Freitag, 25. Oktober 2024

Überall und dazwischen

Die wiederholten Luftschutzalarme haben mich nun wirklich schon überall überrascht:
  • beim Autofahren,
  • in einem Einkaufszentrum,
  • im Büro,
  • während einer geschäftlichen online-Besprechung (Sirenengeheul – alle israelischen Teilnehmer verschwinden in Sekundenschnelle vom Bildschirm, die amerikanischen Mitarbeiter bleiben verdutzt zurück),
  • natürlich in verschiedensten Situationen zu Hause,
  • an einem Dienstagmorgen im Training, wo der Alarm nach fünfzehn Minuten schweisstreibendem Konditionstraining fast schon ein willkommener Unterbruch war.
Unsere Situation ist aber nicht annähernd so schlimm wie im Norden Israels, wo seit einem Jahr Dauerbeschuss aus dem Libanon herrscht. Lest darüber bitte diesen Artikel.


Zwischen den Alarmen:
  • feiern wir das Laubhüttenfest,
  • brechen wir ob der Meldung über Shirel Golans Selbstmord an ihrem 22. Geburtstag kurz zusammen (Shirel, eine Nova-Überlebende aus einem Nachbardorf, war eine Jahrgängerin und Bekannte aus der Oberstufe von Lianne),
  • probieren wir Brautkleider an (für die näher rückende Hochzeit),
  • schalten wir das Radio aus und malen Mandalas,
  • erreichen uns auch ohne Radio täglich entsetzliche Nachrichten,
  • trinken wir einen Apéro am Dizengoffplatz in Tel-Aviv (aus Angst vor Terrorattentaten setzen wir uns in den hinteren Teil des Restaurants), 
  • freuen wir uns über den Tod von Yahya Sinwar,
  • stellen wir bei einem Morgenlauf fest, dass es endgültig Herbst geworden ist und dass die Felder mit frischen Erdbeersetzlingen bepflanzt worden sind,
  • halten wir einen Samstag lang den Atem an aufgrund eines sich wie ein Steppenfeuer ausbreitenden Gerüchts, dass die entführten, seit 386 Tagen in Geiselhaft gequälten Späherinnen freigekommen sind ("Späherinnen" bezieht sich auf die fünf jungen Soldatinnen, die von der Nahal-Oz Basis verschleppt worden sind),
  • sind wir mindestens einen Sonntag lang am Boden zerstört, weil das Gerücht in tausend Teile zerbricht,
  • freuen wir uns auf die bevorstehende Geburt von Zwillingen in der Familie,
  • verbleiben wir in angespannter Erwartung, dass einige Menschen in Gaza, die vielleicht auch Frieden wollen und froh sind über den Tod des "Schlächters von Chan Yunis" auf die Strassen gehen, weisse Fahnen schwenken und die Geiseln freigeben,
  • beobachten wir die Mandarinen, die am Baum vor dem Stubenfenster reifen.
Zwischen den Alarmen – rappeln wir uns immer wieder auf.





Was mir ein bisschen Kraft gibt, ist die vage und – wer weiss – vielleicht völlig utopische Hoffnung, dass dieser Krieg eine Chance für eine Neuordnung im Nahen Osten sein könnte. Eine Chance für einen friedlichen Nahen Osten, in dem die guten über die bösen Kräfte gesiegt haben. Ein naher Osten, in welchem zerstörerische Ideologien vernichtet und lebensbejahender Überzeugung gewichen sind. 
Es ist schwer, diese Hoffnung aufrechtzuerhalten, denn ein Blick in die ausser-israelischen Medien ergibt, dass Israel zu 99 Prozent alles falsch macht und der israelische Staat der Hauptschuldige an einem möglichen dritten Weltkrieg ist. Doch vielleicht, wenn sich die Israelis nicht beirren lassen und einige internationale Mächte mitziehen, könnte kreative Strategie, in Kombination mit ein bisschen Glück, 

oder vielleicht einem Wunder, 

in zehn, zwanzig oder mehr Jahren zur Entstehung eines neuen Nahen Ostens führen. 
Ich muss an diesem Hoffnungsschimmer festhalten, denn sonst ist unser Dasein, vor allem das der jungen Generation, das meiner Kinder, unerträglich schmerzhaft und deprimierend.



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