Dienstag, 26. November 2024

Raketen hier und da

Der furchtbare Ausnahmezustand ist Alltag geworden. Katastrophen passieren einfach so nebenbei. Das Sirenengeheul, die Raketenangriffe, die Attentate, die Verschleppten, die Überlebenden, die Gefallenen, die zerstörten Familien, die Beerdigungen, die Binnenflüchtlinge, die leerstehenden, zerfallenden Dörfer und Städte, die abgebrannten Wälder und Haine, die Traumas - sie sind zu den Rahmenbedingungen geworden, zwischen denen sich Arbeit und wenige private Vergnügen abspielen. Es ist erschreckend, an welche Umstände man sich gewöhnen kann, wenn man nur die Gedanken daran geflissentlichst verdrängt. Viele Familien bezahlen jedoch einen unerträglich hohen Preis in diesem Krieg ohne absehbare Wendung. Wer weniger direkt betroffen ist, verdrängt. Dass auch wir, die Privilegierten hier in Israels Zentrum, alle paar Tage in den Schutzraum rennen müssen, gehört unterdessen zu unserem Alltag wie der Verlauf der Wochentage. Die Alarme bescheren einige Minuten Aufregung, dann atmen wir kurz durch und machen weiter. An einem Morgen überrascht mich der Alarm, als ich an der Arbeit gerade aus der Dusche steige. Nur mit einem Frottiertuch bedeckt, ziehe ich es vor, einfach im Umkleideraum auszuharren, anstatt mich in den gemeinsamen Schutzraum zu begeben. Dass das gefährlich sein kann, wissen wir unterdessen. Die Hisbollah zielt absichtlich auf zivile Einrichtungen und immer wieder werden Menschen durch die Raketen oder herabfallende Trümmer verletzt oder getötet. Auch der Sonntag beginnt diese Woche mit Raketenalarm und bis zum Abend wird er zu einem Rekordtag mit über 250 Raketenangriffen aus dem Libanon. Trotz aller Abwehrsysteme werden acht Menschen verletzt. Während wir im Schutzraum sitzen, bebt das Haus und die Fenster zittern, als würde alles gleich in sich zusammenbrechen. An diesem Sonntag fallen auch Bruchstücke einer Rakete auf eine Strasse in meiner unmittelbaren Nachbarschaft.

Wir versuchen durchzuhalten. Was das bedeutet, beschreibt meine Bloggerkollegin Schreibschaukel, die sich nicht beirren lässt und sich aus der Schweiz unermüdlich für Israel einsetzt.

Durchhalten klappt jedoch schlecht und recht, nur wenn man sich gezielt beschäftigt, die Gedanken nicht zulässt und das Unbehagen bewusst unterdrückt. Gedanken an die in den - in der kalten und regenreichen Jahreszeit nasskalten - Tunnels in Gaza festgehaltenen Verschleppten schiebe ich schnell weg, sobald sie aufkommen. Die täglich fallenden Soldaten mag ich nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Sie werden für mich zu einer schmerzlichen Masse von auf tragische Weise abrupt beendeten schönen jungen Leben.

Das Schlimmste ist jedoch, dass die ganze Welt um uns herum vollkommen aus den Fugen geraten zu sein scheint. Skandalöse mediale Desinformation und willkürlich verbreitete Lügen haben dazu geführt, dass der Hass auf Israel und auf Juden rund um den Globus wieder salonfähig ist. Überall werden Juden gejagt, verfolgt, ausgeschlossen, diffamiert, beschuldigt. Falsche Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien schüren Misstrauen und Hass und schaffen ein Klima der Diskriminierung und Gewalt. Antisemitische Straftaten sind an der Tagesordnung, jüdische Gemeinschaften fühlen sich bedroht und jüdische Menschen leben auf der ganzen Welt, einmal mehr, auf gepackten Koffern.

Doch es ist nicht einmal "nur" der Antisemitismus. Die Welt steht kopf, in allen Bereichen. Wie zutreffend, dass wir in diesen Zeiten unsere letzten Hoffnungen auf einen verrückten orangefarbenen Mann setzen!


Wie der orangefarbene Mann aber vielleicht tatsächlich nicht nur Amerika, sondern auch die Welt neu gestalten könnte, das schreibt Douglas Murray in zehn Punkten in seinem Artikel in der New York PostHier ein übersetzter Auszug aus dem zehnten und abschließenden Punkt: 

"Das bringt mich zu dem wichtigsten Punkt, den Trump im Nahen Osten tun kann. Jetzt ist es an der Zeit, die Sanktionen wieder in Kraft zu setzen. Der Iran hat im vergangenen Jahr erlebt, wie seine Terror-Stellvertreter durch das israelische Militär und den israelischen Geheimdienst lahmgelegt wurden. Jetzt ist es an der Zeit, der Schlange den Kopf abzuschlagen. Wer weiß, vielleicht wird das schmutzige, barbarische islamische Regime in Teheran endlich fallen und das iranische Volk kann endlich sein Land zurückbekommen. Wenn dem so ist, kann Trump vielleicht bis zum Ende seiner nächsten Amtszeit den Iran in das Abraham-Abkommen aufnehmen. Das wäre etwas, das sogar das Nobelkomitee bemerken müsste."

Ich gebe zu, diese Vorstellung ist etwas zu schön, um wahr zu sein. Doch was bleibt uns anderes als die Hoffnung?


Wenn der Ausnahmezustand Alltag wird, kann man auch Ausflüge unternehmen.
Am Wochenende in der Umgebung Jerusalems.

Dem Alltag entfliehe ich unter anderem mit Lesen. Das Buch, das ich zur Zeit verschlinge, beschreibt zwar ebenfalls das schwierige Leben verzweifelter und bedrängter Menschen in beschwerlichen Zeiten, aber es ist eines der wenigen, das es schafft, mich vom endlosen Scrollen auf dem Handy fern zu halten.

Meine Schwiegermutter ist in Bagdad geboren. Obwohl sie nur elf Jahre ihrer Kindheit vor der Flucht mit der Familie im Irak verbracht hat, ist die Kultur, mit der sie aufgewachsen ist und die ihre Eltern nach Israel gebracht haben, tief in ihr verwurzelt. Ich habe von ihr und ihren zahlreichen Geschwistern viel über die Jahre ihrer Kindheit in dieser für mich völlig fremden Welt gehört. Als mir das Buch "Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom" von Mona Yahia unter die Finger kam, war meine Neugierde sofort geweckt. Würde es mir diese unerreichbare und unvorstellbare Stadt näherbringen? Jetzt bin ich erst zwei Drittel durch und ich bin begeistert. Die Handlung ist fesselnd und Mona Yahia hat eine wunderbare Gabe, Situationen überwältigend realitätsnah zu beschreiben. 

"Ein Militärjeep hält vor unserem Haus. Eine Fliegenklatsche stoppt mitten in der Bewegung. Ein Satz vergisst sein Ende. Ein ungeknackter Kürbiskern liegt zwischen zwei Schneidezähnen. Zwei Soldaten springen aus dem Jeep. Vater sitzt wie gelähmt auf seinem Stuhl. Mutter fleht zu Gott. Ich nehme Curry (die Katze) auf den Schoss. Die Soldaten gehen zum Kühler ihres Autos, heben die Haube und inspizieren den Motor...."

Wer geglaubt hat, die irakischen Juden wären vielleicht der schönen Mittelmeerstrände wegen nach Israel gekommen, für den ist diese Lektüre Pflicht. Doch auch etwas informierteren Lesern empfehle ich das Buch wärmstens.



Mittwoch, 6. November 2024

When life gives you lemons

Die Demonstrationen und die Aufruhr in den Medien, die der Entlassung des Verteidigungsministers Gallant folgen, frustrieren mich enorm. Mir reicht es. Ich will einfach nur Ruhe, Harmonie und Vernunft – etwas, von dem man hier nur träumen kann. In einer sehr unruhigen Nacht träume ich hingegen von einer chaotischen Zukunft, geprägt von Bürgerkriegen, einer unfähigen Kamala Harris als Präsidentin und – wieder einmal – von einem Umzug in die ruhige Schweiz. Mein Herz fliegt zwischen den Ländern dahin, verwirrt und heimatlos.

Weil ich nicht mehr schlafen kann, stehe ich schon um sechs Uhr auf. Eine Runde im Garten beruhigt mich. Wo auf der Welt ist es sonst noch so hell und mild in diesen frühen Stunden? Ich pflücke einige Mini-Zitronen vom Baum, lasse mich von ihrem Geruch betören und setze mich dann unter die Pergola zum Lesen, bis der Tag richtig anbricht.



Meine Laune wird sogar noch besser, als bestätigt wird, dass Trump die Wahlen zum US-Präsidenten gewonnen hat. Ja, ich weiss, für diese Aussage werden mich die Leser in Europa verachten, doch für uns in Israel wäre die Wahl von Harris eine wahre Katastrophe gewesen. Mit Trump stehen die Chancen für Israels Zukunft um Vieles besser. Es ist für uns eben weniger wichtig, dass Trump zum Essen nicht auf Ketchup verzichten kann und dass er ein Chauvinist und rhetorischer Trampel ist. Auf diesen sehr aufschlussreichen Artikel von Ayaan Hirsi Ali bin ich bei meiner Bloggerkollegin aufmerksam geworden und für mich sind die Erläuterungen der Autorin absolut stichhaltig.

Um 11:20 dröhnen die Luftschutzalarme in unserer Gegend und ich eile in den Schutzraum. Kurz darauf erschüttern mehrere sehr beunruhigende Bumms die Region.


Kein Wunder, dieses Bild stammt aus Raanana, nur knapp mehr als 15 Kilometer von unserem Dorf entfernt. Dort wohnt meine Arbeitskollegin. Und ist das nicht ihr Auto? Ich werde sie morgen darauf ansprechen…

Doch das hier ist kleiner Schnickschnack. Nach Beschuss durch etwa 50 Raketen der Hisbollah aus dem Libanon kommt es in Avivim, etwas nördlich von Haifa, zu grossen Schäden mit zwei Toten, Verletzten und umfangreichen Bränden.

Wieder ein Tag …




Montag, 4. November 2024

Zwischen den Katastrophen

Wolken bedeuten in Israel, dass der Sommer zu Ende ist
Zwischen den Katastrophen fliessen die Tage dahin. Natürlich nicht für jedermann. Bestimmt nicht für die in Gaza festgehaltenen Geiseln, die seit 396 Tagen unvorstellbare Qualen durchleiden. Für sie und ihre Angehörigen fliessen die Tage nicht, im Gegenteil, jede Minute muss sich für sie ins Unendliche ziehen. Auch für die Zehntausenden israelischen Binnenflüchtlinge fliessen die Tage nicht, und ebenso nicht für die Soldaten, die unter Lebensgefahr an allen Fronten kämpfen, damit wir vielleicht irgendwann wieder sicher leben können.

Aber für uns, die wir an einem nicht rund um die Uhr gefährdeten Ort wohnen, köchelt der Krieg auf kleinem Feuer. Damit meine ich folgendes:

An einem vereinzelten Tag vergangene Woche jagt uns ein Luftschutzalarm in den frühen Morgenstunden in den Schutzraum. An einem anderen Tag tötet eine Hisbollah-Rakete in Metulla fünf Menschen in einem Früchtehain. Später werden eine Frau und ihr erwachsener Sohn in einem Olivenhain am Rande der Küstenstadt Haifa durch Granatsplitter getötet. Freitagnacht schlägt eine Rakete in Tira ein, einem arabischen Dorf, das nur etwa 10 Kilometer Luftlinie von uns entfernt liegt. Der Einschlag um 02:18 schreckt uns aus den Betten. 19 Menschen werden verletzt. Jeden Tag werden die Namen der gestern gefallenen Soldaten bekanntgegeben, viele junge Burschen, aber auch viele Familienväter. Im Büro gehe ich an einen Vortrag von Eyal Eshel, dem Vater der Soldatin Roni Eshel, die am 7. Oktober in der Basis Nahal-Oz von den Hamas-Terroristen ermordet wurde. 34 Tage wartete Ronis Familie auf eine Bestätigung über das Verbleiben der Tochter. Eyals Aussagen sind haarsträubend. Ich nehme all diese Ereignisse, Fakten und Katastrophen zur Kenntnis und stecke sie weg. So fliessen die Tage eben dahin.

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Hat da nicht der Falsche die Kippa auf?

Alon ist aufgrund seines charismatischen und aufgestellten Gemüts, seinem Tatendrang und nicht zuletzt aufgrund des fragwürdigen Titels, einer der schwerstverletzten Soldaten dieses Krieges zu sein, zu einer kleinen Berühmtheit in Israel geworden. Nach Teilnahme an einer Modekampagne mit amputierten Models und in der Reportage über schwerverletzte Kampfsoldaten auf Kanal 12 im israelischen Fernsehen, folgte vergangene Woche die Audienz beim Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche – dem Papst, mit einer Delegation aus dem Sheba-Spital. Wer des Hebräischen mächtig ist, findet in diesem Artikel ein kurzes Gespräch mit Alon über den Besuch im Vatikan. Alon erzählt, dass ihn die päpstliche Segnung ausserordentlich berührt hat. Auf dem offiziellen Instagram-Konto "State of Israel" kann man sich ein paar Bilder des Treffens ansehen.
Auch ich sehe mir die Fotos immer wieder an und komme aus dem Staunen nicht heraus. Es ist tatsächlich Alon, aus der Rimonstrasse in unserem Dorf. Alon und der Papst. Alons Eltern, die ich von vielen Klassen- und Pfadfindertreffen in sehr lockerer Kleidung kenne, haben sich für das offizielle Treffen in Schale geworfen. Ganz in Schwarz, in Anzug und Krawatte, sehen sie sehr schick aus.

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Wie für die meisten jungen "Tel-Avivi" ist Schick-Essen-Gehen eine der bevorzugten Tätigkeiten unserer Tochter Sivan. Beim Betrachten ihres Instagram-Feeds läuft einem zu jeder Tageszeit das Wasser im Mund zusammen und man bekommt den Eindruck, ihr Leben bestehe nur aus Streetfood und Essen in Restaurants. Fotos von verführerischen Häppchen, saftigen Steaks, Saucen, Beilagen und farbigen Drinks, toll gestylt und angerichtet, sind an der Tagesordnung. Natürlich sind auch auf ihren Reisen nach Paris, London und New York die bekanntesten Gourmettempel festes Programm. Ich staune ja, wo die junge Generation das Geld für diese Vergnügen hernimmt. Mir persönlich ist es meistens zu schade, mein schwer verdientes Erspartes sozusagen "Aufzuessen". Aber bekanntlich ist ja alles eine Frage der Prioritäten. Ausserdem hat diese junge Generation mehr als wir erfahren, wie endlich das Leben ist und sie ahnen, dass man mit dem Ersparten im Grab auch nicht mehr viel unternehmen kann.

Nun ist Sivan im Militärdienst, zum zweiten Mal in Reserve seit dem 7. Oktober. Doch ihr hungriges Instagram-Publikum muss gefüttert werden. Also präsentiert Sivan in ihren Instagram-Storys einfach weiter Essbares – nur zeigen die Fotos und Videoclips nun, aus dem kulinarischen Angebot der IDF, die eher erbärmlichen Varianten der Kochkunst. Auf Bilder von trockenen Hühnerkeulen und zu Brei verkochten Beilagen folgen verschrumpelte Äpfel und Gurken. Ab und zu beisst Sivan genüsslich in von Fett triefende Toasts, die sich die hungrigen Soldaten in Imbisskiosks von ihrem eigenen Geld kaufen, weil das Angebot in den Kantinen nicht geniessbar ist. Die Clips aus den Armeebasen und -Küchen werden von Sivans lustigen Kommentaren und Verbesserungsvorschlägen untermalt. Meistens gibt sie noch locker-flockig eine Bewertung von 1 bis 10 ab, wobei diese in den wenigsten Fällen eine 4 übersteigt. Nur nicht den Humor verlieren, ist die Devise.



Freitag, 25. Oktober 2024

Überall und dazwischen

Die wiederholten Luftschutzalarme haben mich nun wirklich schon überall überrascht:
  • beim Autofahren,
  • in einem Einkaufszentrum,
  • im Büro,
  • während einer geschäftlichen online-Besprechung (Sirenengeheul – alle israelischen Teilnehmer verschwinden in Sekundenschnelle vom Bildschirm, die amerikanischen Mitarbeiter bleiben verdutzt zurück),
  • natürlich in verschiedensten Situationen zu Hause,
  • an einem Dienstagmorgen im Training, wo der Alarm nach fünfzehn Minuten schweisstreibendem Konditionstraining fast schon ein willkommener Unterbruch war.
Unsere Situation ist aber nicht annähernd so schlimm wie im Norden Israels, wo seit einem Jahr Dauerbeschuss aus dem Libanon herrscht. Lest darüber bitte diesen Artikel.


Zwischen den Alarmen:
  • feiern wir das Laubhüttenfest,
  • brechen wir ob der Meldung über Shirel Golans Selbstmord an ihrem 22. Geburtstag kurz zusammen (Shirel, eine Nova-Überlebende aus einem Nachbardorf, war eine Jahrgängerin und Bekannte aus der Oberstufe von Lianne),
  • probieren wir Brautkleider an (für die näher rückende Hochzeit),
  • schalten wir das Radio aus und malen Mandalas,
  • erreichen uns auch ohne Radio täglich entsetzliche Nachrichten,
  • trinken wir einen Apéro am Dizengoffplatz in Tel-Aviv (aus Angst vor Terrorattentaten setzen wir uns in den hinteren Teil des Restaurants), 
  • freuen wir uns über den Tod von Yahya Sinwar,
  • stellen wir bei einem Morgenlauf fest, dass es endgültig Herbst geworden ist und dass die Felder mit frischen Erdbeersetzlingen bepflanzt worden sind,
  • halten wir einen Samstag lang den Atem an aufgrund eines sich wie ein Steppenfeuer ausbreitenden Gerüchts, dass die entführten, seit 386 Tagen in Geiselhaft gequälten Späherinnen freigekommen sind ("Späherinnen" bezieht sich auf die fünf jungen Soldatinnen, die von der Nahal-Oz Basis verschleppt worden sind),
  • sind wir mindestens einen Sonntag lang am Boden zerstört, weil das Gerücht in tausend Teile zerbricht,
  • freuen wir uns auf die bevorstehende Geburt von Zwillingen in der Familie,
  • verbleiben wir in angespannter Erwartung, dass einige Menschen in Gaza, die vielleicht auch Frieden wollen und froh sind über den Tod des "Schlächters von Chan Yunis" auf die Strassen gehen, weisse Fahnen schwenken und die Geiseln freigeben,
  • beobachten wir die Mandarinen, die am Baum vor dem Stubenfenster reifen.
Zwischen den Alarmen – rappeln wir uns immer wieder auf.





Was mir ein bisschen Kraft gibt, ist die vage und – wer weiss – vielleicht völlig utopische Hoffnung, dass dieser Krieg eine Chance für eine Neuordnung im Nahen Osten sein könnte. Eine Chance für einen friedlichen Nahen Osten, in dem die guten über die bösen Kräfte gesiegt haben. Ein naher Osten, in welchem zerstörerische Ideologien vernichtet und lebensbejahender Überzeugung gewichen sind. 
Es ist schwer, diese Hoffnung aufrechtzuerhalten, denn ein Blick in die ausser-israelischen Medien ergibt, dass Israel zu 99 Prozent alles falsch macht und der israelische Staat der Hauptschuldige an einem möglichen dritten Weltkrieg ist. Doch vielleicht, wenn sich die Israelis nicht beirren lassen und einige internationale Mächte mitziehen, könnte kreative Strategie, in Kombination mit ein bisschen Glück, 

oder vielleicht einem Wunder, 

in zehn, zwanzig oder mehr Jahren zur Entstehung eines neuen Nahen Ostens führen. 
Ich muss an diesem Hoffnungsschimmer festhalten, denn sonst ist unser Dasein, vor allem das der jungen Generation, das meiner Kinder, unerträglich schmerzhaft und deprimierend.



Montag, 21. Oktober 2024

Erste Hilfe

Wenn sie, liebe Leserin oder lieber Leser, bei mir zu Hause zu ersticken drohen, vom oberen in den unteren Stock stürzen, sich eine Hand abhacken, einen anaphylaktischen Schock oder einen Herzinfarkt erleiden, stehen die Chancen gut, zu überleben und umgehend vor Ort medizinisch richtig behandelt zu werden. Es gibt nämlich dreieinhalb gut ausgebildete Notfallsanitäter in meiner Familie.

Eyal absolvierte seinen vierjährigen Militärdienst vor vierzig Jahren als Ausbilder von Sanitätern. Nach dem Dienst leistete er viele Jahre Freiwilligenarbeit beim Magen David Adom (MDA, die israelische Organisation für medizinische Notfälle) und festigte so seine Erfahrung. Nicht immer waren diese Einsätze sehr dramatisch, ich kann mich jedoch noch gut erinnern, wie er einmal sehr aufgewühlt erzählte, sein Rettungsteam hätte ein Kleinkind vor dem Erstickungstod retten können.

Lianne ist das einzige unserer Kinder, welches die Familientradition, als Sanitäter/in in der IDF zu dienen, nicht weiterführen konnte. Obwohl sie schon vor dem Militärdienst einen Nothelferkurs für Jugendliche abgeschlossen hatte und auch schon etwas Freiwilligenarbeit als Nothelferin leistete, gab es zur Zeit ihrer Ausmusterung in der Armee einen wahren Ansturm auf die Rolle der Sanitäter. Daran war unter anderem die israelische Fernsehserie "Tagad" Schuld, welche in drei Staffeln die Handlungen der Militär-Notfallmediziner idealisierte und sehr populär machte. Lianne wurde also nicht Sanitäterin, wie sie es sich aus tiefster Seele gewünscht hätte, sondern, zu ihrer bodenlosen Enttäuschung, Späherin in der Marine. Eine Aufgabe, die, wie sie fand, weder ihren Fähigkeiten noch ihrem Charakter entsprach. Aber das Militär ist kein Wunschkonzert (ausser man hat sehr gute Beziehungen) und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Im zweiten Jahr ihres Dienstes versuchte sie, einer anderen Aufgabe zugeteilt zu werden, doch in diesem schwerfälligen System irgendetwas voranzutreiben, ist mühsam und dornenreich und oft gar unmöglich. Sie brachte ihre zwei Jahre zu Ende, jedoch mit einem sehr bitteren Nachgeschmack.

Itay diente drei Jahre als Soldat in einer Kampfeinheit, in welcher er nach entsprechender Ausbildung die Funktion des Sanitäters übernahm. Auch Itay verrichtete nach der Militärpflicht Freiwilligendienst im MDA. Die Einsätze waren vor allem Spitaltransporte auf Abruf und erste Hilfe für Drogensüchtige, Obdachlose oder andere soziale Randfiguren. Von diesen Einsätzen berichtete er oft Schockierendes. 
In aktivem Krieg kam Itay nur knapp eine Woche zum Einsatz, bevor er freigestellt wurde. Einer seiner spektakulärsten Notfalleinsätze, in zivilem Rahmen, war die nächtliche Rettung eines jungen Betrunkenen aus dem See in Zürich.

Sivan, unsere Älteste, diente, wie ihr Vater, als Ausbilderin von Sanitätern. Dieser Job ist hoch spannend, herausfordernd und belohnend. Die Ausbilder erlangen in intensiven Kursen fast ein Jahr lang fundiertes Wissen. Sie müssen fähig sein, grössere Gruppen von Auszubildenden zu leiten. Dabei sind diese Auszubildenden nicht etwa eingeschüchterte Erstklässler, sondern oft ziemlich freche junge Kampfsoldaten, die die Grenzen ausloten und sich nicht so leicht etwas sagen lassen. Man muss als Ausbilderin durchsetzungsfähig sein, die Gruppe begeistern können, über Talent in Gruppendynamik verfügen und natürlich die Thematik beherrschen. Sivan blühte in dieser Aufgabe vollkommen auf. Sie hatte eine fantastische Zeit, kam oft an ihre Grenzen, fühlte aber eine grosse persönliche Genugtuung. Etwa 70 Soldaten und Soldatinnen sind von ihr während ihrem Pflichtdienst insgesamt zu Sanitätern ausgebildet worden und alle bewundern sie bis heute.

Sivan beherrscht die Notfallmedizin – in der Theorie – vorwärts und rückwärts. Im wirklichen Leben wurde ihr Wissen aber nur für einige Bagatellfälle in Anspruch genommen. Die Ausbildung in der IDF ist jedoch in höchstem Masse praxisbezogen. Ich habe die Ausbildungsräume, in welchen die Lärmkulisse, Lichtverhältnisse und sogar der Geruch der möglichen Szenarien simuliert werden, besuchen dürfen und war überwältigt, wie viel Aufwand in realitätsbezogene Ausbildung gesteckt wird. So kann man sich darauf verlassen, dass die Sanitäter auch in wirklichen Horrorsituationen nicht die Nerven verlieren.


Sivan (links, mit Schirmmütze) bei einer Übung

Im Oktober 2023 explodierte aufgrund einer Munitionsfehlfunktion auf einem Boot der Marine an der Grenze zum Libanon eine Granate in den Händen der Kampfsoldatin Kamay und Itays Freund Alon. Die erst neunzehnjährige Soldatin wurde getötet, Alon lebensgefährlich und weitere sieben Soldaten leicht verletzt. Der anwesende, knapp zwanzigjährige Sanitäter, der seinen Kurs erst vor Kurzem abgeschlossen hatte, reagierte hervorragend. In diesem völligen Chaos behielt er die Übersicht und erkannte, wer am dringendsten behandelt werden musste. Er unternahm lebensnotwendige medizinische Versorgungen, legte Alon an den vier schwerst verletzten Extremitäten in kürzester Zeit Stauschläuche an und rettete ihn so vor dem sicheren Verbluten. Alon und sein Lebensretter haben heute eine besondere und sehr enge Beziehung.

Sivan wurde nach der grossen Mobilmachung, die dem 7. Oktober-Massaker folgte, eingezogen. Sie diente vier Monate in Reserve, um die Ausbildung der aufgebotenen Reservesanitäter auf Vordermann zu bringen. Unter anderem bildet sie im Rahmen ihrer Aufgabe auch Ärzte aus, die natürlich medizinisches Wissen mitbringen, nicht aber unbedingt in Notfallmedizin bewandert sind.

Ja, ich bin stolz auf meine Familienmitglieder und ihre herausragenden Leistungen, gerade auf diesem Gebiet der Sorge und Hilfe für Mitmenschen. Und ich finde, sie dürfen stolz auf ihre Errungenschaften sein.

Noch wünschenswerter wäre es, wenn sie diese Leistungen nicht bewaffnet und im Rahmen einer Armee vollbringen müssten, sondern friedlich in verschiedenen zivilen Rahmen das Beste aus sich herausholen könnten. Leider lassen das aber die nicht abbrechenden kriegerischen Bedrohungen durch die vielen Feinde Israels nicht zu.

Und so hat Sivan auch schon ihren nächsten Notabruf-Einsatzbefehl erhalten. Kommende Woche geht es ab in den Norden.



Donnerstag, 10. Oktober 2024

Noch lange nicht vorbei

Bis vor etwas mehr als einer Woche hatte ich den Eindruck, mich vom Schock des 7. Oktober-Massakers und der neuen Situation, die das Massaker mit sich gebracht hat, ein wenig erholt zu haben. Ein leises Gefühl, dass ich das Trauma verarbeiten könnte und dass irgendwann doch alles wieder gut wird, schlich sich ein. Ich öffnete diesem Gefühl alle Tore und rollte ihm den roten Teppich aus.

Doch jetzt bricht alles wieder auf.

Alon kommt am Tag vor Itays Abreise zu Besuch. Seine Freunde tragen ihn im Rollstuhl über die nicht rollstuhltaugliche Stufe am Eingang. Er lässt es sich nicht nehmen, sich auf sein eines Bein zu erheben, um uns zu begrüssen. Am Dienstag schaue ich mir die Reportage über ihn (und andere Schwerverletzte) auf Kanal 12 im israelischen Fernsehen an. Alon ist ein bewundernswerter Mensch. Er legt mehr Initiative an den Tag als viele von uns, die noch über alle Extremitäten verfügen. Er ist ein begabter Schauspieler, charismatisch, lustig und intelligent. In der Reportage ist auch Itay zu sehen und ich erkenne Aufnahmen aus ihren gemeinsamen Reisen. Die Konfrontation ist schwer und lässt mich zutiefst verwirrt zurück.

Zum ersten Mal vernehme ich die Geschichte von Roee, einem Bekannten von Sivan aus unserem Nachbardorf. Roee, seine Partnerin und eine beste Freundin suchten am 7. Oktober Schutz vor dem Kugelhagel unter zwei Autos. Seine Partnerin Agam und Hili, die Freundin, wurden neben ihm liegend erschossen, Roee überlebte mit mehreren Schusswunden und verharrte lange Stunden neben den zwei Ermordeten. Roees Mutter konnte die Situation nicht bewältigen, sie beging zwei Wochen nach seiner Rückkehr Selbstmord.
Sivan hat noch einen weiteren Bekannten und ehemaligen Klassenkameraden mit dem Namen Roee. Dieser ist am 19. November in Gaza gefallen.

Mein Arbeitgeber organisiert einen Vortrag von Meirav Tal, der 54-Jährigen, die aus dem Kibbutz Nir Oz nach Gaza verschleppt und Ende November freigelassen wurde. In der Geiselhaft wurde sie weder geschlagen noch sexuell misshandelt, doch nach ihren Berichten verstehe ich, dass jede einzelne Sekunde in dieser Hölle jenseits der Schmerzgrenze gewesen sein musste. Ihre Aussagen sind erschütternd.

Zum Gedenken an das Massaker sind die Medien voll von weiteren unerträglichen Berichten von Überlebenden und ehemaligen Geiseln. Darunter auch viele Kinder. Ich höre mir einige an und kann die Ausmasse der Gräueltaten einfach nicht fassen.

Bei Markus Lanz' Sendung vom 8. Oktober auf ZDF verfolge ich den Bericht des sehr aufgewühlten Alon Gat, der ganz offensichtlich schon ein Jahr lang Furchtbares durchmacht.

Immer wieder sprechen wir über Nitzan und dass ausgerechnet sie, die immer sehr ängstlich war, ihre letzten Stunden in panischer Angst verbringen musste.

Ich finde Lianne fast psychotisch lachend am Handy, wo sie sich alte Tiktok-Filmchen mit ihrer Freundin Shir ansieht. Lianne macht mir Angst. "Sie lebt nicht mehr", lacht Lianne, als wäre sie nicht bei Sinnen.

Ich weiss nicht – ist jemand von uns überhaupt bei Sinnen?

Es gibt jetzt Tausende solcher Schicksale in Israel. Und täglich, wirklich täglich, hören wir von neuen Ermordeten, von Attentaten in Tel-Aviv, Beersheva, Hadera, von Ermordeten durch Raketeneinschläge, und täglich von gefallenen Soldaten.




Dienstag, 8. Oktober 2024

Tage im Oktober

Meine Gefühle fahren Achterbahn. Die iranische Attacke, das Neujahrsfest, meine Geburtstagsfeier mit den Kindern in einem verwöhnenden Hotel, nur wenige Stunden danach Itays Flug in die Schweiz (ohne Rückflug), Krieg an allen Fronten, der Jahrestag des 7. Oktober-Massakers, unser 30. Hochzeitstag. Es ist alles ein bisschen viel.

Es sind schwere Tage um den 7. Oktober. Man konnte die Agonie des israelischen Volkes förmlich im ganzen Land spüren. Gedenkfeiern wurden abgehalten, auf den Friedhöfen, auf öffentlichen Plätzen, in Privathäusern. Die Medien sind übervoll mit unfassbaren Berichten. Mein Herz ist unendlich schwer. Ich gedenke der Opfer privat und im Stillen, wie ich es eigentlich seit dem 7. Oktober rund um die Uhr tue, doch heute etwas bewusster. Ich nutze dabei das Privileg der nicht ganz direkt Betroffenen und versuche, nicht allzu tief in das Elend einzutauchen.

Weiterhin werden von mehreren Fronten Raketen auf uns abgefeuert. Am Montag schlagen tagsüber Raketen im Gebiet Haifa und eine im Zentrum ein. An verschiedenen öffentlichen Gedenkfeiern müssen die Anwesenden vor den Raketenangriffen Schutz suchen.

Das alles sind keine idealen Bedingungen, um einen 30. Hochzeitstag zu feiern, was ja aber auch nicht weiter schlimm ist. Auch diesen Anlass feiere ich in Gedanken - wie ich es eigentlich seit dreissig Jahren tue, nur heute etwas bewusster.

Zu allem Übel deutet sich in unserem Vorgarten ein Rohrbruch ab. Mehrere schwitzende Männer brechen schon seit zwei Tagen mit Presslufthämmern die Bodenplatten auf und buddeln den Vorgarten und den Parkplatz um. Gestern bis spät in den Abend. Auch dies sind nicht gerade ideale Rahmenbedingungen für eine romantische Feier.

Am Abend des Jahrestages sehe ich mir doch noch die Sendung "Hamas-Angriff aufs Festival" auf ARTE an. Ich kann es einfach nicht lassen, mich in den westlichen Medien umzusehen, auch wenn ich dabei immer wieder schallende Ohrfeigen und Schläge in die Magengrube einstecke. Die Sendung ist realitätsbezogen, zeigt aber nur einen verschwindend kleinen Teil der ganzen Katastrophe auf. Immerhin, eine halbe Stunde ohne "aber, die Israelis haben doch auch...", wenigstens an diesem Tag, das ist schon viel, vor allem auf ARTE.
Ich selbst kenne diese Berichte aus erster Hand, von Freunden meiner Kinder, Bekannten und Verwandten.
Ich wünsche mir, dass Menschen in meinem Herkunftsland sich wenigstens eine halbe Stunde Zeit nehmen, sich so etwas anzusehen. Ich wünsche mir, dass Menschen Partei ergreifen und nicht schweigen. Schweigen ist keine Option. Schweigen ist Mittäterschaft. 

Kibbutz Netiv Ha'asara, der 7. Oktober 2023. Ein Hamas-Terrorist in der Stube der Familie Ta'asse. Der bestialischen Kreatur gegenüber sitzen die 8- und 12-jährigen Geschwister Shay und Koren, verletzt und panisch, nachdem der Terrorist ihren Vater vor ihren Augen ermordet hat. Das Scheusal öffnet kaltblütig den Kühlschrank und erlabt sich an einer Flasche Cola, bevor es seinen Mordzug weiterführt.
Meine Finger zittern, es fällt mir schwer, das Bild hier hineinzustellen.



Um 18:45 zurrt die HeimfrontApp auf dem Handy: Alarm in Tel-Aviv. Schon wieder müssen Sivan und Zehntausende in Israels Zentrum in die Schutzräume rennen. In Israels Norden ist das leider seit Monaten bitterer Alltag. Am späteren Montagabend wiederholt sich das Szenario in Tel-Aviv.

Kurz nach 23 Uhr durchschneidet Sirenengeheul aus unseren Nachbardörfern auch bei uns die Nacht. Zum feierlichen Abschluss des Tages erschüttern mehrere starke Knalle und dröhnendes Krachen die Region.

Ich warte noch einige Minuten, um mich zu versichern, dass die Sirenen nicht auch bei uns losgehen, dann gehe ich schlafen.

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Zum Jahrestag des 7. Oktobers veröffentlicht die IDF die Anzahl der Raketenabschüsse auf Israel im vergangenen Jahr.
Es sind:

13,200 aus dem Gazastreifen
12,400 aus dem Libanon
400 aus dem Iran
180 aus dem Jemen
60 aus Syrien



Montag, 7. Oktober 2024

Eine Liebesgeschichte

Mein Herz ist schwer. 
Ein schwerer Tag. 
Ein schweres Jahr.  
Der 7. Oktober. 
Was schreibt man an diesem Tag, seit am 7. Oktober 2023 eine neue Shoah für Israel und für das jüdische Volk losgebrochen ist?
Seit dem 7. Oktober 2023 haben all meine Blogbeiträge das Massaker, die Folgen, das Trauma, unseren Alltag im Krieg und die Alternativlosigkeit der Situation zum Thema. Und schon morgen, am 8. Oktober, wird es auf meinem Blog wohl oder übel in diesem Sinne weitergehen. Denn nichts anderes beschäftigt mich so sehr wie dieser Krieg und das Leid aller Betroffenen, zu denen auch ich und meine Familie gehören.

Doch heute, ausgerechnet am Jahrestag des 7. Oktobers, einem Datum, das eine Zäsur in unserem Leben, ja in der Weltgeschichte bedeutet, veröffentliche ich hier eine Liebesgeschichte, die nichts mit "dem" 7. Oktober zu tun hat. Es ist eine Geschichte, die aus einem Groschenroman oder einer Seifenoper stammen könnte. Ob sie frei erfunden oder wahr ist, sei dahingestellt.

Die Geschichte beginnt im Januar 1985, in einem warmen exotischen Land am Mittelmeer. Eine junge Frau, nennen wir sie Sandy, geniesst das angenehme Klima fern ihrer Heimat und gönnt sich vor der Qual der Wahl einer weiteren Ausbildung eine Auszeit. Sandy sehnt sich nach den anstrengenden Jahren im Gymnasium im grauen und kalten Europa vor allem nach Sonne, Sorglosigkeit, Lebensfreude und exotischen Kulturen. Die Wintermonate in diesem heissen Land entsprechen genau ihren Erwartungen. Die Menschen sind fröhlich, lustig und interessant, die Religionen und Kulturen vielfältig gemischt, das Wetter ist fantastisch und auch im Januar perfekt zum Reisen, Baden und Sonne geniessen.

An einem lauschigen Abend kommt Sandy in der Fussgängerzone der Touristenstadt ein hübscher junger Mann mit dunklen Augen entgegen, nennen wir ihn Danny. 
Manchmal kreuzen sich die Wege von zwei Menschen rein zufällig und bleiben dann von diesem Moment an verbunden. 
Als sich die Beiden in die Augen sehen, fühlen sie sofort, dass eine kosmische Verbindung besteht. Danny ist ebenfalls zwanzigjährig, zurzeit Soldat und an diesem Wochenende auf Urlaub. 
Den Ablauf ihrer ersten Begegnung mögen sich die Leser selbst erdenken. Zweifellos müssen besondere Kräfte am Walten gewesen sein, denn die Beiden finden in der Menge zusammen, obwohl Sandy in männlicher Begleitung unterwegs ist.
Sandy und Danny ziehen sich vom ersten Augenblick an wie Magnete und sie verbringen zwei magische Tage miteinander. Doch schon bald ruft die Pflicht, Dannys Urlaub von der Armee ist zu Ende. Danach ist vorerst Funkstille. In einem Zeitalter vor Handys und WhatsApp hören die Beiden einige Monate lang nichts voneinander. Sandy hat keinen festen Wohnsitz und Danny übernachtet bestenfalls in olivgrünen Zelten. 
Am Tag ihres Abflugs, einige Monate nach den gemeinsam verbrachten Tagen, wartet Danny zu Sandys grosser Überraschung in staubiger Militäruniform am Flughafen auf sie. Sie hat Danny wohl damals das Datum ihres Fluges bekanntgegeben, obwohl sie sich jetzt gar nicht mehr daran erinnert. Doch Danny hat das Datum nicht vergessen und er erhascht einige Stunden Urlaub, indem er seinen Kommandanten bestürmt und überzeugt, dass dieses Treffen schicksalsträchtig für seine Zukunft sei. Die Reise zum Flughafen mit dem Bus ist lang und unbequem. All das nimmt Danny in Kauf, um sich von Sandy zu verabschieden und sie zu beschwören, unbedingt bald wiederzukommen.

Es vergehen vier lange Jahre, bis Sandy und Danny endlich länger zusammen sein können. Unzählige dicht beschriebene Luftpostbriefe finden in dieser Zeit ihren Weg über das Mittelmeer. Wenn es die kurzen Urlaube und die knappen Finanzen der jungen Leute erlauben, reist Sandy für einige Tage in das exotische Land, zu Danny. Von diesen Reisen beiben Sandy später vor allem die durchgeweinten Retourflüge in Erinnerung. Danny schliesst die Offiziersausbildung ab und dient ein weiteres Jahr in Reserve. Als Sanitäter verdient er sich an den Wochenenden im Rettungsdienst an den Badestränden oder als Begleiter von Reisegruppen und Pfadfinderlagern einen kleinen Lohn. Von diesem Ersparten reist er am ersten Tag nach Abschluss seines Militärdienstes zu Sandy. Doch er bleibt nur einige Tage, dann bricht er auf eine längere Reise auf: Er trampt in 18 Monaten ostwärts einmal um die Erdkugel. Sandy hat weder Verständnis noch Erspartes für ein solches Unterfangen, also verabschieden sich die Beiden ein weiteres Mal, schreiben weiter fleissig Briefe und führen Ferngespräche zu nachtschlafenden Stunden. Die Post von Danny trägt nun Briefmarken aus exotischen Ländern wie Nepal, Vietnam, Korea, Japan, Thailand, Hawaii und vielen mehr. Einem der Briefe liegt ein Foto von einem Stein auf dem Thorong La Pass im Himalaya-Gebirge bei (auf 5,400 Meter Höhe). Der Stein ist von Dannys Handschuhen umrahmt und trägt, mit Kreide gekritzelt, Sandys Namen.

Nach eineinhalb Jahren erschöpft sich Dannys Reiselust und er kehrt in seine Heimat zurück. Sandy wirft die ohne besondere Überzeugung begonnene Ausbildung über den Haufen und reist ein weiteres Mal in das exotische Land, dieses Mal mit einem etwas grösseren Koffer, doch ohne genauere Pläne.

Das Leben in dem Land am Mittelmeer mit den lebensfrohen Menschen gefällt ihr, obwohl vieles auch seltsam und ungewöhnlich ist. Warum sollte sie bei Dannys Eltern nach dem Essen keinen Milchkaffee trinken? Warum scheinen die Menschen immer aufgeregt zu schreien, wenn sie sich doch einfach nur unterhalten? Warum tragen sie Wintermäntel, sobald ein paar vereinzelte graue Wölkchen am Himmel erscheinen? Warum wünschen sie sich mitten im Herbst ein gutes neues Jahr?

Sandy und Danny mieten gemeinsam eine Wohnung und können mit ihrer Liebe die meisten Probleme überbrücken. Ein eventuelles Leben in Europa wird oft diskutiert, doch es bleibt nur ein Fantasiegebilde, das mit den Jahren immer mehr in die Ferne rückt. Sandy büffelt die fremde Sprache mit den seltsamen Schriftzeichen. Zusammen meistern Sandy und Danny auch verschiedene Kurse und Prüfungen, nach deren Abschluss Sandy zu seinem Glauben konvertiert. Fast ein Jahrzehnt nach ihrem ersten Treffen heiraten sie. Zum Hochzeitsfest reist eine ansehnliche, fröhliche und neugierige Delegation von Gästen aus Europa an, die die traditionellen Zeremonien weder kulturell noch sprachlich versteht, deswegen aber nicht minder Spass an dem Anlass hat.

Es gibt viele Probleme zu meistern. Drei Kinder, Krankheiten, Kriege, Sehnsucht nach der Familie in der fernen Heimat, kulturelle Differenzen. Es ist nicht immer einfach und beide gehen viele Kompromisse ein. Doch wenn sie sich streiten, denken sie an den magischen Moment ihres ersten Treffens. So leben sie trotz aller Schwierigkeiten viele Jahre zusammen.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben Sandy und Danny noch heute. 
Und feiern gerade am heutigen Tag, dem 7. Oktober 2024, ihren 30. Hochzeitstag.


In Amsterdam, in einem anderen Zeitalter



Mittwoch, 2. Oktober 2024

Grossangriff aus dem Iran

Wie erleben wir den Raketengriff mit fast 200 ballistischen Raketen aus dem Iran? Wie sehr viele Israelis bin auch ich an diesem Dienstagabend vor dem Neujahrsfest ausser Haus, um letzte Besorgungen zu erledigen. Ich hatte den ganzen Tag kein gutes Gefühl, irgendetwas braute sich zusammen. Das Gefühl wird nicht besser, als gegen Mittag eine Rakete aus dem Libanon etwa 20 Kilometer von mir im östlichen Scharongebiet in eine Autostrasse einschlägt und am späteren Nachmittag eine weitere Rakete wohl knappe zehn Kilometer von unserem Büro im Meer landet. Die zweite Rakete nehme ich mit einem sehr lauten Schlag und starken Detonationswellen wahr. 

Gegen Ende des Arbeitstages werden Meldungen über einen bevorstehenden Angriff aus dem Iran laut, die meisten Mitarbeiter verlassen eilig die Büros. Ich bleibe noch etwas, denn ich muss Lianne bald vom Bahnhof abholen. Danach geht es zu einem Arztbesuch. Während wir beim Arzt warten, bis wir an der Reihe sind, treffen Meldungen über ein schreckliches Terrorattentat in Tel Aviv ein. Zwei Palästinenser aus der Terrorhochburg Hebron erschießen mit einem Maschinengewehr kaltblütig sechs Passanten und verletzen mehrere, vier davon lebensbedrohend.

All dieser katastrophalen Meldungen zum Trotz möchte ich doch noch das in unmittelbarer Nähe der Arztpraxis liegende kleine Einkaufszentrum aufsuchen, um ein Geschenk für unsere Gastgeber des Neujahrsfestessens zu kaufen. Wenige Hundert Meter bevor wir das Einkaufszentrum erreichen, gehen die Luftschutzalarme los. Zuerst schrecken uns mehrere Meldungen im Autoradio auf, dann folgt das Zurren der Handys, schließlich die markdurchdringenden Sirenen vor Ort. Schnell wird klar, dass sich das ganze Land, vom Norden bis zum Süden, unter Attacke befindet. Aufgeregte Passanten rennen, um sich in Schutz zu bringen. Ich fahre noch schnell auf den Parkplatz, lasse das Auto stehen, dann eilen auch Lianne und ich, zusammen mit Dutzenden weiteren Menschen, zum nächsten Schutzraum. Der kleine Raum ist schon völlig überfüllt, doch wir drängen uns hinein. Draußen schrillen die Sirenen wieder und wieder und starke Detonationen lassen die Wände erzittern. Einige Menschen, die den Schutzraum ungeduldig zu früh verlassen, kommen schockiert umgehend wieder zurück. Es wird heiß und stickig in dem kleinen Raum. Eine Frau wurde wohl beim Friseurbesuch unterbrochen, sie hat Haarfarbe und ein Frottiertuch auf dem Kopf. Ein asiatisch aussehender Mann und sein Sohn sehen besonders hilflos aus. Wir erklären ihnen auf Englisch, was los ist, obwohl wir es ja selbst nicht wissen. Einige Kinder weinen. Eine Mutter weint, weil ihre Kinder alleine zu Hause sind.

Wie vorgeschrieben, bleiben wir mindestens zehn Minuten in dem Schutzraum, aber jedes Mal, wenn wir ihn verlassen wollen, ertönen erneut Alarme und der Zehn-Minuten Countdown beginnt von neuem. Als es etwas länger ruhig wird, wagen wir uns wieder ins Freie. Ich habe kein gutes Gefühl und wäre gerne noch länger geblieben, doch Lianne muss dringend auf die Toilette. Wir laufen zum Auto und beschließen, so schnell wie möglich nach Hause zu fahren. Doch kaum sind wir unterwegs, ertönen die Sirenen erneut. Es ist unklar, ob sie aus dem Radio, dem Handy oder vor Ort lärmen, im ganzen Land und auf allen Kanälen schrillen Alarme, es ist ein markdurchdringendes Orchester. Der Himmel wird von unzähligen Objekten und Detonationen hell erleuchtet. Die Raketen scheinen nah, die meisten werden verfolgt von den rotierenden Geschossen der Abwehrsysteme. Menschen kauern unterwegs an Hausmauern. 

Nach kurzer Fahrt wird uns klar, dass Autofahren in dieser Situation keine Option ist. Nach der nächsten Kurve halten wir wieder an und laufen unter eines der Gebäude, wo wir zusammen mit anderen Menschen fragwürdigen Schutz suchen.

In dieser ganzen Zeit haben wir keinen Kontakt mit den Familienangehörigen, alle Verbindungen sind abgebrochen. Als es wieder einige Minuten lang ruhig ist, unternehmen wir einen weiteren Versuch, nach Hause zu fahren. Das Autofahren ist nach wie vor gefährlich, alle fahren viel zu schnell und wild durcheinander. Autos stehen unerwarteterweise am Straßenrand, wo sie von ihren schutzsuchenden Fahrern verlassen worden sind. Als wir zwanzig Minuten später endlich zu Hause eintreffen, bin ich so erleichtert wie schon lange nicht mehr.

Irgendwann kommt das Netz zurück, mehrere Dutzend WhatsApp Nachrichten treffen auf einmal ein.

Eyal ist an eine Hochzeit gefahren, die Alarme haben ihn kurz vor Ashdod erreicht. Die Hochzeit sucht er trotzdem noch auf. Doch anstelle der Hunderten erwarteten Gäste treffen nur etwa 30 Hartgesottene ein.

Auch Sivan, unsere Tochter in Tel Aviv, war an eine Hochzeit eingeladen. Sie brezelt sich zu Hause aufwändig auf, stylt die Haare, zieht ein schönes Kleid an und schminkt sich. Perfekt aussehend bricht sie auf, gelangt aber nur bis ans Ende der Straße, als die Luftschutzsirenen sie zwingen, den öffentlichen Schutzraum aufzusuchen und dort den Abend zu verbringen. Nur einen Katzensprung von ihrer Wohnung entfernt, aber immerhin in glamourösem Look. Dass die Hochzeit ihrer Freundin, die natürlich schon im weißen Kleid in der Festhalle auf die Gäste wartete, ins Wasser fällt, oder besser gesagt, in Feuer und Flammen aufgeht, betrübt Sivan zutiefst.

Itay sucht während dem Grossangriff in Tel-Aviv mit Bekannten Schutz unter verschiedenen Gebäuden und auf der Strasse, denn in dem alten Mehrfamilienhaus, in welchem seine Wohnung liegt, gibt es keinen Schutzraum.

Meine 84-jährige Schwiegermutter verbringt den Abend mit den Nachbarn im gemeinsamen Schutzraum ihres Mehrfamilienhauses, für welchen sie sechs Stöcke hinuntersteigen muss.

Die Alarmmeldungen über Israel



Der weitere Abend verläuft für uns ruhig, abgesehen vom Lärm der israelischen Luftwaffe, die immer wieder über uns hinwegsaust. Das iranische Regime hat fast 200 Raketen innerhalb einer kurzen Zeitspanne auf dichtbevölkerte zivile Ziele in ganz Israel abgefeuert. Dass es nicht Hunderte oder gar Tausende Tote und Verletzte gibt, sondern dass wir alle schlussendlich mehr oder weniger heil in unseren Betten liegen, scheint an ein Wunder zu grenzen. Doch tatsächlich ist das den israelischen Technologien, der Luftabwehr und den Abwehrschirmen verschiedener Sorte zuzuschreiben, unter anderem dem Abwehrsystem "Iron Dome", einer lebensrettenden Einrichtung, in welche enormer Aufwand und Unmengen von Geldern investiert werden und die zu den fortschrittlichsten der Welt gehört.


Heute Abend und in den kommenden zwei Tagen feiern wir das neue jüdische Jahr 5785. Ich wünsche dem jüdischen Volk weitere prosperierende 5785 Jahre hoch zehn, doch vorerst wünsche ich uns allen ein paar Tage Ruhe.


Mittwoch, 25. September 2024

Alarm im Scharongebiet

Aussicht vom lieblichen Baselland


Schlussendlich hatte ich doch noch einen Flug in die Schweiz ergattert. Doch mit dem Dilemma, ob wir in Israel bleiben oder flüchten sollten, habe ich bis auf Weiteres abgeschlossen. An die vielen verschiedenen emotionalen Phasen, die ich seit dem 7. Oktober durchgehe, reiht sich in letzter Zeit, ausgerechnet jetzt, unerklärliche Gelassenheit. Ziel der Reise in die Schweiz war ein kurzer Besuch bei der Familie. Ich reiste alleine, mit einem fixen Retourdatum.

Bestimmt war auch das wunderbare Wetter daran schuld, dass mir dieses Mal die Schweiz noch perfekter als sonst erschien. Auf Schritt und Tritt – oder besser, Kilometer auf Kilometer, denn ich hatte ein Auto gemietet – staunte ich wie ein Wesen von einem anderen Stern, wie wunderbar geregelt, gemässigt und logisch einfach im Vergleich zu Israel in der Schweiz alles ist. Die Strassen sind in perfektem Zustand, der Verkehr rollt, die Richtungen sind klar beschildert, die Fahrer sind zuvorkommend oder mindestens gelassen. Auch der öffentliche Verkehr ist wie immer vortrefflich organisiert, das Tram fährt auf die Minute genau überall hin. In Basel gibt es weder kaputte Gehsteige noch Ratten. Das Personal in den Läden ist freundlich und hilfsbereit. Die Sonne brennt nicht schon frühmorgens erbarmungslos nieder. Der Regen bleibt nicht fünf Monate lang aus und prasselt dann wolkenbruchartig vom Himmel. Und vor allem hängen keine Bilder von Entführten an jeder Ecke, die jungen Menschen tragen keine Maschinengewehre oder Uniformen und die meisten haben noch alle Beine und Arme.

Eins passt einfach perfekt zum andern und ich komme aus dem Staunen kaum mehr heraus. Wie vernünftig und geordnet die Dinge sein können!
In Israel ist alles extrem, masslos, laut, kaputt, unausgeglichen, ja verrückt. Natürlich haben die israelische Unvollkommenheit und der alltägliche Wahnsinn im Vergleich zur schweizerischen Gemässigtheit auch ihren Reiz. Doch jetzt, wo der Topf der Tollheit am Überbrodeln ist, erscheinen die schweizerische Vernunft und Perfektion einfach nur frappant und verführerisch.

Obwohl sich die Lage in Israel zuspitzt, fliege ich aber doch am geplanten Tag zurück. Ich konnte am frühen Morgen ja auch noch nicht wissen, dass gerade an diesem Tag in Israel der Ausnahmezustand im ganzen Land ausgerufen wurde. Doch auch hätte ich es gewusst, war mir klar, wo mein Platz ist: bei meiner Familie in Israel.

Die Raketenangriffe aus dem Libanon hatten sich tatsächlich schon tief ins Zentrum ausgeweitet. Die Raketen reichten am Dienstag schon bis in die Umgebung Haifas und nach Nazareth, Afula and Yokne'am. Der Krieg konnte offensichtlich jeden Moment vollkommen ausarten. Rund um die Uhr, auch nachts, werfe ich immer wieder einen Blick auf das Smartphone, um über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden zu sein.

Und heute Morgen ist es dann auch bei uns so weit. Um 6 Uhr dreissig – ich bin schon angezogen und bereit, das Haus zu verlassen – erschüttern starke Detonationswellen unser Haus. Die Fenster und Wände rütteln und zittern. Sofort renne ich die Treppe hoch, um mich auch bei den noch schlafenden Familienmitgliedern zu vergewissern, dass ich nicht spinne. Bevor ich oben ankomme, zurrt das Handy, die Heimatfront-App zeigt Raketenalarm in Tel-Aviv an, wo Sivan und Itay leben. Dann, im Bruchteil einer Sekunde, geht auch bei uns der Alarm los, laut und markdurchdringend. Eyal und Lianne springen aus den Betten, wir stürmen in den Schutzraum und ziehen die Türe zu. Im Familienchat bestätigen die Kinder in Tel-Aviv, dass sie den Alarm gehört haben und sich in ihren Pyjamas im Treppenhaus befinden (in älteren Gebäuden gibt es keine Schutzräume). Solche Situationen sind nur noch mit Humor zu bewältigen, deshalb fragt Eyal den Sohn, der sich sonst wochenlang nicht meldet "Ach, bist du noch im Lande?". "Ja", antwortet dieser, und schiebt nach "ich kann es selbst nicht verstehen".

Nach einigen Minuten scheint die Gefahr gebannt zu sein und wir dürfen wieder hinaus – zurück zum Alltag. Der Nachbar dreht die Morgenrunde mit dem Hund, das Taxi holt den Nachbarsjungen ab, der in eine Sonderschule geht (er ist heute verständlicherweise etwas verspätet dran) und ich fahre zur Arbeit. Die Detonation, die ich gehört habe, ist dem Raketenabwehrsystem zuzuschreiben. Die aus dem Libanon abgefeuerte Rakete ist über dem Großraum Tel Aviv abgefangen worden, bevor sie grösseren Schaden anrichten konnte.

Die Heimfront-App heute Morgen: Alarm im Zentrum Israels


Mir ist aufgefallen, dass ein Grossteil der Schweizer mit den Schultern zuckt, wenn man den Nahostkrieg anspricht. Zu komplex, meinen sie damit, sie verstehen die Situation nicht. Vielleicht ist es ja sogar auch besser, nichts zu wissen, angesichts der breiten Desinformations- und Denunziationskampagne, die im Westen zum Standard geworden ist. Doch eigentlich ist der Nahostkrieg ganz einfach erklärt: die einen betreiben Terror, die anderen Terrorbekämpfung.



Sonntag, 8. September 2024

Ein ganz normales Wochenende




Sivan berichtet, dass sie nach langem Flug in New York angekommen ist, wo sie einige Tage Urlaub verbringen wird. Ihren hebräischen Namen in der Uber-App hat sie vorsorglich auf etwas Unverfänglicheres abgeändert. Dem Taxifahrer, der sie fragt, woher sie kommt, antwortet sie "aus Malta".

Eine Freundin, die Lianne abholt, erzählt, dass sie als Tagesmutter für einen kleinen Jungen arbeitet. Der Junge ist Vollwaise, die Eltern sind am 7. Oktober in Kfar Aza ermordet worden. Der Junge überlebte das Massaker 14 Stunden lang in einem Versteck. Jetzt lebt er bei einer Tante, zusammen mit anderen Überlebenden aus Kfar Aza, in einem der Kibbuzim in der Sharongegend. Nach unserem kurzen Gespräch fahren die Freundin und Lianne an ihrem freien Tag zum Brunch in ein Café.

Itay fragt uns beim Abendessen, ob wir wissen, dass man Schuhe nur in Paaren kaufen kann. In Anbetracht der vielen Amputierten in Israel, witzelt er, müsste man einzelne Schuhe kaufen können. Sein Freund Alon hat Glück, er kann die Schuhpaare mit seinem Zimmerpartner teilen, denn zusammen haben sie ein rechtes und ein linkes Bein, und zufällig auch dieselbe Schuhgrösse.

Unsere Bekannten aus einem Kibbuz im Norden Israels kommen zu Besuch. Seit vielen Monaten leben sie wie Nomaden, ihr Häuschen mit dem liebevoll gepflegten Garten und dem Studio, in welchem Pinchas malt, seit er sich von einer schweren Krankheit erholt, mussten sie verlassen. Allein im August wurde Israels Norden mit über 1,300 Raketen aus dem Libanon und aus Syrien beschossen.

Die ermordeten Geiseln, vor allem die Geschichte von Eden Yerushalmi, gehen mir seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf. Eden war im Alter meiner Töchter, die manchmal auch an Partys tanzen gehen. Was Eden und die anderen Geiseln durchgemacht haben, bis sie nach 330 Tagen in Geiselhaft kaltblütig ermordet wurden, was ihre Familien erleiden müssen, das hätte man sich für den schlimmsten Horrorfilm nicht erdenken können.

Seit Anfang September kann man den Herbst erahnen. Die Temperaturen sind frühmorgens etwas erträglicher, abends spürt man sogar endlich ein leichtes Lüftchen. Aber sobald die Sonne am Himmel steht ist es immer noch sehr heiss und feucht und deshalb starte ich meinen Morgenlauf wieder einmal schon um sechs Uhr. Es ist eher ein Spaziergang, denn mein linkes Knie macht das Joggen schon einige Monate nicht mehr mit. Doch ich bin eineinhalb Stunden unterwegs und trotz der frühen Stunde kommen mir auf meiner Route, die drei Dörfer und zwei Wäldchen im Sharongebiet umfasst, Dutzende Menschen entgegen. Junge und Alte, die gehen, laufen oder Rad fahren, einige langsamer, einige sehr sportlich.
Manche der Jogger und Spaziergänger tragen Kopfhörer, andere wünschen mir freundlich einen guten Morgen und zaubern mir ein Lächeln ins Gesicht. 
Den hübschen jungen Männern, die wegen der Hitze ohne T-Shirts laufen, schenke ich einen zusätzlichen sehnsüchtigen Blick. Ich hoffe, sie wissen ihre Kraft, Gesundheit und jugendliche Schönheit zu schätzen. 
Eine junge Frau sitzt im Schneidersitz mit Blick auf den Sonnenaufgang auf einem Erdhügel und bringt in ihrem Zeichenblock letzte Striche an.
Die Felder und Wälder sind trocken und staubig, sie warten auf den ersten Regen. 
Auch den blühenden weissen Meerzwiebeln schenke ich einen zusätzlichen staunenden Blick. Wie beeindruckend sie in ihrer ganzen Grösse jedes Jahr irgendwann einfach plötzlich da zu sein scheinen, wo vor einer Woche noch nichts war. Wie immer kündet ihr Blühen den Wechsel der Jahreszeit an.

Die Zwiespältigkeit der Situationen und Ereignisse im Alltag macht mich wahnsinnig. Wie erträgt man diese unheimliche Normalität?





Montag, 2. September 2024

Durchhalten

Im Anschluss an meinen letzten Beitrag kann man die Liste der Horrornachrichten von gestern auf diesem Blog nachlesen.
Heute ist die Berichterstattung in Israel dominiert von Schilderungen und Aufnahmen der zahlreichen Beerdigungen. Viele Menschen streiken und gehen auf die Strasse. Die Histadrut (der israelische Gewerkschafts-Dachverband) hat für einen Tag den Generalstreik ausgerufen. Der (gesetzeswidrige) Streik soll Anteilnahme mit dem Forum der Angehörigen der Geiseln bekunden und den Druck auf die Regierung erhöhen, einem Deal zur Freilassung der verbliebenen Geiseln zuzustimmen. Leider erzielt die Hamas damit genau das, was sie über kurz oder lang explizit im Sinne hat: Hass zu schüren, die Gesellschaft zu spalten und Israel weiterhin innerpolitisch zu schwächen.

Die Sache mit den Geiseln ist höchst verzwickt. Während wir, die weniger oder nicht direkt Betroffenen, mit den am 7. Oktober etwa 1,200 Ermordeten abschliessen und sie einigermassen aus dem Bewusstsein verdrängen können, während der Schock und die Trauer über diese für uns meist Unbekannten verjähren und abklingen, beschäftigt uns das Schicksal der Geiseln rund um die Uhr. Wir kennen nicht nur ihre Namen, sondern ihre Gesichter und Geschichten, ihre Eltern, ihre Geschwister und Angehörigen. Sie sind für uns alle zu Brüdern und Schwestern geworden. Mit ihnen hat die Hamas uns in der Hand und das spielt sie brutal aus. Das wird sie auch weiterhin tun, mit jedem und jeder einzelnen der Festgehaltenen, denn das war die bestialisch geplante Absicht der Geiselnahmen am 7. Oktober-Massaker.

Ein sogenanntes "Abkommen" wird und darf es nicht geben. Wer dies bei Schreibschaukel noch nicht getan hat, sollte dazu unter anderem das Interview mit Gerhard Conrad lesen.

Für uns endete der gestrige schwarze Tag mit einem Besuch auf dem Friedhof unseres Wohnorts, für die Yahrzeit (Jahrestag des Ablebens, nach jüdischem Kalender) von Nitzan. Nitzan wurde am 7. Oktober in dem Todesbunker ermordet, aus welchem der nun aus Gaza tot geborgene Hersh Goldberg-Polin und andere entführt wurden.

Ich wollte mir eine "mir ist alles egal" Haltung aneignen, doch sehr erfolgreich bin ich damit nicht, wie ja auch zu erwarten war. Ich versuche weiterhin, mir einen Panzer zuzulegen und alles möglichst an mir abprallen zu lassen. Anders geht es nicht. Irgendwann wird hoffentlich alles wieder gut – in meiner Wunschvorstellung mit Unterstützung der westlichen Welt. Ich denke, dass sich weltweit langsam aber sicher Menschen zeigen werden, die, wie wir Israelis, ein wertebasiertes, pluralistisches, gemeinschaftsorientiertes Umfeld wollen. Menschen, die eine auf Respekt und Gleichberechtigung beruhende Gemeinschaft wollen, die niemanden zurücklässt. Menschen, die überhaupt an etwas glauben und nicht nur an Vernichtung. Ich denke, dass sich diese Menschen herauskristallisieren und dass sie irgendwann auch überhandnehmen werden.

Bis dahin müssen wir durchhalten.















Sonntag, 1. September 2024

Horrorfilm

Ein Morgen voller Schläge in die Magengrube. Wir sind Statisten in einem Horrorfilm ohne Ende. 

Sonntag, 25. August 2024

Krieg und zwei platte Reifen

Auch wenn es heute früh einige Stunden anders ausgesehen hat, uns geht es immer noch – doch, ich sage "gut". Man kann unseren Alltag im Ausnahmezustand kaum beschreiben, weder mit einem, noch mit vielen Worten. Doch wieder ist für uns, an unserem Wohnort, ein Tag ohne Alarm vergangen. Wir müssen nicht in den Schutzraum rennen, wir bewegen uns frei in einem bestimmten Umkreis, wir gehen zur Arbeit und vergnügen uns, soweit es geht. Wir (meine Familie) sind einigermassen in Sicherheit. Wenn man das Mikro betrachtet und nicht das Makro, geht es uns also immer noch gut. Anderswo ist das nicht so, wie man zum Beispiel bei Lila lesen kann.

Um uns herum herrscht Chaos und die Situation wird jeden Tag schlimmer. Vor zwei Wochen versetzten mich die Nachrichten über den unmittelbar bevorstehenden Angriff aus dem Iran einige Tage in Panik. Unterdessen habe ich mich beruhigt und würde nun meinen Gemütszustand eher als zutiefst frustriert beschreiben. Ich versuche, mir eine "mir ist alles egal" Haltung zu eigen zu machen. Ich gebe mir grösste Mühe, die kleinen guten Momente zu geniessen und Schlimmeres möglichst von mir fernzuhalten. Fernsehen schaue ich seit Jahren nicht mehr, schon gar keine Nachrichten. Nun stelle ich auch bewusst  beim Autofahren das Radio leise, wenn es Zeit für Nachrichten ist. Auf Instagram und Facebook scrolle ich bei unerfreulichen Nachrichten schnell weiter. Es ist so viel los - ich will nicht mehr rund um die Uhr mit Katastrophen konfrontiert werden. Ich will einfach nichts mehr hören und wissen.

Doch ich lebe nicht auf einer einsamen Insel und weiss natürlich trotzdem, dass die israelische Armee vergangene Woche sechs Entführte tot geborgen hat, nachdem diese am 7. Oktober lebend nach Gaza verschleppt, wochen- oder monatelang gefoltert und schlussendlich von ihren Hamas-Bewächtern ermordet worden sind. Ich weiss auch, dass die entführte Agam Berger vor vier Tagen in Hamas-Geiselhaft 20 Jahre alt geworden ist, dass überhaupt bald alle entführten Israelis in Geiselhaft mindestens einmal Geburtstag hatten. Ich weiss, dass am Wochenende wieder fünf oder sechs Soldaten gefallen sind.

 Passionsfrüchte aus unserem Garten. Ich zelebriere und geniesse jede Einzelne.



Letzte Woche verbrachte Lianne einige Tage im Spital. Eine Riesenzyste hatte sich gebildet, die mit intravenöser Medikamentenabgabe behandelt werden musste. Zum Glück sprach Lianne auf die Medikamente gut an und wurde vor dem Wochenende wieder nach Hause entlassen. Sie muss jedoch noch weiter viele Medikamente einnehmen. Leider ist sie als Folge auf die Krankheit ihre zwei Jobs als Tagesmutter erst einmal los, denn bei solchen Gelegenheitsarbeiten kann man es sich nicht leisten, zwei oder drei Wochen krank zu sein.

Die Stunden in der Notaufnahme waren nicht gerade ein grosser Spass. Viele kranke oder verunfallte Menschen, Junge und Alte, das ist schwer mitanzusehen. Am Schlimmsten war jedoch mein Kopfkino. Mir drängten sich Gedanken an ein Mega-Attentat auf und ich konnte die Bilder von Dutzenden, ja Hunderten blutender Schwerstverletzten, welche die Notaufnahme wie ein Tsunami überschwemmten, einfach nicht loswerden. So war es am 7. Oktober, das erzählten uns die Freunde von Yotam. Sie entkamen den Hamas-Terroristen mit Splittern am ganzen Körper, wurden jedoch im südlichen Soroka-Spital in der ganzen Aufregung nicht einmal beachtet.

An einem gewöhnlichen Montag verläuft hier jedoch alles einigermassen ruhig und nach drei Stunden Aufnahmeprozedur bekam Lianne ein Bett mit Aussicht im 6. Stock. Für uns bedeuteten diese Tage täglich mühsame Fahrten nach Tel-Aviv, lange Besuche in der stinkenden Abteilung (bitte entschuldigt, aber Dermatologie ist schrecklich) und vor allem viele Sorgen um Lianne und ihre Gesundheit.

Nach einem sehr ruhigen Wochenende, an welchem wir uns erst einmal von dem ganzen Spitaltumult erholen mussten, lagen Eyal und ich heute früh beide um vier Uhr morgens wach. Warum rumorte die Klimaanlage plötzlich so? Ich drehte mich lange im Bett und konnte mein Gedankenkarusell erst mit etwas Lesen beruhigen. Kurz nachdem ich endlich wieder eingeschlafen war, zog Eyal, schon frisch geduscht, um 6 Uhr dreissig an der Decke und weckte mich auf, um mir mitzuteilen, dass die IDF vor Kurzem im Norden eine Präventivoperation geflogen hat (unsere Klimaanlage ist also doch in Ordnung!) und nun die Hisbollah ihre Raketen und Drohnenangriffe sowohl in der Zahl als auch in der Reichweite ausweitete. Die Raketen kamen heute morgen schon bis nach Akko, das ist nur 80 Kilometer von uns entfernt. Eyal musste  trotz allem ins Büro, doch ich würde im Heimoffice arbeiten und meine Schwiegermutter zu uns holen.

Später schien sich die Lage zu beruhigen, oder sich immerhin im Moment nicht mehr auszuweiten. Durch die Präventivoperation konnte die IDF den von der Hisbollah und dem Iran für fünf Uhr morgens geplanten Grossangriff auf das Zentrum Israels verhindern. Im Laufe des Tages und nachdem sie innert Stunden einige Hundert Raketen nach Israel abgefeuert hatten, gaben dann sowohl die Hisbollah als auch der Iran bekannt, dass das für heute alles wäre.

Lianne, unsere Realitätsverdrängungskünstlerin, verschlief wieder einmal alles. Erst gegen zehn stand sie auf und sagte, noch schläfrig "Ich versteh nichts mehr. Haben wir Krieg oder was? Kann ich mit meiner Freundin in die Shoppingmall fahren?"

Was sollte ich sagen? Ja, wir haben Krieg, aber im Moment kommt er nur bis 80 Kilometer von hier. Du kannst also fahren. Wir machen weiter, so lange es geht. Was in ein paar Stunden sein wird, weiss keiner.

Im Nachhinein hätte Lianne vielleicht doch zu Hause bleiben sollen, denn die Shoppingtour endete mit zwei platten Reifen, da sie den Parkplatz (mit meinem Auto!) in die Gegenrichtung verliess und dabei die Krallen übersah.

Alltag eben!




Mittwoch, 14. August 2024

Wir bleiben hier

Ob der morgige Gipfel in Katar einen Durchbruch bei der Geiselfrage bringen wird? Ich bin skeptisch. Die Hamas will ja gar keine Verhandlungen. Und das trifft sich bestens. Ich nämlich auch nicht.

Die europäischen Medien geben sich grösste Mühe, Israel und die Hamas als gleichermassen schuldige Partner darzustellen, doch diese Kriegsparteien – eine genozidale Terrormaschinerie und eine liberale Demokratie – und ihre Ziele könnten nicht gegensätzlicher sein. Auch den "Geiseldeal" im November stellte der Grossteil der europäischen Medien dar, als gehe es um einen Austausch von auf beiden Seiten aus verschiedenen, mehr oder weniger lauteren Gründen inhaftierten Gefangenen. Dass es sich in Wahrheit um rechtmässig verurteilte palästinensische Straftäter im "Deal" gegen brutalst gejagte, verletzte, gegen ihren Willen in unmenschlichsten Bedingungen in Gaza festgehaltene unschuldige Zivilisten, darunter Kinder und junge Frauen handelte, blieb viel zu oft unerwähnt.

Einer der überführten palästinensischen Straftäter, der im November im Austausch gegen israelische Geiseln auf freien Fuss gesetzt wurde, war der kaum 18-jährige Palästinenser Tarek Daus. Nach seiner Freilassung verpasste der von Hass indoktrinierte Tarek keine Gelegenheit, sich weiter mit terroristischen Tätigkeiten zu befassen. Diese Woche sah er seine grosse Chance gekommen, als ein 60-jähriger jüdischer Mann die Stadt Qalqilya betrat. Der junge Palästinenser eröffnete das Feuer auf ihn und verletzte den Israeli schwer. Zwei weitere Palästinenser wurden bei dem Attentat ebenfalls verletzt. Das Auto des israelischen Mannes wurde vom palästinensischen Mob in Brand gesetzt. Der 18-jährige Schütze floh vom Tatort und wurde am Ende der Verfolgungsjagd von der IDF getötet.


Der im November freigelassene 18-jährige Palästinenser Tarek Ziad Abd al-Rahim Daus


(Zweifellos sollte man sich als nicht-arabischer Israeli in diesen Zeiten nicht in die arabischen Städte in Israel begeben, wenn man an seinem Leben hängt. Während es jedoch für Juden lebensgefährlich ist, arabische Orte zu betreten, besteht die israelische Bevölkerung weiterhin aus 20 Prozent Arabern, die im Kernland Israel leben und sich sicher und frei bewegen können. Sie haben die gleichen Rechte wie ihre jüdischen oder andersgläubigen israelischen Mitbürger. Auch an meinem Arbeitsplatz und in meinem gesamten Umfeld ist jeder fünfte Mensch, der mir begegnet und mit dem ich zu tun habe, Araber/in.)

In deutschen Medien ist über den vorgenannten Vorfall unter anderem zu lesen ("die Zeit", 12.8.2024):
"Palästinenser melden einen Toten nach israelischem Militäreinsatz im Westjordanland. Bei einem Einsatz der israelischen Armee im Westjordanland ist nach palästinensischen Angaben ein 18-jähriger Palästinenser getötet worden". 

Was entnimmt der gutgläubige Leser diesen Zeilen? Wer ist der Schuldige? Wer das Opfer? Offensichtlich, so suggeriert der Newsticker, sind einige Israelis an einem heiteren Montagmorgen aufgestanden, haben sich aus Langeweile Uniformen angezogen und sich gesagt "Na, was machen wir heute? Gehen wir doch ins Westjordanland und erschiessen wir in einem Militäreinsatz (sprich: nach Lust und Laune) einige Palästinenser."
Hat man irgendwo nachlesen können, dass dem Militäreinsatz ein von einem Palästinenser verübtes Attentat vorausging? Ist vielleicht mit einem Wort erwähnt worden, dass Tarek anlässlich des Geiseldeals im November freikam, weil er als Minderjähriger zu den zu Unrecht inhaftierten palästinensischen Kindern gezählt wurde? Natürlich nicht, es passt ja schliesslich nicht ins gängige Narrativ.

Ich bringe diesen Vorfall hier auf um zu zeigen, wie komplex die Situation ist. Ich, wir, alle Israelis, wollen vor allem und an erster Stelle die in Gaza festgehaltenen Geiseln wieder bei ihren Familien wissen. Wenn möglich, ohne dabei irgendjemandem zu schaden. Klar, wenn ich die Mutter einer der Geiseln wäre, wäre ich bereit, Hunderttausend Terroristen für mein Kind freizugeben. Die ganze Welt würde ich opfern für mein Kind. Zum Glück bin ich das aber nicht, meine Kinder sind einigermassen sicher zu Hause. Dort möchte ich sie auch weiterhin wissen und ich habe, offen gestanden, grosse Zweifel an irgendeinem Abkommen mit der Hamas und ihrer Verbündeten. Unter anderem, weil ich riesengrosse Angst habe vor "palästinensischen Kindern", die in einem Deal auf freien Fuss kommen sollten.


In meinem letzten Blogbeitrag habe ich über unser Dilemma betreffend einer Flucht aus Israel geschrieben. Am Dienstag Tischa B'Av, dem Tag, an dem die Chancen auf den iranischen Angriff am Grössten zu sein schienen, war der gewünschte Flug spontan da. Wie ein Wink Gottes erschien ein (zugegeben sehr spontaner, für den Abend desselben Tages) Schnäppchenflug nach Basel, zu einem mehr als erschwinglichen Preis. 

Nach einigen Minuten Nachdenkens liess ich das Angebot verfallen. Ich kann nicht behaupten, dass meine Wahl sonnenklar wäre, es gibt immer wieder Momente grosser Zerrissenheit. Aber ich habe gewählt: Ich werde am kommenden Samstag mit meinen Töchtern die Theatervorstellung in Tel-Aviv besuchen, für welche wir schon vor Wochen Karten besorgt haben. Ich werde am Sonntag mit meiner Familie den Geburtstag meines Sohnes feiern. Hier in Israel. Vielleicht riskieren wir dabei unser Leben. Doch könnte ich es ertragen, meine Freunde und Angehörigen in der Ferne in Gefahr zu wissen?

Ganz klar ist mir vor allem, was ich in Europa sicherlich nicht ertragen könnte: die anti-israelische Lügenpresse. Das Obengenannte ist nur ein winziges Beispiel für die unzähligen kleinen "Updates": Scheinbar ausgewogene Nachrichten, die die Meinung der Weltöffentlichkeit formen. Mit dieser Lügenpresse, die Hamaspropaganda ohne zu hinterfragen übernimmt und damit den Terroristen in die Hände spielt, möchte ich nicht leben. Sie ist in Europa der aktuelle Trend (nett ausgedrückt), doch – wenn man die Fakten aus erster Hand kennt – immer aufs Neue schockierend und unerträglich. Auch mit einer Gesellschaft, die von nichts wissen will und einfach inbrünstig hofft, dass der Lärm der grossen Welt die Stille im eigenen lieben Dörfchen nicht stören möge, hätte ich grösste Mühe.

Den Schnäppchenflug vom Dienstag habe ich aus diesen Gründen verschmäht. Bis zum nächsten Mal, wer weiss!





Montag, 5. August 2024

Tausend Tode

Donnerstag, 25. Juli

Wir erwachen mit der Nachricht über die Tötung von Ismail Hanyieh und anderen Terror-Schlüsselfiguren.

Sonntag, 28. Juli

Iran und seine Verbündeten beginnen, mit den Säbeln zu rasseln. Laut den Medien ist nun ein Vergeltungsschlag des Irans unvermeidlich.

Montag, 29. Juli

Nach dem Anhören der höchst unheilvollen Achtuhr-Nachrichten und noch energiegeladen vom Morgentraining fasse ich einen Entschluss: Wir müssen gehen. Es ist so weit. Ich werde mit den Kindern reden und Flüge buchen. Wenigstens meine Töchter sollten mit mir kommen. Das ist nicht gerade feministisch, ich weiss, aber bei den Männern der Familie ist es aus verschiedenen Gründen gerade etwas schwierig. Immerhin, der Entschluss ist gefasst und ich spreche zuerst mit Sivan. Überraschenderweise sagt sie sofort zu. Sie ist dabei, obwohl sie ihren Verlobten zurücklassen wird. In ihrer Wohnung in Tel-Aviv schläft sie seit einigen Tagen mit neben dem Bett bereitliegenden Kleidern, für alle Fälle. Auch sie hält diese Anspannung nicht mehr aus.

Ich beginne, Flüge zu suchen. Das sieht schlecht aus. Die Preise für einen El Al Flug nach Zürich sind auf mindestens 1300 Dollar gestiegen – und es gibt keine Plätze.

Dienstag, 30. Juli


Ich spreche mit Itay und informiere ihn über unser Vorhaben, abzuhauen. Er will auch mit und das macht die Sache jetzt um einiges komplizierter. Er hat seit dem 7. Oktober nicht mehr gearbeitet und nun endlich gerade in diesen Tagen einen Kurs abgeschlossen und eine neue Arbeit angefangen. Ich fühle mich schlecht bei dem Gedanken, ihn davon wegzureissen. 
Und wer soll all diese überteuerten Flugtickets bezahlen?

Ich kann mich nicht auf die Arbeit konzentrieren, verbringe den ganzen Tag auf verschiedenen Webseiten und Apps, die Flüge anbieten – aber keines der Angebote ist wirklich angemessen.

Mittwoch, 31. Juli

Ausgerechnet mit Lianne, der Jüngsten, habe ich keinen Erfolg. Sie ist eine Meisterin im Verdrängen. Sie lebt in einer perfekten Welt mit schönen Menschen auf TikTok und Instagram. Krieg? Bedrohung? Davon will sie nichts wissen. Ausserdem hat sie gerade zwei neue Babysitterjobs, die sie viel mehr beschäftigen, als irgendwelche höchstwahrscheinlich unrealistischen und völlig übertriebenen Kriegsfantasien. Ich komme mit meiner Panikmache nicht zu ihr durch. Ich suche trotzdem weiter Flüge, finde aber nichts Passendes. Dass ich nicht weiss, wie viele Passagiere wir sein werden, macht die Sache nicht einfacher.

Donnerstag, 1. August

In der Schweiz feiert man den Nationalfeiertag, wir bezeichnen 300 Tage Fernbleiben unserer Entführten in Gaza.

Eyal wird in Israel bleiben. Er zieht es offensichtlich vor, arbeitend vor dem PC zugrunde zu gehen. Na ja, jedem das seine. Ausserdem ist er abgehärtet, schliesslich hat er schon den Sechstage-Krieg miterlebt, den Jom-Kippur-Krieg, den Golfkrieg, die Libanonkriege...

Einen passenden Flug habe ich sowieso noch nicht gefunden. Dann kommt mir auch noch in den Sinn, dass ich am Sonntag einen Termin beim Zahnarzt habe. Eine gebrochene Zahnbrücke muss vor der Flucht unbedingt noch ersetzt werden. Ich teile den Kindern mit, dass die Abreise auf Montag verschoben wird.

Das Flugangebot wird immer prekärer. Delta und United Airlines streichen ihre Flüge nach Israel. Gemäss der Flug-Schnäppchen-App gibt es noch Charterflüge nach Athen, Belgrad, Zagreb, Bari, Verona – aber ob die dann auch wirklich fliegen werden? Mein Plan ist jetzt, dass wir spätestens am Sonntagnachmittag mit gepackten Koffern bereit sein und dann spontan den nächstbesten Flug nach Europa nehmen werden.

Freitag, 2. August

Die Familie von Nitzan feiert Nitzans Geburtstag. Nitzan wäre 29 geworden, aber sie wird für immer 28 bleiben. Sivan geht mit einer Freundin an den surrealistischen Anlass. Zum Geburtstagsfest einer ermordeten Freundin. Dass meine Kinder so etwas erleben müssen.

Itay und Sivan und ihr Verlobter kommen zum Schabbatessen. Wenn man den Medien Glauben schenkt, steht der Angriff unweigerlich bevor.

Vor dem Schlafengehen bitte ich Eyal, die Pistole aus dem Safe zu holen. Wozu? meint er, der Angriff aus dem Iran wird kein Frontalangriff von Terroristen sein. Ich weiss, erwidere ich, aber wenn sie eine Atombombe abwerfen und wir nicht alle getötet werden, dann musst du das tun. Mit diesen Aussichten gehen wir schlafen.

Samstag, 3. August

Ein weiterer Morgen, an dem wir uns wundern, dass wir unbehelligt erwachen. 

Sivan und Lianne hätten heute mit ihrer Cousine und ihren Kindern einen Wasservergnügungspark besuchen sollen, aber die Cousine sagt ab. Die Lage...

Wir räumen endlich den Schutzraum auf. 

Ich suche weiter nach Flügen, aber es ist aussichtslos, es gibt keine Plätze mehr. 

Am Abend mähe ich den Rasen, säubere die Kanten, reche Laub. Die Mangos sind alle gepflückt, mein Garten ist parat, die Iraner können kommen!

Sonntag, 4. August

Wieder erwachen wir staunend, dass der Angriff noch nicht stattgefunden hat. 

In meine Mailbox flattern mehrere E-Mails meines Arbeitgebers mit Anweisungen für den Ernstfall. Auf den beigelegten Grundrissplänen sind die Schutzräume und die kürzesten Fluchtwege rot gekennzeichnet. Ausserdem werden ausgebildete Fachleute für eine freiwillige medizinische Notfallgruppe gesucht. Dann noch eine Meldung für den Fall, dass der Alarm beim Mittagessen in der Kantine losgeht.

Ein Ausschlag an meiner linken Hand wird immer schlimmer und ich kratze mich nachts wund.

Mir wird klar, dass ich gut daran täte, mich mit der Situation abzufinden: Wir fliegen nirgendwo hin. Wir bleiben hier. Ich treibe mich in den Wahnsinn mit unrealistischen Fluchtgedanken.

Beim Zahnarzt wird die gebrochene Brücke ersetzt. Jetzt wäre ich bereit...

Montag, 5. August

Immer noch kein Angriff. Heute, oder sicher innerhalb der nächsten 24 Stunden geht es los! behaupten die Medien jeden Tag aufs Neue, seit einer Woche. Unterdessen bin ich schon Tausend Tode gestorben.

Ich finde mich damit ab, dass wir nicht fliegen werden, aber vielleicht sollte ich mit unserem Freund Avi, dem Skipper sprechen?

Die in Gaza festgehaltenen Ariel Bibas und Karina Ariev haben heute Geburtstag. Ariel wird fünf Jahre alt, Karina zwanzig. Ich weiss nicht, was mehr schmerzt: Die Aussicht auf einen grossen Krieg oder die Tatsache, dass wegen der neuen Bedrohung aus dem Iran die Befreiung der Geiseln in den Hintergrund gerückt zu sein scheint. In nur 60 Tagen ist es ein Jahr. Werden wir sie je wiedersehen?

Im Büro erzeugt die Klimaanlage in unserem Stockwerk ein dumpf brummendes Geräusch. Ich versuche zu arbeiten, aber immer wieder muss ich genauer hinhören, um mich zu vergewissern, dass es eben nur die Klimaanlage ist und nicht der Lärm von Kampfflugzeugen.

2 3 4 Einatmen
2 3 4 Luft anhalten
2 3 4 5 6 7 Ausatmen
Wiederholen, am besten den ganzen Tag



Sonntag, 4. August 2024

Freude und Leid

Oren Smadja


Der israelische Judoka Oren Smadja gewann 1992 die olympische Bronzemedaille, drei Jahre später belegte er bei den Weltmeisterschaften den zweiten Platz. Dass sich Oren bei den Israelis auch jetzt noch, viele Jahre nach diesen sportlichen Errungenschaften, großer Beliebtheit erfreut, liegt wohl vor allem an seiner angenehmen und sportlichen Persönlichkeit. Oren ist einfach rundum sympathisch, er ist aufrecht und mutig, verkörpert Gemeinschaftssinn und Solidarität, doch vor allem ist er bescheiden und einer von uns.

Seit 2010 trainiert Oren die israelischen Judoka, darunter Or Sasson, Gewinner der Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen 2016 und Sagi Muki, der bei den Judo-Europaspielen 2015 und bei den Weltmeisterschaften 2019 in Tokio Goldmedaillen gewann.

Wie alle Israelis hat auch Oren nebst seinem Beruf eine weitere wichtige Aufgabe: Er ist oder war einst Soldat der IDF und er ist Vater, Onkel und Bruder von Soldaten. Als am 20. Juni, ausgerechnet an Orens Geburtstag, sein 25-jähriger Sohn Omer im Krieg gegen die Hamas im Gazastreifen durch Mörserbeschuss getötet wurde, weinte das ganze Land mit dem berühmten Vater und seiner Familie. Doch als echter Sportler und Judoka lässt sich Oren nicht unterkriegen. Nach Ende der dreissigtägigen Trauerzeit gab er bekannt, dass er das israelische Nationalteam an die olympischen Spiele in Paris begleiten würde.

Wie nahe Freude und Leid zusammenliegen, zeigen die aufwühlenden Momente in Paris, in denen der israelische Judoka Peter Paltchik und sein Trainer Oren nach dem Sieg, der die Medaille einbrachte, unter Tränen ihrer Freude und ihrem Schmerz Ausdruck verleihen (im Video ab ca. 01:30 bis 02:30). Zuschauer, die die Sprache nicht verstehen und den Hintergrund nicht kennen, mögen denken, Paltchik sei einfach gerührt über die ausserordentliche Errungenschaft. Doch vielmehr weint er bittere Tränen für sein Volk Israel, er weint vor Schmerz über die Freunde, die nicht mehr wiederkommen werden und vor allem über das persönliche Leid seines Trainers Oren. Das Video braucht keine Übersetzung, ich finde, es ist eindrücklich genug, die beiden starken Männer weinen zu sehen.

Sechs Medaillen in verschiedenen Disziplinen hat das kleine Land Israel, welches seine zahlreichen Feinde gerne von den olympischen Spielen ausgeschlossen gesehen hätten, in Paris gewonnen. Ein anderes Video übersetze ich doch, denn Oren hat eine Botschaft, die mich persönlich sehr berührt und in diesen Tagen, da wir uns an jeden Strohhalm klammern, ermutigt: "Wir werden diese Krise überstehen, wir werden gedeihen, wir werden vereint Erfolge verzeichnen. Wir werden dieses Land weiter ausbauen, dieses Land, das nur das Allerbeste verdient. Sie (unsere Feinde und Missgönner aller Sorten - eigene Anmerkung) werden an ihren Orten leben und zusehen, wie wir wachsen und gedeihen, und das ist unsere Rache. Am Israel Chai!"