Sonntag, 25. August 2024

Krieg und zwei platte Reifen

Auch wenn es heute früh einige Stunden anders ausgesehen hat, uns geht es immer noch – doch, ich sage "gut". Man kann unseren Alltag im Ausnahmezustand kaum beschreiben, weder mit einem, noch mit vielen Worten. Doch wieder ist für uns, an unserem Wohnort, ein Tag ohne Alarm vergangen. Wir müssen nicht in den Schutzraum rennen, wir bewegen uns frei in einem bestimmten Umkreis, wir gehen zur Arbeit und vergnügen uns, soweit es geht. Wir (meine Familie) sind einigermassen in Sicherheit. Wenn man das Mikro betrachtet und nicht das Makro, geht es uns also immer noch gut. Anderswo ist das nicht so, wie man zum Beispiel bei Lila lesen kann.

Um uns herum herrscht Chaos und die Situation wird jeden Tag schlimmer. Vor zwei Wochen versetzten mich die Nachrichten über den unmittelbar bevorstehenden Angriff aus dem Iran einige Tage in Panik. Unterdessen habe ich mich beruhigt und würde nun meinen Gemütszustand eher als zutiefst frustriert beschreiben. Ich versuche, mir eine "mir ist alles egal" Haltung zu eigen zu machen. Ich gebe mir grösste Mühe, die kleinen guten Momente zu geniessen und Schlimmeres möglichst von mir fernzuhalten. Fernsehen schaue ich seit Jahren nicht mehr, schon gar keine Nachrichten. Nun stelle ich auch bewusst  beim Autofahren das Radio leise, wenn es Zeit für Nachrichten ist. Auf Instagram und Facebook scrolle ich bei unerfreulichen Nachrichten schnell weiter. Es ist so viel los - ich will nicht mehr rund um die Uhr mit Katastrophen konfrontiert werden. Ich will einfach nichts mehr hören und wissen.

Doch ich lebe nicht auf einer einsamen Insel und weiss natürlich trotzdem, dass die israelische Armee vergangene Woche sechs Entführte tot geborgen hat, nachdem diese am 7. Oktober lebend nach Gaza verschleppt, wochen- oder monatelang gefoltert und schlussendlich von ihren Hamas-Bewächtern ermordet worden sind. Ich weiss auch, dass die entführte Agam Berger vor vier Tagen in Hamas-Geiselhaft 20 Jahre alt geworden ist, dass überhaupt bald alle entführten Israelis in Geiselhaft mindestens einmal Geburtstag hatten. Ich weiss, dass am Wochenende wieder fünf oder sechs Soldaten gefallen sind.

 Passionsfrüchte aus unserem Garten. Ich zelebriere und geniesse jede Einzelne.



Letzte Woche verbrachte Lianne einige Tage im Spital. Eine Riesenzyste hatte sich gebildet, die mit intravenöser Medikamentenabgabe behandelt werden musste. Zum Glück sprach Lianne auf die Medikamente gut an und wurde vor dem Wochenende wieder nach Hause entlassen. Sie muss jedoch noch weiter viele Medikamente einnehmen. Leider ist sie als Folge auf die Krankheit ihre zwei Jobs als Tagesmutter erst einmal los, denn bei solchen Gelegenheitsarbeiten kann man es sich nicht leisten, zwei oder drei Wochen krank zu sein.

Die Stunden in der Notaufnahme waren nicht gerade ein grosser Spass. Viele kranke oder verunfallte Menschen, Junge und Alte, das ist schwer mitanzusehen. Am Schlimmsten war jedoch mein Kopfkino. Mir drängten sich Gedanken an ein Mega-Attentat auf und ich konnte die Bilder von Dutzenden, ja Hunderten blutender Schwerstverletzten, welche die Notaufnahme wie ein Tsunami überschwemmten, einfach nicht loswerden. So war es am 7. Oktober, das erzählten uns die Freunde von Yotam. Sie entkamen den Hamas-Terroristen mit Splittern am ganzen Körper, wurden jedoch im südlichen Soroka-Spital in der ganzen Aufregung nicht einmal beachtet.

An einem gewöhnlichen Montag verläuft hier jedoch alles einigermassen ruhig und nach drei Stunden Aufnahmeprozedur bekam Lianne ein Bett mit Aussicht im 6. Stock. Für uns bedeuteten diese Tage täglich mühsame Fahrten nach Tel-Aviv, lange Besuche in der stinkenden Abteilung (bitte entschuldigt, aber Dermatologie ist schrecklich) und vor allem viele Sorgen um Lianne und ihre Gesundheit.

Nach einem sehr ruhigen Wochenende, an welchem wir uns erst einmal von dem ganzen Spitaltumult erholen mussten, lagen Eyal und ich heute früh beide um vier Uhr morgens wach. Warum rumorte die Klimaanlage plötzlich so? Ich drehte mich lange im Bett und konnte mein Gedankenkarusell erst mit etwas Lesen beruhigen. Kurz nachdem ich endlich wieder eingeschlafen war, zog Eyal, schon frisch geduscht, um 6 Uhr dreissig an der Decke und weckte mich auf, um mir mitzuteilen, dass die IDF vor Kurzem im Norden eine Präventivoperation geflogen hat (unsere Klimaanlage ist also doch in Ordnung!) und nun die Hisbollah ihre Raketen und Drohnenangriffe sowohl in der Zahl als auch in der Reichweite ausweitete. Die Raketen kamen heute morgen schon bis nach Akko, das ist nur 80 Kilometer von uns entfernt. Eyal musste  trotz allem ins Büro, doch ich würde im Heimoffice arbeiten und meine Schwiegermutter zu uns holen.

Später schien sich die Lage zu beruhigen, oder sich immerhin im Moment nicht mehr auszuweiten. Durch die Präventivoperation konnte die IDF den von der Hisbollah und dem Iran für fünf Uhr morgens geplanten Grossangriff auf das Zentrum Israels verhindern. Im Laufe des Tages und nachdem sie innert Stunden einige Hundert Raketen nach Israel abgefeuert hatten, gaben dann sowohl die Hisbollah als auch der Iran bekannt, dass das für heute alles wäre.

Lianne, unsere Realitätsverdrängungskünstlerin, verschlief wieder einmal alles. Erst gegen zehn stand sie auf und sagte, noch schläfrig "Ich versteh nichts mehr. Haben wir Krieg oder was? Kann ich mit meiner Freundin in die Shoppingmall fahren?"

Was sollte ich sagen? Ja, wir haben Krieg, aber im Moment kommt er nur bis 80 Kilometer von hier. Du kannst also fahren. Wir machen weiter, so lange es geht. Was in ein paar Stunden sein wird, weiss keiner.

Im Nachhinein hätte Lianne vielleicht doch zu Hause bleiben sollen, denn die Shoppingtour endete mit zwei platten Reifen, da sie den Parkplatz (mit meinem Auto!) in die Gegenrichtung verliess und dabei die Krallen übersah.

Alltag eben!




2 Kommentare:

Schreibschaukel hat gesagt…

Ich denke gerade, dass ihr mittlerweile dem "üblichen" Wahnsinn des Alltags gegenüber wohl viel entspannter seid als wir. Worüber wir uns hier so aufzuregen pflegen - "heitere Fahne"...

Yael Levy hat gesagt…

Oh ja, ich denke schon, dass man sich nicht mehr so schnell über alles aufregt, wenn die eigene Existenz bedroht ist. Zuletzt bleibt oft eh nur noch der Humor, um bestimmte Situationen zu bewältigen..