Samstag, 20. Juli 2024

Eine Zeile im Newsticker


Man kann und mag gar nicht alles Schlimme aufzählen, das in den letzten Monaten bei uns hier im Nahen Osten los ist. Die Liste ist unerschöpflich. Der Wahnsinn nimmt kein Ende und es scheint fast jeden Tag schlimmer zu werden. Ich weiß, dass sich meine Bekannten in der Schweiz und überhaupt Menschen anderswo auch mit grösster Mühe nicht vorstellen können, was diese irrwitzige Situation für uns bedeutet. Mit meinem Blog versuche ich, einen kleinen Einblick in unser Leben vor Ort in diesem umstrittenen Teil der Welt zu vermitteln. 
Rein äußerlich betrachtet führen wir, oder immerhin diejenigen von uns, die nicht evakuiert, an der Front, verletzt oder sonst irgendwie von den katastrophalen Folgen des Krieges direkt betroffen sind, ein recht alltägliches Leben. Wir gehen arbeiten und wir vergnügen uns sogar. Wir treiben Sport, gehen ans Meer, treffen Freunde, essen in Restaurants. Nur die Gedanken und Gespräche befassen sich hauptsächlich mit dem Krieg und seinen Auswirkungen. Und trotz aller scheinbarer Normalität ist unser Alltag leider auch fast immer absurd abnormal.




"Ein Toter und mehrere Verletzte nach Explosion in Tel Aviv"
Hinter einer unauffälligen Zeile im Newsticker verschiedener Tageszeitungen, die man in Europa gleichgültig überfliegt, stehen anderswo oft Welten, die zusammenbrechen.

Meine beiden älteren Kinder Sivan und Itay leben im Zentrum Tel-Avivs nur einen Kilometer voneinander entfernt. Freitagnachts um drei Uhr wird Itay von einer heftigen Explosion aus dem Schlaf gerissen. Der Blick ins Netz ergibt nach wenigen Minuten, dass in der nahen Ben Yehuda Strasse etwas Katastrophales passiert sein muss. Sivan wohnt an der Ecke Ben Yehuda und jetzt gehen weder sie noch ihr Freund ans Telefon, trotz wiederholten Anrufen. Ans Schlafen ist nicht mehr zu denken, Itay wirft sich ein T-Shirt über, steigt auf einen Scooter und beginnt im Dunkeln der Nacht eine panikartige Odyssee durch Tel-Aviv. Zuerst rast er zur Wohnung seiner Schwester. Als trotz kräftigem Poltern niemand öffnet, verstärken sich Itays Befürchtungen und er beschließt, den Ort der Explosion aufzusuchen. Dutzende Menschen befinden sich schon auf der Strasse und versuchen herauszufinden, was los ist. Trümmer liegen herum, zerbrochene Fenster, in den Geschäften sind die Regale zusammengebrochen, es riecht nach Feuer. Das Gebiet ist abgesperrt, weder die Polzei noch die Sanitäter scheinen Genaueres zu wissen.
Endlich ruft Sivans Freund zurück. Er hat einen ausserordentlich gesegneten Schlaf und von allem nichts mitbekommen. Sivan jedoch schläft diese Nacht bei uns, dreißig Kilometer nördlich von Tel-Aviv. Auch sie haben die unzähligen Anrufe nicht wecken können. Deshalb klingelt gegen vier Uhr dann mein Handy. Itay vergewissert sich, dass seine Schwester in Sicherheit ist. Danach fährt er, beruhigt oder nicht, nach Hause um bis zum Morgen noch etwas Schlaf nachzuholen. 
Wir hingegen sind jetzt wach und versuchen uns schlau zu machen, was passiert ist. Doch erst am Morgen klärt sich das Bild: Die Huthis im Jemen, Verbündete des Terrorregimes Iran, haben mit mehreren Sprengstoffdrohnen das Zentrum Tel-Avivs angegriffen. Eine der Drohnen ist in der Ben Yehuda Strasse explodiert, nur wenige Meter von der amerikanischen Botschaft entfernt. Einmal mehr haben meine Kinder Glück gehabt. Nicht so die Menschen, die bei der Attacke verletzt wurden und vor allem nicht der Mann, der in seiner Wohnung getötet wurde.

Itays nächtliche Abenteuer sorgen immerhin für Gesprächsstoff am Schabbatessen und sogar – was bleibt uns anderes übrig – für einiges Gelächter. Dass Sivans Verlobter einfach weiter schläft, während in seiner unmittelbaren Nachbarschaft eine Drohnenattacke stattfindet und ein Haus explodiert ist ja auch wirklich lustig, nicht wahr? Sivan behauptet, dass ihn auch eine Bande Hamas-Terroristen direkt neben dem Bett nicht wecken könne. Sie witzelt, dass er sich wahrscheinlich wie immer auf die andere Seite drehen und murmeln würde "nur noch fünf Minuten bitte". 
Das sind unsere ganz normalen Gespräche und Witze beim gemeinsamen Abendessen: absurd abnormal.

Noch erwähnenswert wäre, dass Tausende Geschosse aus dem Libanon den Norden Israels seit Monaten unbewohnbar machen. An die Hunderttausend Israelis sind evakuiert und können nicht in ihre Häuser zurück. Städte, Dörfer, Wohnhäuser, Plantagen und Wälder sind zerstört, Menschen wurden verletzt und getötet.

Was wollen die Huthis im Jemen oder die Hisbollah im Libanon von uns? Wollen sie mit uns über den Frieden reden? Haben sie ein Problem mit jüdischen "Siedlern" im Westjordanland? Wollen sie vielleicht eine friedliche Zweistaatenlösung? Nein, wenn sie und ihre feinen Freunde im Iran, für die sie operieren, überhaupt eine Lösung wollen, dann die Endlösung: Sie wollen Israel vernichten. 


 

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