Donnerstag, 30. Dezember 2021

Die Weihnachtsbaumfrage

Seit ich vor 33 Jahren in Israel hängen geblieben bin, habe ich, was Feiertage und Traditionen anbetrifft, verschiedene Phasen durchlebt. Obwohl ich mich im lebensfreudigen quirlig-chaotischen Israel auf Anhieb zuhause fühlte, litt ich in den ersten Jahren an den christlichen Feiertagen an schrecklichem Heimweh. Das plötzlich stillschweigende Ausbleiben von Ostern und Weihnachten in meinem Leben schmerzte mich so sehr, dass ich an diesen Tagen immer entweder furchtbar bedrückt war oder – ganz einfach in die Schweiz reiste.

Später gewöhnte ich mich daran, dass da, wo ich nun lebte, andere Feste gefeiert wurden. Aber Traditionen zu übernehmen, die uns nicht schon in der Kindheit mitgegeben worden sind, ist nicht selbstverständlich. Vor allem, da ich als nicht religiöser und nicht gläubiger Mensch mit Bräuchen und Ritualen im Allgemeinen nicht gerade viel am Hut habe.

Unsere Kinder wuchsen mit religiösen Festen in verschiedenen Rahmen auf, aber obwohl ich zum Judentum konvertiert habe, konnte ich keinen der Feiertage überzeugt vorleben. Die Kinder durften bei den traditionell-religiösen Schwiegereltern alle Feiertage immer sehr intensiv miterleben. Ab und zu feierten wir mit der Familie in der Schweiz Weihnachten. Obwohl ich heute das Judentum zutiefst schätze und ich eine immense Hochachtung und Liebe für das jüdische Volk empfinde, feiern wir bei uns zuhause keine religiösen Feste.
  
An Weihnachten ist mir Chanukka besonders wichtig


Auch wenn mir die jüdischen Feiertage nicht in die Wiege gelegt worden sind, habe ich unterdessen so meine Vorlieben. Yom Kippur mag ich wegen seiner Ruhe und weil das absolute Innehalten aller Aktivitäten so grandios eindrücklich ist. Am meisten schätze ich Chanukka, gerade wegen seiner – im Vergleich zu Weihnachten – Bescheidenheit. Pessach habe ich noch nie gemocht, die vielen Speisevorschriften sind mir ein Graus. Das Lesen der Haggada (Erzählung und Handlungsanweisung für die Zeremonie am Vorabend von Pessach) stehen wir trotzdem bei den Schwägern oder Schwiegereltern jedes Jahr mit der notwendigen Portion Humor bravurös durch.

Im ersten Corona-Jahr (wann war das schon wieder?) bewegte mich die Weltuntergangsstimmung im Lockdown zum ersten mal dazu, Pessach feiern zu wollen. Der Gedanke, dass das Fest hier und heute sang- und klanglos vorbeigehen sollte, während die Juden in der Shoah in den Ghettos und KZs unter infernalen Umständen alles unternahmen, um jüdische Traditionen aufrecht zu erhalten, liess mich nicht in Ruhe. Mann und Kinder verstanden nicht, was in mich gefahren war, aber ich insistierte. So kam es, dass wir uns gerade jetzt, da wir nirgendwo hinfahren und niemanden einladen konnten, zum ersten mal im familiären Rahmen um den Tisch versammelten und nur für uns die ganze Haggada lasen. Die traditionellen Speisen improvisierte ich, denn deren gebräuchliche Zubereitung war mir doch zu umständlich. Ich hatte auch wie immer keine Matzen gekauft, deshalb gab es ganz unkoscher Pittabrot.

Traditionen einfach zu leben, ohne sie zu hinterfragen, so wie es wohl die meisten Menschen tun, die dort leben, wo sie sich mit ihren Vorfahren verbunden fühlen, ist für mich heute keine Option.

Deshalb werde ich während meiner Weihnachtsreise in die Schweiz, von der ich soeben zurückgekehrt bin, die Fragen nicht los. Lichter, Kränze, Weihnachtsbäume, Weihnachtsmärkte, dekorierte Vorgärten und Häuserfassaden, geschmückte Krippen. Die Lichter in der Züricher Bahnhofstrasse, der riesige Weihnachtsbaum im Basler Rathaus. Die Dekorationen verzaubern.
 


Die funkelnden Häuser, Bäume und Strassen sind an den langen dunklen Abenden wunderschön anzusehen. Über Weihnachtsmärkte zu schlendern, Glühwein zu trinken und würziges Gebäck zu essen ohne Fragen zu stellen, fällt leicht. Aber ich werde den fragenden Blick „von aussen“ nicht los. Was bedeutet uns eigentlich die weihnachtliche Lichterpracht? Ist es mehr als nur ein Fest des Konsums? Hat diese gewaltige Inszenierung noch irgendetwas mit christlichen Traditionen zu tun? Dann muss, dem enormen Aufwand und der eminenten Lichterpracht entsprechend, ein Grossteil der Menschen den christlichen Werten zutiefst verbunden sein. Sind die Menschen hier so religiös?

Ich stürze mich in das vorweihnachtliche Menschengetummel. Die Warenhäuser locken mit Kerzen, Kränzen, Zimtduft und luxuriösen Dingen, die niemand braucht. Bei Einbruch der Dunkelheit staunen wir über die prächtig erleuchteten Strassen in der Innenstadt und reihen uns in die Menschenschlange am Eingang zum Weihnachtsmarkt. Später am Abend lese ich beim Weihnachtsguetzliessen in der Zeitung, dass heute im Mittelmeer (wieder) 56 Flüchtlinge ertrunken sind. Weitere mehr als Hundert werden noch vermisst. Ich blättere weiter. Das Mittelmeer ist weit entfernt.

Stille Nacht, heilige Nacht, singen am Weihnachtsabend zuerst die Eltern und Geschwister, dann, stimmungsvoller und selbstbewusster, Mahalia Jackson. Ich kenne die Worte nicht mehr und bewege nur die Lippen. Dieses Lichterfest zu feiern ist mir heute so fremd wie es mir immer noch ist, im September (zum jüdischen neuen Jahr) ein gutes neues Jahr zu wünschen.
 
Die heilige Familie - und ich

Was feiern wir hier, unter diesem Baum, bei dieser Krippe? Weiss das noch jemand? Die Geburt Jesu? Die Entstehung des Christentums? Und diejenigen, die es wissen – glauben sie daran? Haben die christlichen Werte, für die dieses Fest steht, eine Bedeutung für sie? Oder ist es doch nur ein oberflächliches Lichter- und Geschenkeritual? Mir scheint, je weniger religiös und gläubig die West-Europäer werden, je leerer die Kirchen, desto festlicher und üppiger sind die Strassen geschmückt.

Ich will kein Moralapostel sein. Aber in mir bringt dieses gedankenlose Mitschwimmen im Strom etwas zum Brodeln. Wie wäre es, wenn ich in der Schweiz leben würde (und nicht konvertiert hätte): Hätte das Fest für mich einen tieferen Sinn? Etwas, das mehr ist als einige Jahrzehnte Gewohnheit? Stände in meiner Stube ein Weihnachtsbaum? Gar eine Krippe darunter? Würden wir uns beschenken? Nur ein klitzekleines bisschen, wenigstens für die Kinder?

Nach sechs Tagen Weihnachslichtern, -Guetzli und -Liedern hüpfe ich wieder zurück in meinen israelischen Alltag. Hier freue ich mich nicht nur über wärmeres Wetter und Sonnenschein, sondern auch, dass ich mir die Weihnachtsbaumfrage nicht stellen muss.






Dienstag, 28. Dezember 2021

Eine Prise Chaos

Geschrieben im August 2021




Während unseres Urlaubs in der Schweiz dürfen wir eine Woche die Wohnung meiner Schwester hüten. Ein wenig beneide ich meine Schwester um ihre wunderschöne moderne und grosszügige neue Wohnung und ich bin von den praktischen und gut durchdachten Einrichtungen der Wohnanlage fasziniert. 

Die Wohnung liegt im zweiten Stock und als ich eines Morgens Lust auf frische Gipfeli zum Frühstück habe, bin ich verblüfft, wie angenehm logisch und einfach das Leben sein kann: Ich fahre mit dem Lift in die Tiefgarage. Im ganzen unteren Stock riecht es betörend nach frisch gewaschener Wäsche. Im unterirdischen Veloraum nehme ich ein Fahrrad und schiebe es in die Garage. Dort gehen, ohne dass ich einen Schalter betätige, die Lichter an. Ich setzte mich aufs Fahrrad und nähere mich langsam dem Garagentor, welches sich bei meinem Entgegenkommen vollautomatisch öffnet. Nach nur dreissig Sekunden rasanter Fahrt bergab stehe ich im nahegelegenen Volgladen vor der verführerischen Gebäckauslage, die schon ab 6:30 Uhr morgens auf Kunden wartet. Nach einer Minute Velofahrt zurück - jetzt bergauf - nähere ich mich wieder dem Garagentor, welches sich von aussen mit der Fernbedienung öffnen lässt. Ich fahre die Einfahrt hinunter direkt in die Garage, wo bei meinem Eintreffen erneut die Lichter angehen. Das Tor schliesst sich leise hinter mir. Vorbei am Duft der frischgewaschenen Wäsche fahre ich im Lift nach oben und lege nach nur fünf Minuten und ohne geschwitzt zu haben frische Gipfeli auf den Teller.

Bei uns gibt es so etwas Vergleichbares nur in einem der wenigen High-Class Luxuswohntürme in Tel-Aviv, wo eine Wohnung horrende Summen kostet. Oder im Film, wo dann auch noch ein frisch rasierter und gut duftender George Clooney im Bett auf die Gipfeli wartet.




In unserer israelischen Realität für Normalsterbliche hingegen...

Der Supermarkt in unserem Wohnort öffnet zwar schon um 7:30 Uhr, aber erst eine halbe Stunden später wird das erste Gebäck in den Ofen geschoben. Das spielt auch keine Rolle, denn es ist pampiges Margarinegebäck, auf welches es sich nicht zu warten lohnt. Ich habe kein Fahrrad mehr, seit meines vor einigen Jahren gestohlen worden ist. Mein Wagen steht meistens auf der unserem Haus gegenüberliegenden Strassenseite an der prallen Sonne. Das Thermometer im Wageninnere steigt in den Sommermonaten ab 8 Uhr morgens auf über 40 Grad und wenn ich irgendwohin fahren will, reisse ich zuerst alle Türen und Fenster auf und lasse die Klimaanlage einige Minuten volle Stärke laufen. Erst dann kann ich ohne sofortige Erstickungsgefahr die Türen schliessen. Trotzdem versuche ich, auf den ersten paar Hundert Metern Fahrt das Lenkrad nicht zu berühren, denn ich will ja keine Verbrennungen riskieren.

In unserer Strasse herrscht seit Jahren katastrophaler Parkplatzmangel. Fast alle Familien mit älteren Kindern sind im Besitz mehrerer Wagen, denn der öffentliche Verkehr ist unbrauchbar. Parkplätze gibt es nur am Strassenrand.

Sobald ich wegfahre, macht sich unser rücksichtsloser Nachbar daran, seinen ganzen Fahrzeugpark so umzuparken, dass zwischen jedem seiner Wagen genau dreiViertel aber kein ganzes Auto Platz haben, so dass garantiert keiner der anderen Bewohner in unserer Strasse einen Wagen auf „seiner“ Strassenhälfte abstellen kann. Wenn später seine Frau oder eines seiner zahlreichen Kinder heimkommen, rückt er alles etwas zusammen, um seinen Liebsten Platz zu machen.

In der Bemühung, etwas mehr Ordnung und Struktur in das Parkplatzproblem in unserem Quartier zu bringen, bemalt eines Tages ein Gemeindeangestellter überraschend die Bordsteinkante entlang unserer Strasse mit rot-weissen Markierungen. Nun ist das Parkieren hier ab sofort verboten. Das ist natürlich keine Lösung, so lange es keine alternativen Parkplätze gibt. Mein Mann ruft deshalb umgehend den Gemeindepräsidenten an und erklärt diesem nachdrücklich, dass er ihn nicht gewählt hat, damit wir später vor unseren Häusern Parkbussen bekommen. Am nächsten Tag werden die rot-weissen Bordsteinkanten wieder weiss übermalt und die Geschichte mit dem rücksichtslosen Nachbarn wiederholt sich ins Unendliche.

Deshalb fahre ich für mein Frühstück nirgendwo hin, weder mit dem Fahrrad und bestimmt nicht mit dem Auto. Ich esse Joghurt aus dem Kühlschrank und keine frischen Gipfeli. Das ist allemal gesünder.



Bei uns in Israel ist vieles mühsahm und chaotisch – aber es fehlt uns nichts. Wir haben alles, das wir zum Leben brauchen und mehr. Und doch kommen wir Israelis in der Schweiz aus dem Staunen nicht heraus. Die Auslagen in den Supermärkten – diese Vielfalt! Und erst die Autos! Die neuesten und teuersten Modelle, es glänzt wohin man nur guckt! Das Niveau der Dienstleistungen macht uns sprachlos. Züge fahren auf die Minute genau! Der Postautofahrplan ist auf den Zugfahrplan abgestimmt! Das sollte eigentlich eine grundlegende Selbstverständlichkeit sein, aber bei uns scheinen Fahrpläne irgendeiner höheren unvorhersehbaren Gewalt zu unterliegen. Der PCR-Test im Gesundheitszentrum wird so speditiv und zuvorkommend abgewickelt, dass man sich als Tourist in einer Traumwelt wähnt. Der Eincheckschalter im Flughafen Zürich liegt gleich neben dem Bahnperron, so dass man keine Koffer schleppen muss. Wie logisch! Man kommt ohne Schlangestehen sofort dran – wie ist das nur möglich? Die Liste unserer Staun-Momente könnte unendlich weitergeführt werden.

Die Schweiz ist ein Land mit höchster Lebensqualität. (Fast) alles ist perfekt durchdacht, organisiert und strukturiert und deshalb frappant einfach und angenehm.

Immer wieder schauen wir uns unterwegs staunend an. Das angenehme und bequeme Leben ist verführerisch. Aber – was macht diese perfekte Infrastruktur mit den hier lebenden Menschen? Was passiert mit uns, wenn das Staunen zur Gewohnheit übergeht? Ist es nicht alles ein bisschen zuviel des Guten? Hängt einem die (fast) hürdenfreie Grundeinrichtung und das schlaraffenlandähnliche Versorgungsnetz nicht irgendwann zum Hals heraus? Möchte ich dreimal am Tag Eiscrème mit Schlagrahm essen – täglich, auf alle Ewigkeit?



Ich weiss nicht, woran es liegt, aber gleich nach der Landung in Tel-Aviv fühle ich mich auffällig frei und leicht, mir fällt eine zentnerschwere Last von den Schultern. Ich kann ganz gut leben mit etwas weniger Reichtum, Ordentlichkeit und Perfektionismus – und einer kräftigen Prise Chaos.


Rückblick

Als ich mich – soeben von einer Reise in die Schweiz zurück in Israel – daranmache, einen weihnachtlichen Blogbeitrag zu verfassen, entdecke ich einen Artikel, den ich im August geschrieben aber nicht veröffentlicht habe. Abgesehen vom Wetter ist er immer noch aktuell. Deshalb stelle ich in jetzt hier ein, damit sie, liebe Leser, in diesen etwas ruhigeren Tagen etwas zum Lesen haben, während sie auf meinen aktuelleren „Reisebericht“ warten.

Mittwoch, 14. Juli 2021

Proportionen


Urlaub bedeutet für mich immer auch Stress. An was man alles denken muss! Die vielen Vorbereitungen! Die Reservationen, letzte Besorgungen, das Haus und der Garten wollen versorgt sein. Auch Vorfreude ist eine Art Stress, wenn auch positiver Art. Es ist wahr, dass man ein Leben erstreben sollte, von dem man gar keinen Urlaub braucht. Aber davon träume ich bis anhin nur. Aussteigerabsichten, die täglich aufgeschoben werden.

Noch mehr als der bevorstehende Urlaub bereitet mir ein Projekt an der Arbeit schlaflose Nächte. Ein Projekt, das viel zu gross ist für mich. Und das viel zu schnell vorangetrieben wird. Ja, das eigentlich in vollem Karacho gegen die Wand getrieben wird. Die Katastrophe ist absehbar. Trotzdem gebe ich mir grosse Mühe, mein Bestes daranzugeben. Und mir dabei immer wieder klarzumachen, dass die Verantwortung für das neue Dokumentensystem nicht alleine auf meinen Schultern liegt.

Aber nachts entziehen sich die Gedanken meiner Kontrolle. Dann liege ich wach, weil die Bedenken und Zweifel in meinem Kopf wilde Reigen tanzen und den Schlaf fernhalten.

Erst beim Laufen am Morgen werden die Sorgen wieder übersichtlich und unscheinbar.

Heute Morgen führt meine Laufrunde einmal mehr zum Friedhof am entfernten Ende unseres Nachbardorfes. Ich mag diesen Ort der letzten Ruhe, der mit wunderbarer Aussicht auf einer kleinen Anhöhe liegt. Umgeben von schattigen Hainen und Feldern, die je nach Jahreszeit bestellt werden, hat dieser Ort – besonders zu früher Morgenstunde – eine besondere Ausstrahlung. An den hinteren Teil des Friedhofs grenzend liegt ein kleines Naturschutzgebiet, das von hohem Schilf überwachsen für Menschen unbegehbar ist. Vielleicht tanzen dort nachts die toten Seelen. Jetzt quaken Frösche ihr lautes Morgenkonzert. Es wird ein heisser Tag. Die sich bis zum Horizont ausdehnenden Felder liegen im Dunst. Heute setze ich mich auf eine Bank und schaue über die Gräber hinweg der aufgehenden Sonne zu.

Eines Tages wird auch an mich nur noch ein Stein mit eingraviertem Namen erinnern. Die Sonne wird wohl weiterhin jeden Morgen aufgehen. Die Erde wird sich weiter drehen (Vielleicht... Wer weiss, so wie es im Moment mit dem Klimawandel und den Pandemien aussieht, scheint das System doch ziemlich aus dem Gleichgewicht geraten zu sein). Niemand wird mehr an mich denken, ausser vielleicht meine Liebsten.

Mit dieser altbekannten Erkenntnis, die ich mir ab und zu erneut vor Augen halten muss, mache ich mich auf den Heimweg. Mit neuen Kräften, das Projekt an meiner Arbeit gar nicht so wichtig zu nehmen. Mit dem Vorsatz, mir immer wieder zu vergegenwärtigen, dass ich nur ein winziges Rädchen in diesem grossen Ganzen bin. 
Und den Urlaub werde ich, wenn der Vorbereitungsstress erst vorbei ist, so richtig geniessen!

Dienstag, 22. Juni 2021

Pfeffer und Salz

Manchmal schreibt das Leben Geschichten, die die empfohlene Länge für einen Blogartikel sprengen. Wenn Sie jedoch wissen möchten, wie verrückt das Leben in Israel sein kann, dann lesen Sie trotzdem.


Etwa ein halbes Jahr nachdem sie eingezogen worden ist, bestätigt sich, was Lianne schon vermutet hatte: Die Aufgabe, die der jungen Soldatin im Überwachungszentrum der Marine zugeteilt worden ist, ist enttäuschend. Das stundenlange auf-den-Bildschirm-Glotzen ist langweilig, es entspricht weder ihrer Persönlichkeit noch ihren Fähigkeiten. Auch das Verhältnis mit den neuen Freundinnen, mit denen sie nun ihre Tage und Nächte verbringen muss, ohne sich auch nur eine Minute zurückziehen zu können, ist noch alles andere als vertraulich.

Aber daran ist nichts zu ändern. Es gilt, in den zwei Jahren, die sie für den Staat Israel opfern muss, das Beste aus den gegebenen Umständen zu machen. Immerhin absolviert sie ihren Dienst in Eilat, der Touristenstadt am roten Meer. Das hatte sie so gewünscht – auch wenn für die Hin- und Herreise in die 360 Kilometer (das entspricht in Europa ungefähr der Strecke Mulhouse-Mailand) entfernte, im südlichsten Zipfel Israels liegende Stadt ein beachtlicher Teil ihres Urlaubs draufgehen wird .

Die jeweils zwei Wochen bis zum freien Wochenende verlaufen zäh. Am Anfang meist noch gutgelaunt, schlägt ihre Stimmung jeweils in der Halbzeit im „Gefängnis“ um. In der zweiten Woche wird ihre Stimme am Telefon leiser und bedrückter und oft tränenerstickt. Lianne braucht die Wochenenden zu Hause dringend, um sich von der Anspannung zu befreien und wieder Energie zu schöpfen.
Aber auch hier ist ihre persönliche Meinung nicht gefragt. Immer wieder stösst sie an ihre Grenzen, immer wieder müssen diese noch weiter ausgedehnt werden. Aber mit allem Schmerz, auch für die Eltern – Ich bin dem israelischen Militär zutiefst dankbar, dass alles, das wir in der Erziehung unseres etwas verwöhnten Nesthäkchens falsch gemacht haben, in wenigen Monaten im Schnellverfahren auskuriert worden ist. In den Wochen seit ihrem Einrücktermin haben wir mitverfolgen können, wie sich das unerfahrene, fast noch kindliche Mädchen in eine willensstarke und selbständige junge Frau verwandelt hat. Wir Eltern hätte das nie so gründlich hingebracht!


Korvetten INS Magen und INS Oz in Eilat

Auf das verlängerte Feiertagswochenende Mitte Mai freute sich Lianne erwartungsgemäss besonders. Die Aussicht auf Urlaub hielt sie bei Kraft, die Tage zu bewältigen – trotz schikanierenden Befehlen, ermüdenden Nachtschichten, anstrengenden Prüfungen und nervenaufreibenden Auseinandersetzungen mit den Kolleginnen.

Doch die Hamas machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Dann folgten auf die Eskalation des Raketenterrors aus dem Gazastreifen auch noch pogromartige Ausschreitungen israelischer Araber. Arabische Städte und Straßen, die an arabischen Ortschaften vorbeiführen, wurden im ganzen Land über mehrere Tage hinweg zu lebensgefährlichen Fallen. Auch die arabisch-jüdisch gemischten Städte wurden von Ausschreitungen erschüttert. Wer nicht auf die Strasse musste, blieb zu Hause. Kaum waren die Corona-bedingten Einschränkungen gelockert worden, hatte wir nun erneut Hausarrest.
Mit dem öffentlichen Verkehr zu reisen war gefährlich, besonders für Soldaten in Uniform. Dann wurde, was Anfang Woche nur eine böse Vorahnung war, bald zur schrecklichen Tatsache: kompromisslose Ausgangssperre für Soldaten! Die fünf Tage heiss ersehnter Feiertagsurlaub hatten sich für Lianne soeben in Luft aufgelöst.
Grenzenlos enttäuscht schluchzte Lianne am Mittwochabend ins Telefon. Sie war am Ende ihrer Kräfte, konnte kein Fünkchen Licht mehr sehen im Dunkel ihres Elends. Aber schon im Verlaufe des Donnerstags versuchte sie sich so gut wie möglich mit ihrem traurigen Schicksal abzufinden. Sie konsultierte mich – immer wieder von Weinanfällen geschüttelt – mehrere Male als Fachfrau für Wäschesortieren und Waschmaschinenbedienung.
Während Lianne sich im fernen Eilat daran schickte, für frisch gewaschene Uniformen und Unterwäsche zu sorgen, nahmen die Katastrophen anderweitig ihren Lauf. 
Aus dem Gazastreifen wurden weiterhin hunderte Raketen täglich nach Israel gefeuert. 
In den gemischt jüdisch-arabischen Städten randalierte wütender Mob auf den Strassen.

Und – mein schon lange unheilbar kranker Schwiegervater wurde am Morgen desselben Tages nach einem Herzinfarkt ins Spital eingeliefert. Er war nicht mehr bei Bewusstsein und wir befürchteten das Schlimmste. Schweren Herzens informierten wir unsere Kinder und Lianne bemühte sich um eine Sonderbewilligung, um trotz Ausgangssperre nach Hause zu reisen. Nach dem zu erwartenden bürokratischen Hin und Her hielt sie gegen Abend den befreienden Fackel (=offizielles Schreiben, schweizerdeutsch) in den Händen. Sie musste sich jedoch verpflichten, auf keinen Fall die öffentlichen Verkehrsmittel durch die Negev-Wüste zu benutzen. Dafür wollte der Vorgesetzte bei der gegenwärtigen Situation keine Verantwortung übernehmen, die Reise musste per Flug erfolgen. Das war an sich kein Problem, Flugtickets sind für Soldaten ermässigt und absolut erschwinglich. Aber ich muss gestehen, als Lianne um 18:15 die Erlaubnis erhielt, nach Hause zu reisen, glaubte ich nicht, das sie es auf den letzten Flug um 19:30 Uhr nach Tel-Aviv schaffen würde. Sie hatte ja noch nicht mal ein Ticket und bei der zentralen Nummer der Fluggesellschaft beantwortete niemand mehr das Telefon.


Aber dem kleinen Mädchen, das vor knapp einem Jahr noch zu unsicher war, um mit dem Bus von unserem Wohnort in die Nachbarstadt zu fahren, waren nun Flügel gewachsen. Sie schaffte es in einer knappen Stunde, ihre Siebensachen in die Tasche zu schmeissen, mit dem Taxi zum ausserhalb der Stadt liegenden Flughafen zu fahren, den Taxifahrer zu überzeugen, dass die letzten Shekel Bargeld in ihrem Besitz als Entgelt genügen mussten, am Schalter mit der Kreditkarte ein Flugticket zu kaufen und – abzuheben....

Aber mit der Landung im Flughafen Ben-Gurion fing die wahre Odyssee erst an. „Mein Etui mit dem Militärausweis und der Kreditkarte ist verloren gegangen...“, flüsterte Lianne völlig erschöpft ins Telefon. Eine Kreditkarte zu verlieren ist lästig, aber keine grosse Katastrophe. Ganz anders verhält es sich mit dem Militärausweis. Bei dessen Verlust droht ein Gerichtsverfahren und eine Gefängnisstrafe. Jeder Soldat ist darauf gedrillt, seinen persönlichen Ausweis wie seinen Augapfel zu hüten. Na ja, immerhin fast jeder.
Das Flughafenpersonal aber machte – nach dem letzten Flug eines langen Arbeitstages – kein grosses Aufheben um ein verlorenes Etui. Ob die Putzmannschaft, die nun das Flugzeug reinigte, wirklich danach suchte, werden wir wohl nie in Erfahrung bringen. Der Ausweis war unauffindbar. Und der letzte Shuttlebus zum Flugbahnhof und die geplante Bahn nach Hause unterdessen verpasst. Erst weitere Tränen bewegten das Personal dazu, speziell für Lianne doch noch einen Shuttlebus zu organisieren. Jemand gab der erbärmlich schluchzenden Soldatin, die die IDF alles andere als würdig repräsentierte, einige Shekel für die Bahn – da ja Kreditkarte weg und bargeldlos.

Die Fahrt im privaten Shuttlebus in der Dunkelheit, nur der Fahrer und eine übermüdete Soldatin mit tränenverquollenen Augen muss wohl an sich schon absurd gewesen sein. Dann erfolgte der Supergau: Luftschutzalarm! Aus dem Gazastreifen hatte die Hamas Raketen mit Ziel Ben-Gurion Flughafen abgefeuert. Alle Flughafenbesucher mussten in weniger als einer Minute den Schutzraum aufsuchen. Jetzt liess der Chauffeur den Tacho nach oben krachen und legte den Bus quietschend in die Kurven. Im Terminal stürzten die beiden Schicksalsgenossen aus dem Bus und folgten den aufgeregten Anweisungen des Sicherheitspersonals in den Schutzraum im Untergeschoss des Flughafens, zusammen mit Dutzenden weiteren um ihr Leben bangenden Reisenden.

Dass Lianne nach der Entwarnung im weitläufigen Flughafengelände noch verloren ging, ist nun schon fast nicht mehr erwähnenswert. Schlussendlich fand sie dank hilfreicher Menschen zum Ausgang zurück. Dort warteten WIR auf sie. Die WhatsApp-Meldungen hatten sich zu überschlagen begonnen und wurden immer verwirrender, also setzten wir uns spontan ins Auto und fuhren zum nicht gerade in unserer Nähe liegenden Flughafen.
Für die nachfolgenden Zeilen wird man wohl in Europa kaum Verständnis aufbringen können, aber in Israel sind sie bittere Realität. In diesen Tagen herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. An bestimmten Orten konnte es lebensbedrohlich werden, Menschen waren gelyncht worden. Also fuhren Eyal und ich, für alle Fälle gewappnet, gemeinsam an den Flughafen: Ich am Steuer, er mit der – nach seiner Offizierslaufbahn im israelischen Militär rechtlich erworbenen – Pistole in Griffbereitschaft.


Schlussendlich war Lianne sicher zu Hause angekommen. Sie hatte nach den Erlebnissen der letzten Tage keine Tränen mehr und plumpste erschöpft ins Bett. Glücklicherweise wurde ihr Militärausweis am nächsten Morgen im Flughafen Eilat gefunden.
Mein Schwiegervater lag einige Tage unverändert im Koma. Lianne erholte sich zu Hause von den Strapazen und wurde wieder im Dienst erwartet. Auch für die Rückreise wählte sie den Luftweg, das war am einfachsten, um den am Flughafen in Eilat hinterlegten Ausweis abzuholen.

Während Lianne zurück nach Eilat flog, trat Eyals Vater seine letzte Reise an. 

Y.L., sel. A.

Die Nachricht über den Tod ihres Grossvaters erreichte sie kurz nach der Landung. Lianne hatte gerade Zeit, eine Runde in der Militärbasis zu drehen, um erneut eine Sonderbewilligung einzuholen. Dann machte sie sich umgehend auf den Rückweg nach Norden. Diesmal reiste sie mit Bus und Zug und ich konnte sie um Mitternacht in Tel-Aviv von der Bahn abholen. Sie war an einem Tag einmal Eilat retour gereist, um am nächsten Morgen an der Beerdigung teilzunehmen.


Beim erneuten Durchlesen obiger Zeilen erschrecke ich selbst. Welche Rabenmutter setzt ihre Kinder solch absurden Gefahren und Situationen aus? Noch dazu, wenn sie einen Schweizer Pass in der Tasche hat? 

Wir hätten ein ruhiges Leben haben können. Manchmal sehne ich mich danach. Aber ich sehe auch mit Genugtuung die selbstbewussten, lebensfrohen, aufrechten jungen Menschen, die Israel und auch wir in unserer Familie hervorgebracht haben. Erfahrungen, seien sie erfreulich, erschreckend, beängstigend, erschütternd – sind letzten Endes bereichernd. Sie sind das Pfeffer und Salz in unserem Leben. Dann noch etwas Sonne, Meer, Dattelpalmen und Wassermelone dazu – und es ist gut so. 

Irgendwann wird auch Frieden sein, aber vielleicht erst in einem anderen Leben.

Sonntag, 13. Juni 2021

Wenn man eine Lüge oft genug wiederholt...

Auf diesem Blog geht es meist leicht bis seicht und manchmal lustig zu. Die nachstehenden Zeilen sind etwas weniger unterhaltsam. Bitte lesen Sie aber deswegen nicht weg. Es liegt mir am Herzen.

Man sollte sich als Israeli wirklich einen Deut um die Presse in Europa scheren. Der weitverbreitete und stillschweigend allgemein gängig gewordene Anti-Israelische Ton bereitet nichts als Ärger. Fast jedes Stückchen Information, jeder Artikel, jeder Leserbrief ist für mich so entmutigend und niederschmetternd wie eine Ohrfeige vor einem Publikum, in welchem keiner sich rührt. Leider haben viele europäische Medienkonsumenten gar keine Ahnung, mit welchen Zerrbildern oder Lügen sie abgefüttert werden. Ich weiss das alles – und tappe doch immer wieder in dieselbe Falle.

Über Facebook gerate ich an ein kurzes, trendiges und spassig aufgemachtes Video von Galileo, dem Wissensmagazin des Privatsenders ProSieben. Zehn Fragen an einen Palästinenser. In knapp zehn Minuten werden dem palästinensischen Kaffeebesitzer Nidal in Berlin zehn Fragen gestellt. Von einem Wissensmagazin erwarte ich objektive Berichterstattung, deshalb mache ich mich guter Hoffnung daran, mich weiterzubilden. Umso unverfrorener werden mir umgehend Lügen, Unterlassungen und Ungereimtheiten um die Ohren geschlagen. Zunehmend verärgert und schockiert höre ich mir trotzdem alle zehn Fragen und Antworten an. Ach, ich weiss – das Video, das wichtige Informationen einfach weglässt und den Palästinenser unverschämt in die Kamera lügen lässt, ist nur ein verschwindend kleines Tröpfchen in einem Meer von verzerrten Berichten und Falschinformationen – und doch lässt es mir nun keine Ruhe.

Bei der zweiten Frage „Was ist so wichtig an Jerusalem?“ wird von der Moderation folgende simplifizierte Hintergrundinformation eingeblendet, untermalt von einer geografischen Skizze: „Bei der Gründung Israels 1948 wird Israel geteilt, ins israelische Westjerusalem und ins arabische Ostjerusalem, das Israel 1967 annektiert“. Auf der eingeblendeten Karte wird zur Versinnbildlichung grafisch aufgezeigt, wie sich Israel in den arabischen Teil Jerusalems ausweitet und sich diesen 1967 skrupellos einverleibt.

Der Satz lässt nicht viele Interpretationen offen, er stellt als unanfechtbare Tatsache dar, dass sich Israel 1967 das arabische Ostjerusalem aneignet und das ist – so ist jedermann klar – eine niederträchtige Aktion. Schliesslich hat das palästinensische Volk auch Recht auf ein bisschen Land, nicht wahr?

Aber – wohin sind eigentlich in der Erklärung die Jahre 1948 bis 1967 verschwunden? Warum wird mit keinem Wort erwähnt, wie es genau zum arabischen Ostjerusalem gekommen und was dort in den Jahren bis zum Sechstagekrieg passiert ist?

Fakt ist: Der ursprüngliche UN-Teilungsplan beinhaltete die Beendigung des britischen Mandats über Palästina und sah eine Zwei-Staaten-Lösung vor: Einen Staat für Juden und einen für Araber, wobei Jerusalem unter internationale Kontrolle gestellt werden sollte. Die Araber waren damit NICHT einverstanden und sechs arabische Staaten griffen den soeben ausgerufenen jungen Staat Israel an. Nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 besetzte Jordanien Jerusalem bis 1967. (Hier muss noch angefügt werden, dass die arabische Bevölkerung Jordaniens zu etwa 60% aus Arabern palästinensischer Abstammung besteht, dass also Jordanien eigentlich ein palästinensischer Staat ist.)

In den 19 Jahren jordanischer Besetzung Jerusalems wurde Juden der Zugang zu allen jüdischen religiösen Stätten verboten, sie wurden aus der Stadt vertrieben oder in Gefängnisse gesperrt. Synagogen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört und alle Nichtmuslime – auch Christen – wurden absichtlich und hartnäckig verfolgt und diskriminiert. Nach der Vertreibung der jüdischen Bewohner der Altstadt erlaubte Jordanien arabischen muslimischen Flüchtlingen, sich im verlassenen jüdischen Viertel Jerusalems niederzulassen. Mehr dazu hier.

Soviel zu den 19 Jahren, die im schnittigen Galileo-Video einfach weggelassen werden. Mehr muss man dazu nicht sagen. Mir stehen von dieser stillschweigenden Weglassung die Haare zu Berge.

Seitdem Israel im Sechstagekrieg 1967 die Jerusalemer Altstadt von der jordanischen Besetzung befreite und Jerusalem zu Gross-Israel gehört, werden die muslimischen Heiligen Stätten vom Waqf, einer islamischen Stiftung, verwaltet und die Benutzung dieser Stätten ist für jüdische Gebete (weiterhin) verboten. Aber sonst können die Muslime, die verschiedenen christlichen Gruppierungen und alle religiösen Minderheiten (Tscherkessen, Drusen, usw.) ihre Religionen in der Jerusalemer Altstadt ohne Einschränkungen ausüben.

Dadurch, dass diese – und viele weitere wichtige Informationen – in dem Video weggelassen und verzerrt oder falsch dargestellt werden, entsteht einmal mehr der Eindruck, dass Israel der böse Aggressor und die Palästinenser die eigentlich friedliebenden armen Opfer sind.

Ich weiss, viele Menschen in Europa haben die Antisemitismus-Keule satt. Dabei schreit es zum Himmel, wie sehr die Lügen, Unterlassungen und Falschinformationen in den europäischen Medien der antijüdischen Propaganda ab 1933 ähnlich sind – in neuer, moderner, abgewandelter und der Zeit angepassten Form. Schon Goebbels soll ja gesagt haben: „Die Wahrheit ist der Todfeind der Lüge, und daher ist die Wahrheit der größte Feind des Staates. Wenn man eine große Lüge erzählt und sie oft genug wiederholt, dann werden die Leute sie am Ende glauben.“

Liebe Leser, wenn Sie wirklich Interesse an den Hintergründen des Nahostkonflikts haben und sich eine Meinung bilden möchten, besuchen Sie Israel, besuchen Sie auch die palästinensischen Gebiete, meinetwegen den Gazastreifen. Sprechen Sie mit ortsansässisgen Menschen, lesen Sie israelische und arabische Zeitungen. Informieren Sie sich über die historischen Begebenheiten. Wenn all das nicht im Bereiche ihrer Möglichkeiten liegt, suchen Sie sich bitte ein anderes Interessengebiet. Spielen Sie Golf, lernen Sie Stricken. Aber konsumieren Sie um Himmels willen keine europäischen Medien zum Thema Nahostkonflikt!

Freitag, 14. Mai 2021

Das Bombenteam


Nach dem letzten Meeting im Büro breche ich umgehend auf zum abgemachten Treffpunkt. Ich bin müde nach dem langen Arbeitstag, freue mich aber doch auf ein erstes Wiedersehen mit Freundinnen nach der Corona-Pause. Wir treffen uns im "Kaffee und Meer", über welches ich früher schon berichtet habe. Es gibt viel zu erzählen. Die Kinder sind schon erwachsen, bereiten uns aber immer noch Sorgen. Eine Freundin lässt sich scheiden, sie hat gerade eine eigene Wohnung gekauft. Wir trinken Wein und lachen, alles mit Blick auf die sich im Meer ertränkende Sonne. Allzu erleichtert über die neue Normalität sind wir aber nicht, denn die letzten Tage waren unruhig. Im Süden hatte die Hamas wieder vermehrt Raketen aus dem Gazastreifen abgeschossen, in Jerusalem soll wütender Mob auf den Strassen sein Unwesen treiben.



Kurz nach Sonnenuntergang ziehen wir von den improvisierten Campingstühlen an einen endlich frei gewordenen Tisch um. Als kurz darauf das markdurchdringende Heulen losgeht, schauen wir uns nur für den Bruchteil einer Sekunde verständnislos an, dann ist allen sofort klar, was los ist. Vor Sekunden noch gemütlich auf Strandstühlen und Decken sitzend, ist nun jedermann unmittelbar auf den Beinen, vor allem die Eltern mit Kindern. Wir älteren reagieren etwas langsamer und bleiben gelähmt sitzen, atemlos wartend was nun folgen würde. Wenige Sekunden später geht das Spektakel am Himmel los. Feuerwerk in allen Richtungen. Die Sirenen ertönen sowohl aus dem Norden als auch aus dem Süden. Hier auf der Klippe am Meer haben wir ungestörte Sicht auf die gesamte Katastrophe, die sich im Luftraum über den naheliegenden Ortschaften ausbreitet. 
Die Chance, dass uns hier eines der Geschosse treffen würde ist gering, aber sie besteht. Ob wir wohl alle fünf unter dem schweren Holztisch Platz finden, wenn nötig? Wo sollten wir hin, um Schutz zu suchen? Wären wir unterwegs sicherer? Oder Zuhause? Nun sind auch wir auf den Beinen. Aber keine der Fluchtalternativen, die wir uns erdenken, scheint Sicherheit zu garantieren. Wir werden das Bombenspektakel notgedrungen von hier verfolgen. Alle hängen am Telefon oder in den Familien-WhatsApp. Über Tel-Aviv – so ungefähr in der Richtung des Ortes, wo meine Tochter gerade arbeitet – ist der Himmel von den Riesen-Sternschnuppen hell erleuchtet. In nördlicher Richtung – Netanya – mehr oder weniger dasselbe. Dort ist Eyal. Starke Detonationen und Sirenengeheul durchdringen Mark und Bein. Leute rufen durcheinander. Nach langen Minuten wird es ruhiger, aber an ein Gespräch ist nicht mehr zu denken. Wir bestellen mehr Wein und setzten uns wieder hin. Alle reden laut durcheinander und telefonieren mit Familienmitgliedern. Die meinen sind alle in Sicherheit, das weiss ich nach einigen Anrufen. Kurz darauf fängt das Geheule und das Feuerwerk von neuem an. Und das noch mehrere Male, über eine längere Zeitspanne. Die Inhaber des Getränkekiosks haben unterdessen aufgeräumt und die Kasse geschlossen, verteilen aber noch den restlichen Wein. Von Gesprächen mit Angehörigen und den wenigen hier noch Anwesenden werden Behauptungen laut, dass es Einschläge in Netanya und sogar in meinem Nachbardorf gegeben haben soll. Aber im Moment herrscht nur ein heilloses Durcheinander und niemand weiss Genaueres.

Mehr als eine Stunde später scheint sich die Lage beruhigt zu haben. Das gemeinsame Durchstehen dieser Schreckmomente hat uns Freundinnen auch nach der längeren Pause in minutenschnelle wieder zusammengeschweisst. Deshalb bleiben wir noch länger im Dunkeln sitzen, auch als die letzten Gäste verschwunden sind, der Getränkekiosk weggefahren und es plötzlich gespenstig ruhig ist. Dann brechen auch wir endlich auf.

Als wir uns verabschieden richtet eine der Freundinnen eine neue WhatsApp-Gruppe ein. Wir möchten uns in nächster Zeit wieder öfter treffen, nun, da ja nach Corona alles wieder beim Alten ist. Die WhatsApp-Gruppe bekommt den Namen „das Bombenteam“.


Diese Zeilen sind die Wiedergabe eines Schreckmomentes, so wie ich ihn am vergangenen Dienstagabend erlebt habe. Zu den weiteren Geschehnissen in Israel in diesen Tagen und den Hintergründen kann ich gerade nichts schreiben. Es ist alles zu viel, um es irgendwie zu verarbeiten.




Sonntag, 18. April 2021

Kein Spaziergang




„Zu Fuss nach Jerusalem“ – ich bin sofort Feuer und Flamme, als ich dieses Buch in den Händen halte und den Klappentext lese. Eine Pilgerwanderung von der Schweiz nach Jerusalem! Ich bin hingerissen – was für ein grossartiges Unternehmen! Wenn man Corona-bedingt nicht fliegen kann... Warum nicht einfach gehen? Zu Fuss an sein Ziel zu gelangen wäre aber nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern ein sinnvolles Lebensereignis, eine tiefgreifende Selbsterfahrung. Denn – es wohnen ja zwei Seelen, ach! in meiner Brust: eine schweizerische und eine israelische. Wandernd den Weg und die Distanz zwischen den beiden Ländern zu erfahren! Zu Fuss eine Verbindung zwischen meinen beiden Heimaten zu schaffen! Ich bin voll und ganz von der Idee begeistert. Noch während ich die Einleitung lese möchte ich sofort meine Kollegin, die Reiseleiterin, anrufen und sie bitten, mich auf dieser Reise zu begleiten und alles Notwendige in die Wege zu leiten. Schliesslich steht auch sie mit einem Fuss in der Schweiz und dem anderen hier in meinem israelischen Nachbardorf. Und auch sie ist eine leidenschaftliche Wandererin. Aber im Gegensatz zu mir kann sie Karten lesen und sehr gut organisieren. Natürlich würden wir in umgekehrter Richtung gehen: ab Israel zu Fuss in die Schweiz. Die Route über Syrien, die Türkei und Osteuropa bis in die Schweiz ist auf den inneren Buchdeckeln detailgetreu abgebildet. Wir müssten fast nur noch den Rucksack packen und loswandern. Ein Jahr Urlaub nehmen für dieses Unterfangen – oh ja bitte, das käme jetzt gerade zur rechten Zeit! Sollen sich doch die undankbaren Idioten im Büro endlich selbst um ihren Kram kümmern. Für mich ist es jetzt wirklich höchste Zeit, etwas Sinnvolles zu unternehmen, anstatt meine wertvollen Tage zu verplempern.

Als ich zu lesen beginne, stellt sich nach wenigen Seiten die Ernüchterung ein. Tagelanges monotones Gehen an lärmenden Autostrassen entlang. Über Leitplanken klettern, um mehrspurige Verkehrsknoten zu überqueren. Durch schmutzige Industriegebiete und triste Vorstädte marschieren. Das ist nicht eine erquickende Wanderung auf wildromantischen Naturwegen. Je weiter entfernt von Europa desto spärlicher werden die Übernachtungsmöglichkeiten. Sogar das Angebot an käuflichen Esswaren wird problematisch. Und dann das Kriegsgebiet Syrien. Vom Geheimdienst verfolgt und bespitzelt, von kriegserfahrenen Menschen bedroht, die vor nichts mehr Angst haben...

Als der Autor und seine drei Pilgerfreunde in Israel eintreffen und in religiöser Euphorie die heiligen Stätten besuchen, klappe ich das Buch ernüchtert zu. Man muss wohl sehr naiv oder grenzenlos religiös verklärt sein, um sich überhaupt auf so eine Entreprise einzulassen. Beides trifft meines Erachtens auf den Autoren zu. Auf mich aber eher weniger. Schade. Das Unterfangen bleibt ein Traum.

Sonntag, 4. April 2021

Leben danach


Am Schabbat beschliessen Eyal und ich gegen Mittag spontan, nach Jerusalem zu fahren. Jerusalem, die Stadt mit der faszinierenden Ausstrahlung ist immer eine Reise wert und ich war seit Anfang der Pandemie nicht mehr dort. Aber jetzt, bei einer Impfrate von über 60 Prozent und sehr erfreulichen negativen Fallzahlen, herrscht eine frühlingshafte aufregende „Nach-Corona“-Stimmung. Was in anderen (Schweizer) Blogs noch als 1. April-Scherz dargestellt wird, ist bei uns wieder möglich: Die Restaurants und Märkte sind geöffnet, man darf in der Stadt flanieren und sich mehr oder weniger sorglos und unbegrenzt ins Getümmel stürzen.

Knapp zwei Stunden nach unserem spontanen Entschluss finden wir in Jerusalem einen Parkplatz. Dann verlässt mich für einen Moment die Freude auf den Ausflug. Es ist ja immer noch Maskenpflicht! Diskussionen über einen bald möglichen Maskenverzicht sollen zwar schon im Gange sein, aber noch ist es nicht so weit. Ich habe die erstickenden Dinger nie leiden können, vielleicht gerade, weil ich fast nur noch zu Hause weilte und sie ganz selten tragen musste. Und jetzt hier – endlich draussen! – sollte ein Stück Stoff mich davon abhalten, frische Frühlingsluft zu atmen?

Im Schabbat-ruhigen Altstadtnahen Viertel, in welchem wir unseren Ausflug starten, sind über Mittag nur wenige Leute auf der Strasse und hier eine Maske zu tragen wäre doch einfach lächerlich. Ich beschliesse aufmüpfig, dass ich mir die Freude von dieser lästigen Gesichtsbarriere nicht verderben lasse. Es ist endlich an der Zeit, dass wir uns wieder ans maskenfreie Auftreten gewöhnen. Schliesslich bin auch ich vorbildlich geimpft. Ich trage frech Lippenstift auf und stecke die Maske in die Hosentasche, dann ziehen wir los.



Vorbei an der eindrucksvollen russisch-orthodoxen Dreifaltigkeitskathedrale mit ihren goldenen Kuppeldächern marschieren wir in Richtung Altstadt. Bei angenehm kühlem Frühlingswetter ist ein Besuch in dieser Stadt mit ihrem exotischen Flair das Abenteuer, das in diesen Tagen einer Auslandsreise am nächsten kommt.


 
In den engen Marktgassen im arabischen Viertel tümmeln sich erstaunlich viele Leute. Um Touristen kann es sich nicht handeln, aber aus mir unerklärlichen Gründen sind doch viele fremde Sprachen zu hören: Englisch, Russisch, Spanisch. Wir drehen eine Runde durch die Grabeskirche, in welcher heute, einen Tag vor Ostern, eine besonders spirituelle Stimmung zu herrschen scheint.

Aber vom Beten allein kann man nicht leben, also verschlingen wir beim Damaskustor ganz weltlich eine der besten Falafel Jerusalems – obwohl wir noch gar nicht hungrig sind. Die letzten Tropfen aromatischer Tahina aus den Mundwinkeln leckend staunen wir auf dem Gemüsemarkt über frische Kichererbsen, die sich zu dieser Jahreszeit in die Berge von grünen ungeschälten Mandeln reihen, allesamt noch in ihren zartgrünen Hülsen.




Unterwegs in einer der engen Gassen schwillt der Besucherstrom in der uns entgegenkommenden Richtung plötzlich erstaunlich an. Hunderte von Menschen strömen uns entgegen und das Vorwärtskommen wird zum fast unmöglichen Unterfangen. Jetzt wird mir ohne Maske doch etwas mulmig. Viele der uns Entgegenkommenden tragen brav Masken über Mund und Nase, viele aber auch nur nachlässig am Kinn und eine bemerkenswerte Zahl ist so frech wie wir und präsentiert sich mit nacktem Gesicht. Na ja, jetzt ist es wohl eh schon zu spät für den Atemschutz. In dieser leicht bedrückenden Situation rasen mir ungewollt die statistischen Resultate der klinischen Studien für die verschiedenen Covid-19-Impfungen durch den Kopf. Weil mir aber die Zahlen in diesem Moment eher verschwommen und nicht besonders überzeugend erscheinen, sende ich noch ein Stossgebet gen‘ Himmel – dass mich die vielfältigen Götter Jerusalems vor Corona beschützen mögen!

Wir bleiben einige Minuten in einem Ladeneingang stehen und wundern uns, woher die Menschenmassen kommen könnten. Es sind offensichtlich Araber, also kommen sie am Schabbat nicht vom Gebet. Dagegen spricht auch, dass die Gruppe aus mehr als der Hälfte Frauen besteht. Nach einigen Minuten des Wartens und Staunens wird klar, dass der Menschenstrom nicht so bald abbrechen wird. Wir stürzen uns wieder ins Getümmel. Gegen den Strom kämpfen wir uns in Richtung österreichisches Hospiz. Schliesslich erwartet uns dort im wiedereröffneten Café Triest Wiener Melange und Apfelstrudel mit Sahne!

Immerhin - Henkersmahlzeit vor dem eventuellen Corona-Tod









Sonntag, 28. Februar 2021

Endlich frei!

Jedes Alter hat seine guten und schlechten Seiten. Mit 56 sind die Gelenke schon rostig und es fällt etwas  schwerer, vom Sofa aufzustehen. Wenn man aufgestanden ist, hat man oft schon vergessen, wozu. Mit etwas Glück ist man aber doch noch soweit rüstig, um die endlich wiedergewonnene Freiheit zu geniessen.

Dieses Wochenende werden wir die Kinder nur per Videogespräch sehen. Die Älteste lebt in ihrer eigenen Wohnung, der Sohn schon länger in der Schweiz. Die Jüngste verbringt den Shabat in der Armee. Sogar das vierte Kind, ein Mädchen aus dem Internat, welches seit einigen Jahren die Wochenenden bei uns verbringt, fährt zu einer Tante. Mein Mann Eyal ist ziemlich pflegeleicht. Das bedeutet: Niemand braucht etwas von mir! Auch meine eigenen Erwartungen an mich selbst versuche ich herunterzuschrauben. Summa summarum: KEINER ERWARTET IRGEND ETWAS VON MIR. Das ist sensationell!

Die Tochter meines Schwagers hat vor einer Woche ihr drittes Kind geboren. Über die ersten, die Zwillinge, habe ich vor dreieinhalb Jahren geschrieben. Gegen Mittag gehe ich auf einen Sprung bei der jungen Familie vorbei, um einen frischgebackenen Zopf, Erdbeermarmelade und ein Geschenk für die Kinder zu bringen. Als ich eintrete, springen die Jungs, die wohl gerade geduscht haben, splitternackt und laut kreischend wie kleine Äffchen über die Möbel durch die Wohnung. Ans Anziehen ist nicht zu denken, wahrscheinlich werden sie keine Ruhe geben, bis die Batterien leer sind. Und das scheint nicht so bald der Fall zu sein, so wie das hier aussieht. Die Mutter hält das Neugeborene in den Armen. Es schläft einige Augenblicke süss und ruhig – dann stimmt es kräftig in das Schreiorchester ein. Der Vater schaut mich aus schwarzumringten Augen an. „Wir haben kapituliert“ sagt er sarkastisch. „Wenn sie nur am Leben bleiben, dann sind wir zufrieden, mehr verlangen wir nicht“. Nach fünf Minuten in der Wohnung habe ich Herzrasen, Tinnitus und deutliche Anfänge einer Migräne. Ich mache mich aus dem Staub und wünsche der jungen Familie viel Freude mit ihrem Glück.

Gegen Mittag werden wir hungrig. Kinderlos und spontan wie wir sind, suchen Eyal und ich in einem der Nachbardörfer einen Kaffeekiosk auf, die jetzt, da die Restaurants geschlossen sind, überall aus dem Boden spriessen. Wir kaufen Kaffee und ein Sandwich und setzen uns auf die Wiese. Es ist Purimfest und die Schule gerade aus, deshalb ist das Pärkchen voll mit jungen Familien mit verkleideten Kindern. Das ist auch schön, denke ich und blinzle in die Sonne. Aber noch schöner ist es, wieder Zeit für mich selbst zu haben und zu sehen, wie die Kinder erwachsen werden. Wie sie ihr eigenes Leben meistern und vor allem – dass sie Freude daran haben.

Am Nachmittag kommt Sivan mit Freund zum Aperitif. Soviel Rummel ertrage ich gerade noch. Beim Betrachten der Fotos, die Sivan fürs Instagram macht, staune ich schon ein wenig, wie weiss mein Haar geworden ist. Und über all die Falten am Hals, die mir vorher nicht aufgefallen sind. Aber na ja, ich kann damit leben. Eine neue Generation ist nun damit beschäftigt, schön und jung zu sein. Ich hingegen habe Zeit, mich um die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu kümmern. Zum Beispiel, dafür zu sorgen, dass der Nachwuchs in der erweiterten Familie nie kalte Füsse haben wird.





Mittwoch, 24. Februar 2021

Zurück in der Muckibude

Seit Sonntag sind die Fitnesszentren wieder geöffnet – auch für diese sollten sich die Tore aber den erforderlichen Massnahmen entsprechend nur für geimpfte Sportfreunde öffnen. Ich habe die Wiederaufnahme des Crossfit-Trainings ungeduldig erwartet, mein letztes Training liegt nun schon mehrere Monate zurück. Das Crossfit-Studio in unserem Nachbardorf war damals meine bevorzugte Wahl für den Abschluss eines Abos weil das Lokal ideal am Weg zu meinem Arbeitsort liegt (natürlich konnte ich damals nicht ahnen dass ich bald das Haus gar nicht mehr verlassen würde). Ausserdem punktete es mit einem sehr reichhaltigen Trainingsstundenplan vor allem in den frühen Morgenstunden. Zwischen sechs bis zehn Uhr früh bietet das Zentrum jede Stunde ein Training an und da das Lokal im Nachbarsdorf und auf der anderen Seite der verkehrstechnisch problematischen Schnellstrasse liegt, kann ich mit dem Training um sechs oder sieben Uhr wunderbar dem ärgsten Morgenverkehrsstau entkommen. Wenn das erste Training anfängt, sind die Strassen noch leer und wenn ich zufrieden und verschwitzt das Zentrum verlasse, liegt der Stau auf dem Weg ins Büro schon hinter mir. Soweit der Plan – dann kam Corona.

Vom Image des Crossfit als Extremsport für Jüngere lasse ich micht nicht abschrecken. Ich bin zwar nicht mehr fit und beweglich wie eine Zwanzigjährige, aber für Wassergymnastik ist die Zeit für mich doch noch nicht reif.

Zum ersten Training nach der langen Lockdownphase erscheinen nur die ganz Angefressenen. Sechs junge Muskelprotze – und ich! Die Sportler scheinen zu stutzen, warum sich eine grauhaarige alte Frau um sechs Uhr morgens in ihr Fitness-Studio verirrt. Vielleicht wundern sie sich, ob ich dement und verlorengegangen bin? Leider kann ich beim Gewichteheben den Eindruck den sie von mir haben nicht verbessern: Während die Männer schweisstriefend zentnerweise 10- und 20-kg-Gewichtsscheiben auf ihre Stangen wuchten, bleibe ich meiner Grenzen bewusst bei der leichtesten 15-kg-Stange, ohne zusätzliche Gewichte. Als wäre das nicht genug beschämend, ist die Frauenstange unnötigerweise auch noch rosarot!

Aber in der zweiten Hälfte des Trainings kann ich den jungen Burschen beweisen, dass gute Kondition nichts mit dem Alter zu tun hat. Beim fünfmal 400-Meter-Laufen können einige der Jünglinge nur schwer keuchend mithalten und ich habe für sie nur mitleidige Blicke übrig. Beim Laufen sind eben graue Haare kein Hindernis, Muskelberge hingegen schon. Nach dem aufbauenden Training fahre ich um sieben dem Stau entgegen wieder nach Hause – Muskelkater garantiert. Ich bin froh wieder trainieren zu können und dankbar für einen weiteren Schritt in Richtung Normalisierung. Hoffentlich werden auch bald die wenigen Frauen wieder auftauchen, die vor den Lockdowns sehr aktiv dabei waren – schliesslich stehen noch einige rosarote Gewichtsstangen zur Verfügung. Nach einem Corona-Impfpass oder Ähnlichem hat übrigens niemand gefragt. Das ist vielleicht besser so, denn auch da hätten höchst wahrscheinlich einige der jungen Muskelprotze nicht mit mir mithalten können.



Donnerstag, 18. Februar 2021

Werden wir wieder lachen können?

Ich habe mich zu früh gefreut. Das Leben ist nicht nur eitel Frühling und blühende Blumen. Es schneit und stürmt und die Höchsttemperatur übersteigt am Mittag nicht einmal zehn Grad, was in Israel arktischer Kälte gleichkommt. In unserer Nachbarschaft schlägt der Blitz ein und löst einen Hausbrand aus. Die Nachbarn des brennenden Hauses haben denselben Familiennamen wie unsere, was aufgrund einer weitergeleiteten Nachricht zu Verwirrung und bei unserer Tochter, die ausser Haus weilt, zu einem kleineren Schock führt.

Schneemann in Jerusalem


Dazu passend die Stimmung in den sozialen Netzen. Seit Ausbruch der Pandemie vertieft sich die Kluft zwischen den verschiedenen Gruppen der israelischen Gesellschaft. Immer grösser wird der Hass auf die Bevölkerungsgruppen, in welchen die Ansteckungszahlen besonders hoch sind, weil anscheinend keine oder weniger Rücksicht genommen wird. Das Ampelsystem hat in Israel nicht funktioniert und die Einen beschuldigen die Anderen, die wiederholten Lockdowns verschuldet zu haben. Manchmal denke ich, es könnte ein besonders ausgeklügelter Schachstreich der Natur sein, dass wir mit Hass und schlussendlich Bruderkriegen das schaffen, was das Virus selbst nicht vermag – uns selbst endgültig auszurotten.

Israel Katorza ist ein israelischer Komiker, der sich in allen Kreisen der Bevölkerung grosser Bekanntheit und Beliebtheit erfreut. Er ist ein von Grund auf lustiger Mensch, der mit seinem etwas verrückten Humor auch gerne über sich selbst lacht. Er ist gross und schlank und jeder Zentimeter in seinem langen Körper versprüht Witz und Humor. Sein Gesicht ist über und über von tiefen Lachfalten geprägt. Oft prustet er beim Versuch, einen ernsthaften Satz zu sprechen, nach wenigen Worten los und der Witz übermannt ihn.

Nach vielen Monaten kultureller Flaute sind nun die meisten Beschränkungen aufgehoben und die Israelis soweit durchgeimpft, dass man endlich nicht nur an Shopping oder Beten, sondern auch wieder an kulturelle Anlässe denken kann. Erfreut kündigte Katorza vor einigen Tagen das Datum seines seit Pandemieausbruch ersten Auftritts vor Publikum an. Dieser Bekanntgabe auf Facebook fügte er gezwungenermassen die Information hinzu, dass die Show natürlich den erforderlichen Massnahmen entsprechen werde und nur geimpfte Zuschauer zugelassen würden.

Die Ansage löste unter den israelischen Corona-Impfgegnern umgehend einen erbitterten und hasserfüllten Shitstorm aus. Der Komiker wird nun beschuldigt, mit der staatlichen Impfbewegung zu kooperieren und er wird aufs Ärgste beschimpft, verflucht und beleidigt. „Impffaschismus“ ist der neueste Fluch, bei dem ich sprachlos werde. Hunderte erboste Israelis erdreisten sich, beleidigende Kommentare zu schreiben und dem Komiker umgehend ihre Liebe und Unterstützung zu kündigen. Sie wären unter Katorza's Publikum ab sofort auf keinen Fall mehr zu finden sein. Impfgegner mischen sich nicht mit Impfbefürwortern. Auf Nimmerwiedersehen!

Die Situation ist einfach zu traurig. Es tut mir leid für Leute wie Katorza, der schon ein ganzes Jahr kein Publikum mehr zum Lachen bringen darf und der nun für die ausweglose Situation in die er hineingeschlittert ist, aufs Übelste beschimpft wird. Bestimmt vergeht nun sogar ihm das Lachen.

Montag, 15. Februar 2021

Frühlingslaune

Beim Anziehen fällt mein Blick auf eine Schachtel, die hoch oben im Kleiderzimmer in Vergessenheit geraten ist: Meine geliebten Stiefel! Als bekennende Schuhfetischistin lassen diese eleganten schwarzen Stiefel aus feinstem Wildleder mein Herz auch nach einigen Jahren noch höher schlagen. Jetzt ist der Winter vorbei und ich habe sie kein einiziges Mal getragen. Auch meine vielen Mäntel und Jacken sind den ganzen Winter über im Schrank geblieben. Nicht weil es zu warm gewesen wäre. Ich habe sie nicht gebraucht, weil ich einfach NIRGENDWO hin gegangen bin. Ich habe ein Jahr lang jeden Tag mehr oder weniger denselben vergammelten Trainingsanzug getragen.

 

Beim Laufen freue ich mich über die dunkelviolette Küsteniris, die jetzt in dieser Region in voller Pracht blüht. Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf. Ich weiss nicht ob die Endorphine oder das frühlingshafte Wetter daran schuld sind, oder die Aufhebung der Lockdown-Einschränkungen – aber ich bin wieder zuversichtlich. Die Tage der ausgeleierten Trainingsanzüge sind gezählt. Eine neue Zeit bricht an. Die Angst dass alles noch viel schlimmer werden könnte ist noch da, aber sie flacht ab. Bestimmt, die Natur ist stärker als wir Menschen. Sie könnte oder kann die Menschheit vernichten, genau so, wie sie uns hervorgebracht hat. Aber – vielleicht sind wir der Geist, den sie gerufen hat, und den sie nun nicht los wird. Wir haben eine beachtenswerte Intelligenz entwickelt und so schnell geben wir nicht klein bei. Wir sind fast alle geimpft. Wenigstens hier, auf der Insel Israel, die wir im Moment immer noch nicht verlassen können. Die Statistiken sind positiv und Viele berichten schon aus eigener Erfahrung, dass man sich tatsächlich kaum mehr ansteckt. 

Vielleicht haben wir diese Hürde geschafft.

Meine Stiefel werde ich dieses Jahr nicht mehr anziehen. Auch andere alte Gewohnheiten werden eventuell im Schrank bleiben. Andere, neue Gepflogenheiten werde ich beibehalten. Ich habe viel gelernt in diesem Corona-Jahr. Über die Allmacht der Natur, über unsere Überheblichkeit, über die fälschliche Sicherheit des Lebens, über meine Mitmenschen, über meine Beziehung zu ihnen  aber vor allem über mich selbst. In diesem Moment bin ich dankbar für die Bereicherung, mit welcher ich aus dieser Krise hervorgehe. In der vagen Hoffnung, dass sie wirklich hinter uns liegt.


Dienstag, 12. Januar 2021

Auf dem Gipfel

Mit zitternden Beinen erklimme ich den Gipfel. Um den Gipfel zu überklettern lege ich mich bäuchlings hin. Mein Oberkörper findet gerade knapp Platz auf dem Felsen, der den Gipfel ausmacht. Nun eröffnet sich vor mir tiefster Abgrund. Mir schaudert als ich nach unten blicke: Viele Hundert Meter steil abfallendes Gelände. Tief unten, in weiter Ferne ein Tal, ein friedlicher See. Da muss ich hinunterklettern, aber meine Füsse finden auf dem brüchigen Felsen auf keiner Seite Halt. Hinter mir, wo ich gerade herkomme, ebenso steil abfallendes Geröll. Hier liege ich nun auf diesem Gipfelfelsen und finde auch nicht den geringsten Vorsprung im Stein, auf welchen ich meinen Fuss setzen könnte. Ich schwitze Wasser und Blut. Hinter mir warten meine Wanderkolleginnen, die sich um mich sorgen, mir aber nicht helfen können. Warum wollte eigentlich ausgerechnet ich, die ich nicht besonders höhensicher bin, als Erste den Gipfel überqueren? Immer wieder suchen meine Füsse vorsichtig Halt, aber es ändert sich nichts an der Lage: Ich stecke fest. Es gibt kein Vor und kein Zurück. Vor mir der unermessliche Abgrund in ein verheissungsvolles aber beängstigendes Tal, hinter mir der beschwerliche und genauso steile Aufstieg, auf welchem es nun kein Zurück mehr gibt.

Drei Stunden stecke ich auf diesem Gipfel fest. Drei Stunden suchen meine Füsse Halt ohne ihn zu finden. Drei Stunden liege ich bäuchlings auf dem brüchigen Stein mit der Gewissheit, dass der geringste Fehltritt das Ende wäre. Es kommt keine Panik auf, aber es gibt auch kein Entrinnen. Kein Vorwärts und auch kein Zurück. Die Situation ist ermüdend und auswegslos.



Dann wache ich auf. Puh! Es war nur ein Traum! 

Ein Traum der mich noch lange beschäftigt. Ja, die bevorstehende Wanderung in die Eilater Berge mit ihren oft schroffen Abgründen macht mir etwas Angst. Aber – Angefangen hat der Traum kurz nach drei Uhr morgens, nachdem uns ein Anruf aus dem Schlaf gerissen hat und ich danach wieder eingedöst bin. Eyals Vater liegt schon wieder im Spital. Schon viele Monate ist es ein Hin und Her zwischen dem Krankenbett zuhause und jenem im Spital. Schon viel zu lange leidet er in schrecklichem Zustand. Verschiedene immer schlimmer werdende Krankheiten lähmen seinen Körper. Zuckerkrankheit in fortgeschrittenem Stadium verursacht nun auch im noch nicht amputierten Bein Nekrose. Wasser in der Lunge erschwert das Atmen. Meistens ist er intubiert. Immer wenn wir denken, dass es jetzt nicht mehr schlimmer werden kann, verschlechtert sich der Zustand ins bisher Unvorstellbare. In den letzten Wochen ist der Vater nur noch wenige Augenblicke am Tag wach und ansprechbar. In diesen Momenten wiederholt er vor allem sein Mantra: Ich will sterben. Und doch ist der Funken Leben in ihm immer noch stark. Er schafft es nicht, loszulassen. Schon mehrere Male stand er an der Schwelle zum Tod und immer wieder überwand er den Augenblick, sei es aus eigener Kraft, sei es aufgrund medizinischer Hilfe. So auch vor diesem Anruf um drei Uhr nachts. Wieder schien der Moment gekommen. Wieder entschwand er. 

Natürlich war nach dem Anruf nicht mehr die Rede von tiefem Schlaf. Im Halbschlaf dämmerte ich bis um sechs Uhr unruhig vor mich hin. Im Traum ahnte ich, dass der Übergang manchmal – nicht nur beim Wandern – unüberwindbar zu sein scheint.

Donnerstag, 7. Januar 2021

Lockdown - neue Version

Ab Donnerstagnacht wird in Israel ein erneuter verschärfter Lockdown in Kraft treten. 
Hallo? Habe ich etwas verpasst? Befinden wir uns nicht schon im Lockdown? Ja, stimmt, wir befinden uns. Aber dieser wird weder beachtet noch durchgesetzt. Ob wohl verschärfte Massnahmen die Lösung sind? Die Israelis sind Weltmeister darin, sich über Regelungen und Konventionen hinwegzusetzen. Die Diskrepanz zwischen den angeordneten Einschränkungen und dem, was tatsächlich auf der Strasse abläuft, ist einfach lächerlich. Niemand hat mehr Lust, Geduld und Kraft für ständig erneuerte Massnahmen. Die Stimmung der Israelis schwankt zwischen absurder Gleichgültigkeit und steigender Panik. Die Infektionsrate ist extrem hoch. Aber bei Sonnenschein und frühlingshaftem Wetter ist es einfach, den Kopf in den Sand zu stecken und das Leben zu geniessen, solange man selbst nicht betroffen ist.

Kein Wunder ist die Lage chaotisch, der allgemeine „Balagan“ eine Katastrophe. Daran ist aber nicht nur die undisziplinierte Bevölkerung schuld. Auch die Regierung, die Polizei und das Gesundheitswesen scheinen die Kontrolle über die Situation verloren zu haben! 

So stelle ich mir die Dateien im Rechner des Corona-Zuständigen im israelischen Gesundheitsministerium vor



Ein Paradebeispiel für die Absurdität, die die Lage in Israel erreicht hat, ist die unglaubliche Geschichte einer Massenhochzeiten der Ultrareligiösen mit Hunderten von Gästen. Die Hochzeit selbst, die entgegen aller Massnahmen abgehalten wird, ist aber nicht etwa der wahre Skandal. Noch viel irrwitziger ist die Tatsache, dass einige der eintreffenden Polizisten dabei gefilmt werden, wie sie sich vom religiösen Oberhaupt segnen lassen, anstatt den Anlass aufzulösen oder die Gäste konsequent zu büssen!

Immerhin habe ich schon die erste Impfung hinter mir. Aber auch die Impfstrategie wirft Fragen auf: Nur Alte und Risikogruppen sollen geimpft werden. Aber trotz Bibi’s gelungenem Coup, für Israel frühzeitig grosse Mengen Impfstoff zu sichern, scheinen gerade für diese Gruppen jetzt schon Impfmittel zu fehlen. Schon bald eineinhalb Millionen Israelis sind geimpft, aber viele Alte und Gefährdete stehen immer noch Schlange. Und auch die Auslieferung der nächsten Dosen, die notwendig ist, um das Impftempo zu halten, ist fraglich. Trotzdem wurden Eyal und ich am vergangenen Shabat aufgerufen, uns im Ärztehaus anzumelden und – zusammen mit Tausenden weiteren Impffreudigen – impfen zu lassen, obwohl wir nur 55 Jahre jung sind und keiner Risikogruppe angehören.

Staunend und kopfschüttelnd hat uns aber vor allem der Anruf unserer Tochter Lianne gestern Abend zurückgelassen. Sie ist vor zweieinhalb Wochen ins Militär rekrutiert worden und befindet sich in der Grundausbildung, welche vier Wochen dauern sollte. Nach einer Woche rannen schon einige Tränen, denn entgegen der ursprünglichen Ansagen durften die frischgebackenen Soldatinnen wegen der steigenden Infektionsraten über das Wochenende doch nicht nach Hause. Seit Bekanntwerden des neuen verschärften Lockdowns ab heute nacht zerbrach ich mir den Kopf, wie man wohl im Militär damit umgehen würde. Noch ein Wochenende ohne Urlaub? Aber der Lockdown sollte ja mindestens zwei Wochen dauern. Würden die Soldaten wirklich einen ganzen Monat lang nicht entlassen werden? Oder würden sie eventuell schon am Donnerstagabend, vor dem Inkrafttreten des Lockdowns nach Hause geschickt? Aber was wäre mit all den Neuangesteckten unter den Auszubildenden bis zum Sonntagmorgen? In der Tat keine einfache Problematik.

Der Beschluss ist so überraschend wie kreativ! Heute würden in einem Tag (Tagwache 4.00 Uhr morgens) alle abschliessenden Prüfungen der Grundausbildung stattfinden und die Soldatinnen dann für eine ganze Woche nach Hause entlassen – mit Weiterführung der Ausbildung per Zoom! Wie sich das genau abspielen soll, ist mir ein Rätsel. Wird nächste Woche eine Soldatin in Uniform durch meine Stube robben?! Ich bin gespannt!

Sonntag, 3. Januar 2021

Happy New Year!



Seit Sonntag befindet sich Israel im dritten Lockdown. Wir dürfen uns nicht weiter als einen Kilometer von unserem Wohnort entfernen, ausser zum Arbeiten oder Einkaufen. Aber schon wenige Tage nach Beginn der neuen wiederholten Einschränkungen ist jedermann klar: Ernst nimmt das jetzt niemand mehr. Auf dieser dritten Welle surfen wir schon wie die Weltmeister. 

Die Israelis wissen immer alles besser und lassen sich nicht gerne Vorschriften machen, schon gar nicht bei schönstem sonnigem Winterwetter. Und jetzt haben wir es wirklich alle leid. Schon wieder ein Lockdown! Irgendwann muss doch das Leben weitergehen. Ausserdem werden wir in aller Windeseile durchgeimpft, das trägt zur allgemein hoffnungsvollen Stimmung bei. Ein neues Jahr, neue Anfänge, neue Hoffnungen. 2021 wird endlich alles gut! 

Erwartungsgemäss schnellen die Krankenzahlen wieder in schwindelerregende Höhen. Die israelischen Obrigkeiten reden verzweifelt davon, die undisziplinierten Bürger im Zaum zu halten, aber in der Praxis merkt man davon nicht allzuviel. Lianne, die vor knapp zwei Wochen ins Militär eingezogen worden ist, darf nun über das Wochenende doch nicht nach Hause. Zu gross ist die Ansteckungsgefahr. Aber blutjunge Soldaten in Schach zu halten, ist keine grosse Kunst. Mit den zivilen Israelis, die ihre Freunde treffen und das Leben geniessen wollen, wird es schon schwieriger. Auch Sivan stellt nach einigen anfänglich vorsichtigen Fahrten von ihrer Wohnung im Nachbardorf zu uns und zurück fest, dass die Wächter wohl im Stehen eingeschlafen sind.

Und dann ist Silvester. Der Freund in Tel-Aviv. Es soll nur eine kleine Party werden, in beschränktem Rahmen. Ein schönes Essen kochen, um Mitternacht mit Freunden anstossen. Was soll daran schon so schlimm sein? Die Polizei versucht am letzten Tag des alten Jahres, die Bürger auf allen möglichen Kanälen abzuschrecken. Um Silvesterparties und grössere Menschenansammlungen zu verhindern, sollen Strassenblockaden aufgestellt werden. Ausgangssperre! Im Fernsehen geben die Uniformierten nachdrückliche und abschreckende Warnungen durch. Die Bürger werden dringlichst gebeten, zu Hause zu bleiben. Saftige Bussen werden angedroht. Eyal und ich bleiben ganz gerne zu Hause. Wir fläzen faul auf den Sofas und zappen von Sender zu Sender. Ob bei soviel Polizeipräsenz in den TV-Studios überhaupt noch jemand für die Strasse übrigbleibt? Als es eindunkelt erleuchtet unsere Stube im Blaulicht der Streifenwagen – aus dem Fernseher, wo sich die Hauptaktivität der Polizei abzuwickeln scheint. 

Ach, Lockdown – Schmockdown, sagt Sivan. Die Drohungen sind zwar schon etwas beängstigend, aber etwas Nervenkitzel macht die Silvesterfeier im Untergrund erst richtig spannend. Am Abend fährt sie ohne grosse Umstände nach Tel-Aviv, wo sie mit Freund im Dunkel der Nacht auf schnellen Elektro-Scooters zu Bekannten düst. Der Freund hat unverfrorenerweise sogar noch eine Schüssel Salat dabei. Und die Champagnerflasche, eingewickelt in mehrer Tücher, steckt tief in der Tasche. Wie sie das wohl der Polizei erklärt hätten? Aber die Sorgen waren umsonst. Die Feierlichkeiten gehen unentdeckt über die Bühne. In den frühen Morgenstunden sausen sie unbemerkt wieder zurück. Es ist alles wie gehabt, nur auf etwas kleinerer Flamme. Und einmal sogar ohne Story im Instagram, für den Fall der Fälle.