Montag, 5. August 2024

Tausend Tode

Donnerstag, 25. Juli

Wir erwachen mit der Nachricht über die Tötung von Ismail Hanyieh und anderen Terror-Schlüsselfiguren.

Sonntag, 28. Juli

Iran und seine Verbündeten beginnen, mit den Säbeln zu rasseln. Laut den Medien ist nun ein Vergeltungsschlag des Irans unvermeidlich.

Montag, 29. Juli

Nach dem Anhören der höchst unheilvollen Achtuhr-Nachrichten und noch energiegeladen vom Morgentraining fasse ich einen Entschluss: Wir müssen gehen. Es ist so weit. Ich werde mit den Kindern reden und Flüge buchen. Wenigstens meine Töchter sollten mit mir kommen. Das ist nicht gerade feministisch, ich weiss, aber bei den Männern der Familie ist es aus verschiedenen Gründen gerade etwas schwierig. Immerhin, der Entschluss ist gefasst und ich spreche zuerst mit Sivan. Überraschenderweise sagt sie sofort zu. Sie ist dabei, obwohl sie ihren Verlobten zurücklassen wird. In ihrer Wohnung in Tel-Aviv schläft sie seit einigen Tagen mit neben dem Bett bereitliegenden Kleidern, für alle Fälle. Auch sie hält diese Anspannung nicht mehr aus.

Ich beginne, Flüge zu suchen. Das sieht schlecht aus. Die Preise für einen El Al Flug nach Zürich sind auf mindestens 1300 Dollar gestiegen – und es gibt keine Plätze.

Dienstag, 30. Juli


Ich spreche mit Itay und informiere ihn über unser Vorhaben, abzuhauen. Er will auch mit und das macht die Sache jetzt um einiges komplizierter. Er hat seit dem 7. Oktober nicht mehr gearbeitet und nun endlich gerade in diesen Tagen einen Kurs abgeschlossen und eine neue Arbeit angefangen. Ich fühle mich schlecht bei dem Gedanken, ihn davon wegzureissen. 
Und wer soll all diese überteuerten Flugtickets bezahlen?

Ich kann mich nicht auf die Arbeit konzentrieren, verbringe den ganzen Tag auf verschiedenen Webseiten und Apps, die Flüge anbieten – aber keines der Angebote ist wirklich angemessen.

Mittwoch, 31. Juli

Ausgerechnet mit Lianne, der Jüngsten, habe ich keinen Erfolg. Sie ist eine Meisterin im Verdrängen. Sie lebt in einer perfekten Welt mit schönen Menschen auf TikTok und Instagram. Krieg? Bedrohung? Davon will sie nichts wissen. Ausserdem hat sie gerade zwei neue Babysitterjobs, die sie viel mehr beschäftigen, als irgendwelche höchstwahrscheinlich unrealistischen und völlig übertriebenen Kriegsfantasien. Ich komme mit meiner Panikmache nicht zu ihr durch. Ich suche trotzdem weiter Flüge, finde aber nichts Passendes. Dass ich nicht weiss, wie viele Passagiere wir sein werden, macht die Sache nicht einfacher.

Donnerstag, 1. August

In der Schweiz feiert man den Nationalfeiertag, wir bezeichnen 300 Tage Fernbleiben unserer Entführten in Gaza.

Eyal wird in Israel bleiben. Er zieht es offensichtlich vor, arbeitend vor dem PC zugrunde zu gehen. Na ja, jedem das seine. Ausserdem ist er abgehärtet, schliesslich hat er schon den Sechstage-Krieg miterlebt, den Jom-Kippur-Krieg, den Golfkrieg, die Libanonkriege...

Einen passenden Flug habe ich sowieso noch nicht gefunden. Dann kommt mir auch noch in den Sinn, dass ich am Sonntag einen Termin beim Zahnarzt habe. Eine gebrochene Zahnbrücke muss vor der Flucht unbedingt noch ersetzt werden. Ich teile den Kindern mit, dass die Abreise auf Montag verschoben wird.

Das Flugangebot wird immer prekärer. Delta und United Airlines streichen ihre Flüge nach Israel. Gemäss der Flug-Schnäppchen-App gibt es noch Charterflüge nach Athen, Belgrad, Zagreb, Bari, Verona – aber ob die dann auch wirklich fliegen werden? Mein Plan ist jetzt, dass wir spätestens am Sonntagnachmittag mit gepackten Koffern bereit sein und dann spontan den nächstbesten Flug nach Europa nehmen werden.

Freitag, 2. August

Die Familie von Nitzan feiert Nitzans Geburtstag. Nitzan wäre 29 geworden, aber sie wird für immer 28 bleiben. Sivan geht mit einer Freundin an den surrealistischen Anlass. Zum Geburtstagsfest einer ermordeten Freundin. Dass meine Kinder so etwas erleben müssen.

Itay und Sivan und ihr Verlobter kommen zum Schabbatessen. Wenn man den Medien Glauben schenkt, steht der Angriff unweigerlich bevor.

Vor dem Schlafengehen bitte ich Eyal, die Pistole aus dem Safe zu holen. Wozu? meint er, der Angriff aus dem Iran wird kein Frontalangriff von Terroristen sein. Ich weiss, erwidere ich, aber wenn sie eine Atombombe abwerfen und wir nicht alle getötet werden, dann musst du das tun. Mit diesen Aussichten gehen wir schlafen.

Samstag, 3. August

Ein weiterer Morgen, an dem wir uns wundern, dass wir unbehelligt erwachen. 

Sivan und Lianne hätten heute mit ihrer Cousine und ihren Kindern einen Wasservergnügungspark besuchen sollen, aber die Cousine sagt ab. Die Lage...

Wir räumen endlich den Schutzraum auf. 

Ich suche weiter nach Flügen, aber es ist aussichtslos, es gibt keine Plätze mehr. 

Am Abend mähe ich den Rasen, säubere die Kanten, reche Laub. Die Mangos sind alle gepflückt, mein Garten ist parat, die Iraner können kommen!

Sonntag, 4. August

Wieder erwachen wir staunend, dass der Angriff noch nicht stattgefunden hat. 

In meine Mailbox flattern mehrere E-Mails meines Arbeitgebers mit Anweisungen für den Ernstfall. Auf den beigelegten Grundrissplänen sind die Schutzräume und die kürzesten Fluchtwege rot gekennzeichnet. Ausserdem werden ausgebildete Fachleute für eine freiwillige medizinische Notfallgruppe gesucht. Dann noch eine Meldung für den Fall, dass der Alarm beim Mittagessen in der Kantine losgeht.

Ein Ausschlag an meiner linken Hand wird immer schlimmer und ich kratze mich nachts wund.

Mir wird klar, dass ich gut daran täte, mich mit der Situation abzufinden: Wir fliegen nirgendwo hin. Wir bleiben hier. Ich treibe mich in den Wahnsinn mit unrealistischen Fluchtgedanken.

Beim Zahnarzt wird die gebrochene Brücke ersetzt. Jetzt wäre ich bereit...

Montag, 5. August

Immer noch kein Angriff. Heute, oder sicher innerhalb der nächsten 24 Stunden geht es los! behaupten die Medien jeden Tag aufs Neue, seit einer Woche. Unterdessen bin ich schon Tausend Tode gestorben.

Ich finde mich damit ab, dass wir nicht fliegen werden, aber vielleicht sollte ich mit unserem Freund Avi, dem Skipper sprechen?

Die in Gaza festgehaltenen Ariel Bibas und Karina Ariev haben heute Geburtstag. Ariel wird fünf Jahre alt, Karina zwanzig. Ich weiss nicht, was mehr schmerzt: Die Aussicht auf einen grossen Krieg oder die Tatsache, dass wegen der neuen Bedrohung aus dem Iran die Befreiung der Geiseln in den Hintergrund gerückt zu sein scheint. In nur 60 Tagen ist es ein Jahr. Werden wir sie je wiedersehen?

Im Büro erzeugt die Klimaanlage in unserem Stockwerk ein dumpf brummendes Geräusch. Ich versuche zu arbeiten, aber immer wieder muss ich genauer hinhören, um mich zu vergewissern, dass es eben nur die Klimaanlage ist und nicht der Lärm von Kampfflugzeugen.

2 3 4 Einatmen
2 3 4 Luft anhalten
2 3 4 5 6 7 Ausatmen
Wiederholen, am besten den ganzen Tag



2 Kommentare:

Schreibschaukel hat gesagt…

Du schreibst das mit soviel Galgenhumor - aber gerade der zeigt die prekäre Lage. Ich kann euch nur viel Glück wünschen und hoffen, Oren möge recht haben.... Unsere Gedanken sind bei euch.

Yael Levy hat gesagt…

Oren wird bestimmt recht haben, davon bin ich überzeugt!