Donnerstag, 30. Dezember 2021

Die Weihnachtsbaumfrage

Seit ich vor 33 Jahren in Israel hängen geblieben bin, habe ich, was Feiertage und Traditionen anbetrifft, verschiedene Phasen durchlebt. Obwohl ich mich im lebensfreudigen quirlig-chaotischen Israel auf Anhieb zuhause fühlte, litt ich in den ersten Jahren an den christlichen Feiertagen an schrecklichem Heimweh. Das plötzlich stillschweigende Ausbleiben von Ostern und Weihnachten in meinem Leben schmerzte mich so sehr, dass ich an diesen Tagen immer entweder furchtbar bedrückt war oder – ganz einfach in die Schweiz reiste.

Später gewöhnte ich mich daran, dass da, wo ich nun lebte, andere Feste gefeiert wurden. Aber Traditionen zu übernehmen, die uns nicht schon in der Kindheit mitgegeben worden sind, ist nicht selbstverständlich. Vor allem, da ich als nicht religiöser und nicht gläubiger Mensch mit Bräuchen und Ritualen im Allgemeinen nicht gerade viel am Hut habe.

Unsere Kinder wuchsen mit religiösen Festen in verschiedenen Rahmen auf, aber obwohl ich zum Judentum konvertiert habe, konnte ich keinen der Feiertage überzeugt vorleben. Die Kinder durften bei den traditionell-religiösen Schwiegereltern alle Feiertage immer sehr intensiv miterleben. Ab und zu feierten wir mit der Familie in der Schweiz Weihnachten. Obwohl ich heute das Judentum zutiefst schätze und ich eine immense Hochachtung und Liebe für das jüdische Volk empfinde, feiern wir bei uns zuhause keine religiösen Feste.
  
An Weihnachten ist mir Chanukka besonders wichtig


Auch wenn mir die jüdischen Feiertage nicht in die Wiege gelegt worden sind, habe ich unterdessen so meine Vorlieben. Yom Kippur mag ich wegen seiner Ruhe und weil das absolute Innehalten aller Aktivitäten so grandios eindrücklich ist. Am meisten schätze ich Chanukka, gerade wegen seiner – im Vergleich zu Weihnachten – Bescheidenheit. Pessach habe ich noch nie gemocht, die vielen Speisevorschriften sind mir ein Graus. Das Lesen der Haggada (Erzählung und Handlungsanweisung für die Zeremonie am Vorabend von Pessach) stehen wir trotzdem bei den Schwägern oder Schwiegereltern jedes Jahr mit der notwendigen Portion Humor bravurös durch.

Im ersten Corona-Jahr (wann war das schon wieder?) bewegte mich die Weltuntergangsstimmung im Lockdown zum ersten mal dazu, Pessach feiern zu wollen. Der Gedanke, dass das Fest hier und heute sang- und klanglos vorbeigehen sollte, während die Juden in der Shoah in den Ghettos und KZs unter infernalen Umständen alles unternahmen, um jüdische Traditionen aufrecht zu erhalten, liess mich nicht in Ruhe. Mann und Kinder verstanden nicht, was in mich gefahren war, aber ich insistierte. So kam es, dass wir uns gerade jetzt, da wir nirgendwo hinfahren und niemanden einladen konnten, zum ersten mal im familiären Rahmen um den Tisch versammelten und nur für uns die ganze Haggada lasen. Die traditionellen Speisen improvisierte ich, denn deren gebräuchliche Zubereitung war mir doch zu umständlich. Ich hatte auch wie immer keine Matzen gekauft, deshalb gab es ganz unkoscher Pittabrot.

Traditionen einfach zu leben, ohne sie zu hinterfragen, so wie es wohl die meisten Menschen tun, die dort leben, wo sie sich mit ihren Vorfahren verbunden fühlen, ist für mich heute keine Option.

Deshalb werde ich während meiner Weihnachtsreise in die Schweiz, von der ich soeben zurückgekehrt bin, die Fragen nicht los. Lichter, Kränze, Weihnachtsbäume, Weihnachtsmärkte, dekorierte Vorgärten und Häuserfassaden, geschmückte Krippen. Die Lichter in der Züricher Bahnhofstrasse, der riesige Weihnachtsbaum im Basler Rathaus. Die Dekorationen verzaubern.
 


Die funkelnden Häuser, Bäume und Strassen sind an den langen dunklen Abenden wunderschön anzusehen. Über Weihnachtsmärkte zu schlendern, Glühwein zu trinken und würziges Gebäck zu essen ohne Fragen zu stellen, fällt leicht. Aber ich werde den fragenden Blick „von aussen“ nicht los. Was bedeutet uns eigentlich die weihnachtliche Lichterpracht? Ist es mehr als nur ein Fest des Konsums? Hat diese gewaltige Inszenierung noch irgendetwas mit christlichen Traditionen zu tun? Dann muss, dem enormen Aufwand und der eminenten Lichterpracht entsprechend, ein Grossteil der Menschen den christlichen Werten zutiefst verbunden sein. Sind die Menschen hier so religiös?

Ich stürze mich in das vorweihnachtliche Menschengetummel. Die Warenhäuser locken mit Kerzen, Kränzen, Zimtduft und luxuriösen Dingen, die niemand braucht. Bei Einbruch der Dunkelheit staunen wir über die prächtig erleuchteten Strassen in der Innenstadt und reihen uns in die Menschenschlange am Eingang zum Weihnachtsmarkt. Später am Abend lese ich beim Weihnachtsguetzliessen in der Zeitung, dass heute im Mittelmeer (wieder) 56 Flüchtlinge ertrunken sind. Weitere mehr als Hundert werden noch vermisst. Ich blättere weiter. Das Mittelmeer ist weit entfernt.

Stille Nacht, heilige Nacht, singen am Weihnachtsabend zuerst die Eltern und Geschwister, dann, stimmungsvoller und selbstbewusster, Mahalia Jackson. Ich kenne die Worte nicht mehr und bewege nur die Lippen. Dieses Lichterfest zu feiern ist mir heute so fremd wie es mir immer noch ist, im September (zum jüdischen neuen Jahr) ein gutes neues Jahr zu wünschen.
 
Die heilige Familie - und ich

Was feiern wir hier, unter diesem Baum, bei dieser Krippe? Weiss das noch jemand? Die Geburt Jesu? Die Entstehung des Christentums? Und diejenigen, die es wissen – glauben sie daran? Haben die christlichen Werte, für die dieses Fest steht, eine Bedeutung für sie? Oder ist es doch nur ein oberflächliches Lichter- und Geschenkeritual? Mir scheint, je weniger religiös und gläubig die West-Europäer werden, je leerer die Kirchen, desto festlicher und üppiger sind die Strassen geschmückt.

Ich will kein Moralapostel sein. Aber in mir bringt dieses gedankenlose Mitschwimmen im Strom etwas zum Brodeln. Wie wäre es, wenn ich in der Schweiz leben würde (und nicht konvertiert hätte): Hätte das Fest für mich einen tieferen Sinn? Etwas, das mehr ist als einige Jahrzehnte Gewohnheit? Stände in meiner Stube ein Weihnachtsbaum? Gar eine Krippe darunter? Würden wir uns beschenken? Nur ein klitzekleines bisschen, wenigstens für die Kinder?

Nach sechs Tagen Weihnachslichtern, -Guetzli und -Liedern hüpfe ich wieder zurück in meinen israelischen Alltag. Hier freue ich mich nicht nur über wärmeres Wetter und Sonnenschein, sondern auch, dass ich mir die Weihnachtsbaumfrage nicht stellen muss.






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