israel zurückkehren? 
Natürlich ist das eine eher rhetorische Frage – Israel ist mein Lebensmittelpunkt. Meine Familie lebt dort.

Doch wenn man nur ein wenig tiefer unter die glänzende Oberfläche der Schweizer Idylle schaut, ist die Antwort klar. Die Israelphobie, die Ideologie des Hasses gegenüber dem Staat Israel und all seinen Bürgern, sowie die Verachtung aller Juden weltweit – sie werden in Gesprächen selten ausgesprochen, aber sie sind real. Vielleicht könnte man diese Stimmung eine Weile ignorieren. Die Ruhe und die hohe Lebensqualität in der Schweiz sind tatsächlich verführerisch. Doch hinter der ruhigen Fassade brodelt es gewaltig. Fast alle sind jetzt überzeugt, dass Israel der Bösewicht, der Angreifer, der Täter und der Schuldige ist.

Will ich in einem Land leben, in dem die alten Lügen vom „Juden als Brunnenvergifter“ wieder salonfähig sind? In einem Land, in dem man – in dem mein Volk – gehasst wird?
Dann vielleicht doch lieber Krieg?


Am Freitag geht mein Flug. Bis dahin kann ich es mir noch überlegen – und die Normalität geniessen.









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