Mittwoch, 2. Oktober 2024

Grossangriff aus dem Iran

Wie erleben wir den Raketengriff mit fast 200 ballistischen Raketen aus dem Iran? Wie sehr viele Israelis bin auch ich an diesem Dienstagabend vor dem Neujahrsfest ausser Haus, um letzte Besorgungen zu erledigen. Ich hatte den ganzen Tag kein gutes Gefühl, irgendetwas braute sich zusammen. Das Gefühl wird nicht besser, als gegen Mittag eine Rakete aus dem Libanon etwa 20 Kilometer von mir im östlichen Scharongebiet in eine Autostrasse einschlägt und am späteren Nachmittag eine weitere Rakete wohl knappe zehn Kilometer von unserem Büro im Meer landet. Die zweite Rakete nehme ich mit einem sehr lauten Schlag und starken Detonationswellen wahr. 

Gegen Ende des Arbeitstages werden Meldungen über einen bevorstehenden Angriff aus dem Iran laut, die meisten Mitarbeiter verlassen eilig die Büros. Ich bleibe noch etwas, denn ich muss Lianne bald vom Bahnhof abholen. Danach geht es zu einem Arztbesuch. Während wir beim Arzt warten, bis wir an der Reihe sind, treffen Meldungen über ein schreckliches Terrorattentat in Tel Aviv ein. Zwei Palästinenser aus der Terrorhochburg Hebron erschießen mit einem Maschinengewehr kaltblütig sechs Passanten und verletzen mehrere, vier davon lebensbedrohend.

All dieser katastrophalen Meldungen zum Trotz möchte ich doch noch das in unmittelbarer Nähe der Arztpraxis liegende kleine Einkaufszentrum aufsuchen, um ein Geschenk für unsere Gastgeber des Neujahrsfestessens zu kaufen. Wenige Hundert Meter bevor wir das Einkaufszentrum erreichen, gehen die Luftschutzalarme los. Zuerst schrecken uns mehrere Meldungen im Autoradio auf, dann folgt das Zurren der Handys, schließlich die markdurchdringenden Sirenen vor Ort. Schnell wird klar, dass sich das ganze Land, vom Norden bis zum Süden, unter Attacke befindet. Aufgeregte Passanten rennen, um sich in Schutz zu bringen. Ich fahre noch schnell auf den Parkplatz, lasse das Auto stehen, dann eilen auch Lianne und ich, zusammen mit Dutzenden weiteren Menschen, zum nächsten Schutzraum. Der kleine Raum ist schon völlig überfüllt, doch wir drängen uns hinein. Draußen schrillen die Sirenen wieder und wieder und starke Detonationen lassen die Wände erzittern. Einige Menschen, die den Schutzraum ungeduldig zu früh verlassen, kommen schockiert umgehend wieder zurück. Es wird heiß und stickig in dem kleinen Raum. Eine Frau wurde wohl beim Friseurbesuch unterbrochen, sie hat Haarfarbe und ein Frottiertuch auf dem Kopf. Ein asiatisch aussehender Mann und sein Sohn sehen besonders hilflos aus. Wir erklären ihnen auf Englisch, was los ist, obwohl wir es ja selbst nicht wissen. Einige Kinder weinen. Eine Mutter weint, weil ihre Kinder alleine zu Hause sind.

Wie vorgeschrieben, bleiben wir mindestens zehn Minuten in dem Schutzraum, aber jedes Mal, wenn wir ihn verlassen wollen, ertönen erneut Alarme und der Zehn-Minuten Countdown beginnt von neuem. Als es etwas länger ruhig wird, wagen wir uns wieder ins Freie. Ich habe kein gutes Gefühl und wäre gerne noch länger geblieben, doch Lianne muss dringend auf die Toilette. Wir laufen zum Auto und beschließen, so schnell wie möglich nach Hause zu fahren. Doch kaum sind wir unterwegs, ertönen die Sirenen erneut. Es ist unklar, ob sie aus dem Radio, dem Handy oder vor Ort lärmen, im ganzen Land und auf allen Kanälen schrillen Alarme, es ist ein markdurchdringendes Orchester. Der Himmel wird von unzähligen Objekten und Detonationen hell erleuchtet. Die Raketen scheinen nah, die meisten werden verfolgt von den rotierenden Geschossen der Abwehrsysteme. Menschen kauern unterwegs an Hausmauern. 

Nach kurzer Fahrt wird uns klar, dass Autofahren in dieser Situation keine Option ist. Nach der nächsten Kurve halten wir wieder an und laufen unter eines der Gebäude, wo wir zusammen mit anderen Menschen fragwürdigen Schutz suchen.

In dieser ganzen Zeit haben wir keinen Kontakt mit den Familienangehörigen, alle Verbindungen sind abgebrochen. Als es wieder einige Minuten lang ruhig ist, unternehmen wir einen weiteren Versuch, nach Hause zu fahren. Das Autofahren ist nach wie vor gefährlich, alle fahren viel zu schnell und wild durcheinander. Autos stehen unerwarteterweise am Straßenrand, wo sie von ihren schutzsuchenden Fahrern verlassen worden sind. Als wir zwanzig Minuten später endlich zu Hause eintreffen, bin ich so erleichtert wie schon lange nicht mehr.

Irgendwann kommt das Netz zurück, mehrere Dutzend WhatsApp Nachrichten treffen auf einmal ein.

Eyal ist an eine Hochzeit gefahren, die Alarme haben ihn kurz vor Ashdod erreicht. Die Hochzeit sucht er trotzdem noch auf. Doch anstelle der Hunderten erwarteten Gäste treffen nur etwa 30 Hartgesottene ein.

Auch Sivan, unsere Tochter in Tel Aviv, war an eine Hochzeit eingeladen. Sie brezelt sich zu Hause aufwändig auf, stylt die Haare, zieht ein schönes Kleid an und schminkt sich. Perfekt aussehend bricht sie auf, gelangt aber nur bis ans Ende der Straße, als die Luftschutzsirenen sie zwingen, den öffentlichen Schutzraum aufzusuchen und dort den Abend zu verbringen. Nur einen Katzensprung von ihrer Wohnung entfernt, aber immerhin in glamourösem Look. Dass die Hochzeit ihrer Freundin, die natürlich schon im weißen Kleid in der Festhalle auf die Gäste wartete, ins Wasser fällt, oder besser gesagt, in Feuer und Flammen aufgeht, betrübt Sivan zutiefst.

Itay sucht während dem Grossangriff in Tel-Aviv mit Bekannten Schutz unter verschiedenen Gebäuden und auf der Strasse, denn in dem alten Mehrfamilienhaus, in welchem seine Wohnung liegt, gibt es keinen Schutzraum.

Meine 84-jährige Schwiegermutter verbringt den Abend mit den Nachbarn im gemeinsamen Schutzraum ihres Mehrfamilienhauses, für welchen sie sechs Stöcke hinuntersteigen muss.

Die Alarmmeldungen über Israel



Der weitere Abend verläuft für uns ruhig, abgesehen vom Lärm der israelischen Luftwaffe, die immer wieder über uns hinwegsaust. Das iranische Regime hat fast 200 Raketen innerhalb einer kurzen Zeitspanne auf dichtbevölkerte zivile Ziele in ganz Israel abgefeuert. Dass es nicht Hunderte oder gar Tausende Tote und Verletzte gibt, sondern dass wir alle schlussendlich mehr oder weniger heil in unseren Betten liegen, scheint an ein Wunder zu grenzen. Doch tatsächlich ist das den israelischen Technologien, der Luftabwehr und den Abwehrschirmen verschiedener Sorte zuzuschreiben, unter anderem dem Abwehrsystem "Iron Dome", einer lebensrettenden Einrichtung, in welche enormer Aufwand und Unmengen von Geldern investiert werden und die zu den fortschrittlichsten der Welt gehört.


Heute Abend und in den kommenden zwei Tagen feiern wir das neue jüdische Jahr 5785. Ich wünsche dem jüdischen Volk weitere prosperierende 5785 Jahre hoch zehn, doch vorerst wünsche ich uns allen ein paar Tage Ruhe.


1 Kommentar:

Schreibschaukel hat gesagt…

Uff. Gut, dass ihr alle heil seid - das ist nicht selbstverständlich.