Ich besuche E. im Heim. Nach zwei epileptischen Anfällen hat sich ihr Zustand radikal verschlechtert, sie spricht kaum noch, sitzt im Rollstuhl und schaut mit leerem Blick vor sich hin. Ich weiss nicht, was sie noch wahrnimmt und was nicht. Heute ist ihr Geburtstag, aber bis ich sie daran erinnere, weiss sie nichts davon. Auf meine Frage, wie alt sie ist, antwortet sie “58”, dabei ist sie 72.
Trotzdem bringt sie es auch bei diesem Besuch fertig, mich zu berühren: “vielen Dank für deinen Besuch”, sagt sie in reinstem Deutsch und in einem Augenblick absoluter Klarheit, als ich mich verabschiede.
Der Blick aus dem Fenster erfolgt aus Israel, wo ich seit 1988 lebe. Geboren und aufgewachsen bin ich in der Schweiz. Aus meinem Fenster blicken auch Eyal, mein israelischer Mann und meine erwachsenen, sehr israelischen Kinder, Sivan, Itay und Lianne. Die Personen sind echt, unsere Namen aber frei erfunden.
Sonntag, 23. Oktober 2016
Samstag, 22. Oktober 2016
The Swiss experience
In der Schweiz treffen wir auch unseren Sohn Itay für einige Tage. Nach einem Jahr in der “Milchfabrik Kibbutz”, wo aus mehreren hundert Kühen je 40 Liter Milch am Tag gequält werden und bevor er demnächst für mindestens drei Jahre im israelischen Militär Staub schlucken wird, erlebt er im Landdienst bei einem Bauern im Berner Oberland “the ultimate Swiss experience”. Auf dem kleinen Hof gibt es kaum zwanzig Kühe und diese werden tagelang liebevoll geputzt und gestriegelt, um sie dann mit Glocken zu behängen und mit ihnen an eine Viehschau zu ziehen. Dazu trägt Itay natürlich Edelweisshemd, wie es sich gehört.
Urlaub und wieder zuhause
Blick auf die Alpen vom Passwang |
Unser Urlaub in Barcelona und der Schweiz vergeht in Windeseile. Barcelona ist sehr vielfältig und interessant und die Schweiz besticht einmal mehr mit Postkartenansichten, wohin man nur blickt – wenn es einmal nicht grau und bewölkt ist. Während mich aber in Israel immer das "Heimweh" plagt, wird mir, sobald ich Schweizer Boden betrete klar, dass ich doch nicht mehr hierher gehöre. Alles ist so gewohnt und doch so fremd. So ist Urlaub in der Schweiz für mich immer auch eine reichlich anstrengende Auseinandersetzung mit mir selbst. Ich fahre, gehe, wandere, spaziere durch diese Landschaften, Dörfer und Städte und fühle, das bin hundertprozentig ich, ich bin aus diesem Holz geschnitzt und doch empfinde ich eine Unbehaglichkeit, als wäre ich ein Kuckucksei im fremden Nest. Wo bin ich eigentlich zuhause? Für welches Land schlägt mein Herz? Was bedeuten mir meine Schweizer Wurzeln? Was bedeutet dieses Land, in welchem ich schon bald dreissig Jahre nicht mehr lebe, für mich? Könnte/möchte ich wieder hier leben?
Am Tag unseres Rückflugs reisen wir frühmorgens mit dem Zug nach Zürich. Draussen ist es kalt, grau und dunkel, es nieselt - typisches Schweizer Herbstwetter. Auch als wir um neun Uhr ankommen, liegt immer noch alles grau in grau. Im Zug lesen die Reisenden Zeitung oder tragen Kopfhörer und es ist so ruhig, dass wir beim Öffnen eines raschelnden Plastiktütchens mit zwei letzten Schweizer Gipfeli das Gefühl haben, dass sich alle Augen auf uns richten. Wir Israelis schauen uns an und müssen lachen. Jetzt glotzten die Mitreisenden erst recht.
Bei der Ankunft in Tel-Aviv hingegen herrscht heilloses Durcheinander: mehrere Flüge landen vor Shabbat zur gleichen Zeit. In der Ankunftshalle stürmen Menschen in alle Richtungen. Draussen kämpfen Busse, Taxen, Privatwagen und Fussgänger hupend und lärmend um den Vorrang auf der Strasse.
Lärm, Menschen, Durcheinander und vor allem Sonne – Leben! Ich atme auf und fühle mich zuhause.
Freitag, 7. Oktober 2016
Fragen
Eine Krebserkrankung bringt für die meisten Betroffenen viele Fragen mit sich. Warum Krebs? Warum ich? Warum dies? Warum jenes?
Ich war schon vor meiner Brustkrebs-Erkrankung ein Mensch mit vielen Fragen und die Krankheit erschütterte in meinem Leben noch zusätzlich Einiges, von dem ich nie gedacht hätte, dass daran etwas zu rütteln wäre.
Und nun? Wie kann ich das Schlechte aussondern, ohne vorher mein Leben zu entflechten? Muss ich nun alles aufarbeiten? Lösungen finden? Forschen, bis alles schön säuberlich auf dem Tisch liegt und in die richtigen Schubladen einsortiert werden kann?
Nur etwas wird mir in den letzten Wochen immer klarer: dass ich mich mit vielen Fragen im Moment gar nicht auseinandersetzen möchte. Vielleicht macht es mir ein wenig Angst, Antworten zu finden, die ich nicht wahrhaben will und ausserdem habe ich eine leise Ahnung, dass es keinen Zustand der absoluten Klarheit gibt. Heute habe ich bei Rainer Maria Rilke einen wunderschönen Hinweis darauf gefunden, dass ich damit vielleicht gar nicht so falsch liege:
An Franz Xaver Kappus
z. Zt. Worpswede bei Bremen, am 16. Juli 1903
…Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein….
Rainer Maria Rilke
Ich war schon vor meiner Brustkrebs-Erkrankung ein Mensch mit vielen Fragen und die Krankheit erschütterte in meinem Leben noch zusätzlich Einiges, von dem ich nie gedacht hätte, dass daran etwas zu rütteln wäre.
Und nun? Wie kann ich das Schlechte aussondern, ohne vorher mein Leben zu entflechten? Muss ich nun alles aufarbeiten? Lösungen finden? Forschen, bis alles schön säuberlich auf dem Tisch liegt und in die richtigen Schubladen einsortiert werden kann?
Nur etwas wird mir in den letzten Wochen immer klarer: dass ich mich mit vielen Fragen im Moment gar nicht auseinandersetzen möchte. Vielleicht macht es mir ein wenig Angst, Antworten zu finden, die ich nicht wahrhaben will und ausserdem habe ich eine leise Ahnung, dass es keinen Zustand der absoluten Klarheit gibt. Heute habe ich bei Rainer Maria Rilke einen wunderschönen Hinweis darauf gefunden, dass ich damit vielleicht gar nicht so falsch liege:
An Franz Xaver Kappus
z. Zt. Worpswede bei Bremen, am 16. Juli 1903
…Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein….
Rainer Maria Rilke
Donnerstag, 6. Oktober 2016
Geburtstag
Heute ist mein Geburtstag. Das hat für mich keine besondere Bedeutung, ausser dass die Uhr tickt und das unvermeidbare Ende wieder etwas näher rückt… Es ist nur eine Zahl, versuche ich mir einzureden, aber dass ich schon mehr als die Hälfte überschritten habe, ist unbestreitbar, selbst wenn mir ein langes Leben wie das von Shimon Peres vergönnt wäre.
Ausserdem ist dieser absolut unspektakuläre Tag eingeklemmt zwischen einem langen Feiertagswochenende und unserer morgigen Reise nach Spanien und in die Schweiz. Ein vollgepackter Arbeitstag also, dann noch Besorgungen und Kofferpacken. Zum Feiern werde ich heute bestimmt keine Zeit finden, da der Grund dafür aber eine bevorstehende Urlaubsreise ist, macht mich das ganz und gar nicht traurig.
Während ich versuche, im Büro alles Notwendige nach- und vorzuholen, treffen auf meinem Smartphone schon frühmorgens die ersten Geburtstagswünsche ein. Gegen Mittag nimmt die Anzahl der Meldungen zu: über facebook, WhatsApp und Messenger gratulieren mir mehr oder weniger Bekannte zum Geburtstag. Menschen aus Israel, der Schweiz und anderen Ländern, von Neuseeland bis Kanada. Sogar meine Töchter, die mich in wenigen Stunden zu Hause wieder zur Schnecke machen werden, müssen unbedingt der besten Mutter auf dieser Welt über facebook zum Geburtstag gratulieren. Einige Personen laden Fotos mit mir hoch und beglückwünschen mich, andere antworten darauf, so entstehen Wortwechsel und Antwortstränge, ohne dass ich mich einmische. Irgendwann, zwischen der Gratulation des Bürgermeisters meines Wohnorts (!) und den Grüssen von G. aus Neuseeland, mit welcher ich vor dreissig Jahren meinen ersten Tauchkurs absolviert habe, verliere ich die Übersicht. Likes, Grüsse, Wünsche, Gratulationen. Das Gerät macht sich selbständig und während ich mich auf die Arbeit konzentriere, geht in der Party meines virtuellen Lebens so richtig die Post ab und ich bin nicht sicher, ob das alles etwas mit mir zu tun hat. Zwischen letzten eiligen Reisebesorgungen nachmittags und Kofferpacken am Abend werfe ich ab und zu amüsiert einen Blick auf das heisslaufende Gerät, das den ganzen Tag surrt, piepst und zirpt. Erst Nachts, nach einigen letzten Zuckungen (Bekannte aus den USA) verstummt es wieder – das Fest ist vorbei.
Ausserdem ist dieser absolut unspektakuläre Tag eingeklemmt zwischen einem langen Feiertagswochenende und unserer morgigen Reise nach Spanien und in die Schweiz. Ein vollgepackter Arbeitstag also, dann noch Besorgungen und Kofferpacken. Zum Feiern werde ich heute bestimmt keine Zeit finden, da der Grund dafür aber eine bevorstehende Urlaubsreise ist, macht mich das ganz und gar nicht traurig.
Während ich versuche, im Büro alles Notwendige nach- und vorzuholen, treffen auf meinem Smartphone schon frühmorgens die ersten Geburtstagswünsche ein. Gegen Mittag nimmt die Anzahl der Meldungen zu: über facebook, WhatsApp und Messenger gratulieren mir mehr oder weniger Bekannte zum Geburtstag. Menschen aus Israel, der Schweiz und anderen Ländern, von Neuseeland bis Kanada. Sogar meine Töchter, die mich in wenigen Stunden zu Hause wieder zur Schnecke machen werden, müssen unbedingt der besten Mutter auf dieser Welt über facebook zum Geburtstag gratulieren. Einige Personen laden Fotos mit mir hoch und beglückwünschen mich, andere antworten darauf, so entstehen Wortwechsel und Antwortstränge, ohne dass ich mich einmische. Irgendwann, zwischen der Gratulation des Bürgermeisters meines Wohnorts (!) und den Grüssen von G. aus Neuseeland, mit welcher ich vor dreissig Jahren meinen ersten Tauchkurs absolviert habe, verliere ich die Übersicht. Likes, Grüsse, Wünsche, Gratulationen. Das Gerät macht sich selbständig und während ich mich auf die Arbeit konzentriere, geht in der Party meines virtuellen Lebens so richtig die Post ab und ich bin nicht sicher, ob das alles etwas mit mir zu tun hat. Zwischen letzten eiligen Reisebesorgungen nachmittags und Kofferpacken am Abend werfe ich ab und zu amüsiert einen Blick auf das heisslaufende Gerät, das den ganzen Tag surrt, piepst und zirpt. Erst Nachts, nach einigen letzten Zuckungen (Bekannte aus den USA) verstummt es wieder – das Fest ist vorbei.
Dienstag, 4. Oktober 2016
Rückkehr nach Neutitschein
Es ist zwar nicht Holocaust-Gedenktag, sondern Neujahr, aber ich verschlinge an diesen Feiertagen das Buch “drei Leben” von Max Mannheimer.
Die nachfolgenden Sätze bringen mich dazu, das Buch zur Seite zu legen und eine Pause zu machen, aber erst, nachdem ich den Abschnitt mehrere Male gelesen habe.
Wie Phönix aus der Asche entsteigen Max und sein Bruder, die einzigen Überlebenden der Familie, der Hölle und haben wenige Wochen nach Kriegsende die Gelegenheit, in den Ort ihrer Kindheit zurückzufahren:
“Es war ein warmer Sommertag, die Sonne schien, der Himmel war hoch und blau, und in den Blumenkästen vor den Fenstern blühten die Geranien, ganz wie früher. Auf den ersten Blick hatte sich die Stadt nicht verändert. Sie war immer noch die hübsche Provinzstadt mit ihren schönen alten Fassaden und dem grossen Marktplatz, die wir zurückgelassen hatten. Dennoch war sie uns ganz und gar fremd geworden. Unsere Vergangenheit war daraus verschwunden. Bedrückt gingen wir durch die Strassen, vorbei an den Häusern, in denen die Lilienthals, die Kupfermanns, die Bermanns und all die anderen gewohnt hatten, und lasen die fremden Namen auf den Klingelschildern.”
Die nachfolgenden Sätze bringen mich dazu, das Buch zur Seite zu legen und eine Pause zu machen, aber erst, nachdem ich den Abschnitt mehrere Male gelesen habe.
Wie Phönix aus der Asche entsteigen Max und sein Bruder, die einzigen Überlebenden der Familie, der Hölle und haben wenige Wochen nach Kriegsende die Gelegenheit, in den Ort ihrer Kindheit zurückzufahren:
“Es war ein warmer Sommertag, die Sonne schien, der Himmel war hoch und blau, und in den Blumenkästen vor den Fenstern blühten die Geranien, ganz wie früher. Auf den ersten Blick hatte sich die Stadt nicht verändert. Sie war immer noch die hübsche Provinzstadt mit ihren schönen alten Fassaden und dem grossen Marktplatz, die wir zurückgelassen hatten. Dennoch war sie uns ganz und gar fremd geworden. Unsere Vergangenheit war daraus verschwunden. Bedrückt gingen wir durch die Strassen, vorbei an den Häusern, in denen die Lilienthals, die Kupfermanns, die Bermanns und all die anderen gewohnt hatten, und lasen die fremden Namen auf den Klingelschildern.”
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