Dienstag, 21. Mai 2024

Selbstdiagnose

Kürzlich habe ich mich doch wieder einmal etwas weiter von meiner gewohnten Umgebung Haus, Garten und Büro weg gewagt. Ich hatte einen Termin zum Röntgen, um den Grund für die monatelang anhaltenden Schmerzen im linken Knie abzuklären. Der Ausflug stand jedoch unter keinem guten Stern. Zweimal nahm ich trotz Navigations-App eine falsche Abbiegung. Als ich nach mehreren Runden im Stau und langer Suche nach einem Parkplatz in der stark frequentierten Tiefgarage des Geschäftszentrums endlich den richtigen Lift gefunden zu haben glaubte, ertönte ein markdurchdringender Alarm und ich wurde über die Lautsprecher aufgefordert, sofort das Gebäude zu verlassen, das ich gerade erst betreten hatte: Ein Brand war ausgebrochen! Vielleicht ein Fehlalarm? Ich zögerte einen Moment. Dann beschloss ich, dass es vielleicht doch besser wäre, der Aufforderung nachzukommen, wollte ich nicht Gefahr laufen, im Ernstfall das Auto für mehrere Stunden eingeschlossen zu finden. Nachdem der Wagen aus der möglichen Feuerhölle befreit war, betrat ich jedoch das Gebäude erneut und konnte dann die Röntgenaufnahmen erfolgreich durchführen. Von einem Brand war keine Rede mehr, wahrscheinlich hatte es sich um irgendeinen Aschenbecher im 24. Stock gehandelt.

Den Befund der Röntgenaufnahmen habe ich noch nicht erhalten, aber ich würde mich nicht wundern, wenn die Ursache des Schmerzes im Knie daraus nicht ersichtlich wäre. So ist das, wenn man älter wird, immer zwickt und schmerzt etwas, dabei hat man gar nichts Nachweisbares.

Ich weiss auch schon, wie meine Eigendiagnose lauten wird, falls der Arzt mir mitteilt, dass auf den Aufnahmen kein Schaden erkennbar ist: Mein Herzschmerz muss ins Knie gerutscht sein.

Es muss mein Herz sein, gebrochen am Schmerz für die geschändeten und verschleppten neunzehnjährigen Liri, Agam, Karina, Naama und Daniela, am Schmerz für die zwei Kleinkinder der Familie Bibas, für Shlomo Mansour, nur wenig jünger als mein sehr alter Vater und für all die anderen etwa 130 Frauen und Männer, die unter unerträglichen Qualen in Gaza festgehalten werden. Mein Herz, gebrochen am Schmerz für die 365 wunderbaren, hauptsächlich jungen Menschen, die am Nova-Festival niedergemetzelt und für all die anderen Hunderten Unschuldigen, die an jenem Tag brutal gejagt und ermordet worden sind. Für die Zigtausenden am Körper und an der Seele verletzten Überlebenden. Für unsere Kinder in Uniform, die seither täglich in diesem Krieg fallen. Gebrochen an der Aussichtslosigkeit der Situation. Und nicht zuletzt, gebrochen an der Erkenntnis, dass Israel zu einer Insel geworden ist, einer Insel in einem Meer von Hass, Lügen und Verleumdung.

Es ist so unerträglich viel, es grenzt an ein Wunder, dass meine Knie mich überhaupt noch tragen und dass das Röntgengerät von diesem immensen Schmerz nicht in die Luft geflogen ist.


1 Kommentar:

Sarah hat gesagt…

Heute weine ich für dich.