Sonntag, 22. Oktober 2023

Entkommen

Es ist vier Uhr morgens und ich schreibe, weil ich nicht schlafen kann. Mir geht es körperlich etwas besser, aber der Lärm von Kampfflugzeugen und Helikoptern bricht diese Nacht nicht ab und hält mich wach.

Meine anfängliche Schockstarre hat etwas nachgelassen. Die geringfügige Besserung meines Befindens steht aber in keinem Bezug zu der nach wie vor katastrophalen Situation im Land. Und weiterhin ist die Angst vor dem, was uns die nächsten Tage und Wochen bringen könnten, abgrundtief.

Die Identifizierung der Leichen ist noch immer im Gange. Das von den Hamas-Bestien angerichtete Gemetzel erschwert die Arbeit. Täglich treffen neue Namen ein, täglich werden Hoffnungen, Familien zerstört. Man sagt, dass es von etwa zwei Dutzend Toten keine identifizierbaren Überreste gibt. Nicht einmal eine Fingerkuppe, kein Restchen DNA.

 

Ich hoffe, dass die Welt da draussen von diesen Greueltaten weiss. Und dann wieder  –  was nützt es? Ich weiss nicht, was schlimmer ist, 1200 abgeschlachtete Menschen oder die Tatsache, dass die Hälfte der Menschheit die Täter unterstützt.


Am Freitagabend treffen wir uns mit unseren Freunden A und S und ihrem Sohn Yotam. Yotam war mit Freunden am Musikfestival in der Nähe des Gazastreifens. Er hat das Massaker durch ein grosses Wunder überlebt.

Als in den frühen Morgenstunden nach dem Festival die ersten Schüsse fielen, rannten Yotam, Tomer und Yoav sofort zu ihrem Auto. Viele der Festivalbesucher schafften es nicht zu den Autos und sie versuchten, zu Fuss die Flucht zu ergreifen. Andere wurden von den Sicherheitsleuten aufgefordert, sich in den „miguniot“ (kleine Betonschutzräume) zu verstecken. Das wurde ihnen zum Verhängnis. Aber Yotam, Tomer und Yoav rasten im Kugelhagel davon. Den drei jungen Männern gelang es, im durchlöcherten Auto mit zerbrochenen Scheiben aus dem Gebiet des Massakers zu entkommen. Die drei konnten den erbarmungslos um sich schiessenden Terroristen in einer wilden Zickzackfahrt entfliehen. Im Versuch, den Bestien auszuweichen musste Yoav zweimal wenden. Dann wurde ihm klar, dass sie keine andere Wahl hatten und er steuerte kurzentschlossen auf das Inferno zu. Mit eingezogenen Köpfen und dem Tod vor Augen rasten sie in kühner Fahrt durch den Kugelhagel. Eine Kugel traf Yotam während der Amokfahrt an der linken Brust, sie drang knapp einen Zentimeter über dem Herzen ein und unter der Achsel hinaus. Yotam’s Freunde, Yoav, mit Fahrkünsten, die man sonst nur in Actionfilmen sieht, und Tomer, Sanitäter der Armee, retteten ihm das Leben. Als ein auf dem Rücksitz liegender grosser Sitzsack von Schüssen zerfetzt wurde, füllte sich das Auto mit Styroporkügelchen. Tomer, der Sanitäter, konnte während der verrückten Fahrt Yotam’s Blutung unter Kontrolle halten. (Hier möchte ich mit etwas Stolz noch anmerken, dass Yoav im Militär ein Schüler unserer Tochter Sivan war, die ihren Dienst als Ausbilderin von Sanitätern geleistet hatte.)

Etwas weiter nördlich trafen die drei auf eine südwärts fahrende Ambulanz, die sie nach Beersheva ins Spital brachte. Yotam war unter den ersten zehn Verletzten, die dort eintraffen. Tomer und Yoav erzählen, dass kurz darauf in der Notaufnahme das totale Chaos ausbrach. Jetzt lachen sie darüber, dass sie beide nicht einmal untersucht worden sind, obwohl sie durch die Scheibensplitter auch verletzt worden waren.

Yotam sah viele Minuten lang dem Tod in die Augen. Die Schusswunde ist gross und hässlich, zu allem Unglück hatten sich die Styroporkügelchen grossflächig mit dem zerfetzten Gewebe vermischt. Aber sie wird heilen. Man sieht Yotam an, dass er noch nicht einmal angefangen hat, das Geschehene zu verdauen. Vor allem die Tatsache, dass sich die Clique seiner Freunde im Chaos aus den Augen verloren hat, belastet ihn besonders. Mit Nitzan und Lidor, die nicht überlebt haben, war er kurz vor dem Überfall noch zusammen.

Auch das Schicksal von Yotam ist nur eines von Tausenden, aber ihm gegenüber zu sitzen und die Geschichte aus seinem Mund zu vernehmen, ist haarsträubend.




Nach dem Gespräch mit Yotam suche ich das Foto hervor, auf welchem er (rechts) und unsere Tochter Sivan im Schoss der stolzen Väter liegen. Ich schaue sie an und kann einfach nicht begreifen, dass diese unfassbaren Horrorgeschichten tatsächlich mit uns, mit unseren Babies auf diesem Bild, zu tun haben sollen. Seit der Aufnahme sind 28 Jahre vergangen, aber das macht keinen Unterschied. Für mich sind sie immer noch meine Kinder.


Wer jetzt etwas zu den Kindern in Gaza sagen möchte, soll bitte zuerst hier nachlesen.


In diesem Video spielen Soldaten der IDF in den Überresten eines Hauses im zerstörten Kibbutz Be'eri die Ha'tikva (die Hoffnung), die Nationalhymne Israels. Im Kibbutz Be'eri wurden 130 Menschen massakriert. Viele andere wurden als Geiseln genommen, darunter die 85-jährige Yaffa Adar, die zuletzt in einem Golfwagen wegfahrend, umgeben von bewaffneten Terroristen, gesehen wurde.







Mittwoch, 18. Oktober 2023

Have a wonderful weekend

Die Schlagzeilen und Nachrichten überschlagen sich und werden für Bekannte und Familie in der Schweiz und anderswo sehr unübersichtlich. Oft werde ich gefragt, wie wir die jetzige Situation erleben, was wir mitbekommen, wie das für uns persönlich aussieht. Das möchte ich gerne beschreiben.

Heute morgen bin ich seit langem wieder einmal laufen gegangen, nach einer längeren Pause aufgrund von Verletzungen. Die Felder und der nahegelegene Wald sind jetzt zu unsicher, deshalb umrunde ich nur unseren Wohnort, ohne ihn zu verlassen. Sonst laufe ich ohne Musik, ich liebe es, nur meine Schritte zu hören und meinen Atem zu spüren. Aber jetzt habe ich grösste Mühe, die Horrorbilder und Schreckgedanken fernzuhalten. Aber dass ich jetzt wieder laufen und auch schreiben kann, empfinde ich als ein Zeichen, dass es mir im Moment gerade etwas besser geht.

Unser Dorf im Zentrum Israels ist auch zu „normalen“ Zeiten vollkommen eingezäunt. Es gibt vier befahrbare Eingänge mit Schranken, die sonst nur nachts geschlossen werden. Jetzt sind drei dieser Eingänge rund um die Uhr geschlossen, der vierte Eingang wird Tag und Nacht von zwei bewaffneten Männern bewacht. Schulunterricht findet keiner statt.

Ich arbeite im Home office und bin froh, durch die Arbeit abgelenkt zu werden. Wenn immer ich es wage, eine kurze Pause zu machen, holt mich die Realität ein und lässt mich einknicken. Seit dem 7. Oktober habe ich unser Haus nur wenige Male verlassen, zweimal war ich an Beerdigungen, zweimal an einer Shiv’a und einmal habe ich unseren Soldatensohn und dessen schwerstverletzten Freund im Spital in Naharyia besucht.

Bei uns zuhause arbeitet auch mein Mann jetzt im Home office und mit uns leben unsere jüngste Tochter Lianne (22) und jetzt auch abwechslungsweise meine Schwiegermutter (83) und die Tochter Sivan (28) und ihr Freund, deren Wohnung in Tel-Aviv nun leer liegt. Alle müssen essen, aber ich habe keine Kräfte, ich koche kaum, putzte nicht, der Garten liegt brach, Einkäufe erledige ich online.

Unser Sohn Itay (26) ist als Reservist eingezogen, er dient in einer Kampfeinheit an der nördlichen Grenze Israels.

Auch Sivan ist als Reservistin eingezogen, sie bildet Notfallsanitäter aus, kommt aber nachts nach Hause. Sie ist ausserordentlich froh, dass sie eine Tätigkeit hat, denn in der PR-Agentur in der sie arbeitet, gibt es im Moment nichts zu tun. Ihr Freund arbeitet zu Hause oder fährt ins Büro. Sein jüngerer Bruder ist ebenfalls Soldat der Reserve und in der Nähe des Gazastreifens stationiert.

Unsere Jüngste, Lianne (22), hätte letzte Woche eine neue Arbeit beginnen sollen. Das war dann leider nicht mehr aktuell. Jetzt schlägt sie die Zeit tot und wird wahnsinnig.

Unsere Supermärkte funktionieren noch, aber viele Waren fehlen. Viele andere Läden sind geschlossen, die meisten Restaurants haben auf Mahlzeitenproduktion für die Reservisten umgestellt, mit Hilfe von Spendern und Freiwilligen.

Raketenalarm gab es in unserem Dorf seit dem 7. Oktober nur zweimal. Aber ich habe die App des Heimatfront-Kommandos auf meinem Handy und bekomme Push-Nachrichten auch für andere, ausgewählte Regionen. Bei Rakentenalarm heulen die Sirenen, dann gehen wir schnell in den Schutzraum, welchen wir jetzt in Ordnung gebracht haben. Die Türe lässt sich zwar noch immer nicht abschliessen, aber Eyal gibt mir pragmatisch zu verstehen, dass wir den Schutzraum wahrscheinlich nicht mehr brauchen, wenn der Feind bis hierher kommt. Das würde bedeuten, dass wir vermutlich keine Armee mehr haben und dann wären wir eh verloren..

Am Morgen des Massakers arbeitete ich in der Küche. Nach einer Weile stellte ich das Radio ab, da wegen der Durchsagen über die Raketenalarme kein einiziges Lied durchgespielt werden konnte. Dann rief Sivan an und teilte mit, dass einer ihrer Freunde, die an dem Musikfestival waren, an welchem 260 junge Leute brutal ermordet wurden, angeschossen wurde und er und zwei Kumpel Hals über Kopf fliehen konnten. Gegen elf Uhr verstanden wir, dass da etwas sehr Grosses und Uneinschätzbares im Gange war und Eyal fuhr nach Tel-Aviv, um die dort wohnenden Kinder zu uns zu holen.

Seither reissen die Horromeldungen nicht mehr ab. Schlag auf Schlag folgen die unfassbaren Mitteilungen, Nachrichten, Bilder.

Mindesten sechs sehr gute Freunde meiner Kinder sind tot, sie wurden als Partygänger an dem Festival oder als junge Soldaten an dem Massaker brutalst ermordet.

Ich war an zwei Beerdigungen von jungen Menschen und an einigen Trauerbesuchen, meine Kinder an vielen mehr. Was für ein simpler Satz. Was für ein unfassbares Leid. Über Nitzan habe ich hier geschrieben. Nitzan’s Mutter brach während der Beerdigung dreimal zusammen.

Ein weiterer junger Freund meiner Töchter wird noch immer vermisst. Vielleicht ist er unter den Geiseln? Die Identifizierung der Leichen ist immer noch im Gange. Viele davon sind entstellt, zerstückelt, verbrannt. Jeden Tag treffen neue Namen ein.

Irgendwann wurden die unaufhörlichen Schläge in die Magengrube zuviel. Seither versuche ich mich von den Medien fernzuhalten. Unser persönliches Leid ist auch so mehr als genug, ich habe keine Kraft, Tausende von bestialischen Morden zu verarbeiten.

Zum ersten mal so richtig zusammengebrochen bin ich vor einigen Tagen, als wir kurz vor dem Shiv’a Besuch bei Yonis Familie die Nachricht erhalten haben, dass Alon schwerst verletzt worden ist. Alon (26) ist einer der besten Freunde unseres Sohnes Itay. Erst vor Kurzem haben wir uns ein Video angesehen, in welchem Itay an seinem ersten Schultag im neuen Wohnort in der zweiten Klasse von Alon herzlich empfangen wird und die beiden Jungs irgendwelche Sammelkarten austauschen. Damals waren sie ahnungslose, glückliche Kinder. Jetzt sind sie gezwungen, Uniformen und Waffen zu tragen, um ihre Familien und ihr Volk zu verteidigen. Im Gegensatz zu anderen Völkern in unserer Nachbarschaft erziehen wir unsere Kinder nicht zum Töten, sondern wir schicken sie schweren Herzens ins Militär, weil es keine andere Möglichkeit gibt. Itay und Alon haben ihre ganze Schullaufbahn zusammen verbracht, sie waren zusammen bei den Pfadfindern, reisten einige Male ins Ausland, und letztes Jahr einen ganzen Monat nach Mexiko. Alon ist ein Sohn unseres Hauses, seine Eltern und Geschwister sind gute Freunde.

Vor einigen Tagen ist Alon bei einem Verteidigungsmanöver schwerst verletzt worden. Eine Soldatin wurde von einer Granate sofort getötet, Alon wurden Extremitäten weggerissen. Seit dem Vorfall weilt unser Itay mit der Familie von Alon im Spital. Nachts legt er sich irgendwo auf den Boden, um einige Stunden die Augen zu schliessen, sein Sturmgewehr dabei fest umarmt. Die Ärzte glauben, dass Alon einmal eine Braue und einmal eine Zehe bewegt hat, daran klammert sich die Familie. Itay wird bald zu seiner Einheit zurückkehren müssen. Ich werde ihn dabei unterstützen, so unendlich schwer mir das als Mutter fällt.

In jeder Sekunde, in der ich mich nicht ganz bewusst mit irgendetwas ablenke, sehe ich  Alon vor mir. Nachts habe ich Angst, mich hinzulegen und wenn ich schlafe, habe ich Angst, aufzuwachen. Die Gedanken an Alon verfolgen mich. Dabei ist das schwere Schicksal von Alon und seiner Familie nur eines von Tausenden in diesen Tagen.

Am Montag fuhren mein Mann und ich nach Naharyia, um Itay und Alon's Familie zu unterstützen. Es war das erste mal, dass wir Itay wiedergesehen haben, seit er am 8. Oktober eingezogen worden ist. An diesem Montag konnte er auch das erste mal wieder duschen. Die Uniform steckt seither in einer Tasche, Bekannte haben ihm eine alte Hose und ein rosa T-Shirt ausgeliehen.

Auf der Fahrt nach Hause spielten alle Navigationsgeräte verrückt. Man sagt, die Armee würde absichtlich die Satelliten unterbrechen. Ausserdem gab es in Tel-Aviv Raketenalarm, während Lianne an der Beerdigung ihrer Freundin Shir teilnahm, die am Festival ermordet wurde. Die Trauergemeinde, welche Shir's Leib auf dem letzten Weg begleitete, musste sich schutzsuchend zu Boden werfen, denn auf Friedhöfen gibt es keine Schutzräume. Wir wurden natürlich in Echtzeit per WhatsApp auf dem Laufenden gehalten. 

Es ist alles wie in einem katastrophalen Horrorfilm, nur spielen darin ausnahmsweise, nebst vielen anderen, wir selbst und unsere Kinder mit.
 
 
Die kurzgehaltene Whatsapp Meldung unserer Tochter: "Raketenalarm während der Beerdigung"



Das Leid ist in diesem Ausmass nicht mehr zu erfassen und nicht mehr zu ertragen. Ich versuche, mich von den Nachrichten fernzuhalten, aber leider holen mich viele davon ein. Mein Fass ist übervoll. Ich versuche Bücher zu lesen, aber wir haben jetzt alle ein schweres Aufmerksamkeitsdefizit und können keinen Satz fertiglesen. Meine Stimmung schwankt zwischen totaler Verzweiflung und Momenten der Hoffnung. Ich schlafe nachts nicht, habe konstant Atemnot und fühle mich wie ein alter Waschlappen. Sivan raucht jeden Abend einen Joint, ich trinke eher öfter ein Gläschen, Lianne frisst Unmengen von Zucker in sich hinein. Das ist jetzt alles egal, solange es uns einigermassen auf den Beinen hält.

Meinen Geschwistern in der Schweiz habe ich mitgeteilt, das ich nicht mehr telefonieren kann. Wie soll man sich am Telefon unterhalten, wenn eine Person im Krieg ist und die andere in der Schweiz beim Apéro? Ich weiss, dass sie sich machtlos fühlen, dass sie sich um uns sorgen und in Gedanken bei uns sind. Aber ich weiss auch, dass das Leid nicht mehr nachvollziehbar und nicht komunizierbar ist, vor allem nicht am Telefon.

Ich fühle mich schlecht dabei, diesen Bericht in den Blog zu stellen. Wenn ich ihn durchlese, bin ich selbst schockiert. Ich will keinen Kriegsporno betreiben, aber warum soll ich dieses Leid für mich behalten? Eine Arbeitskollegin in den USA wünschte mir in einer Mail am letzten Freitag "Have a wonderful weekend!" Dieser bestimmt nicht absichtlich gemachte schlechte Witz hallt immer noch nach. Für Leute wie sie veröffentliche ich diesen Beitrag. Nein, ich habe kein wunderbares Wochenende verbracht. Wir sind am Boden zerstört.

Und habe ich eigentlich über die Angst geschrieben, dass alles noch viel schlimmer werden könnte?

Für Öffentlichkeitsarbeit oder den zusätzlichen Krieg, der sich in den Medien abspielt, habe ich keine Kraft und noch viel weniger für Aussagen wie „...aber die Zivilisten in Gaza...“. Darüber können wir ein andermal sprechen, vielleicht, wenn wir wieder einigermassen bei Kräften sind.

Bitte betet für Alon, für alle Verletzten, für die Geiseln, für alle Betroffenen, für Israel und für bessere Zeiten.



Samstag, 14. Oktober 2023

Nitzan



Am Donnerstag haben wir Nitzan zu Grabe getragen, Klassenkameradin und gute Freundin meiner älteren Tochter. Ihr Leib wurde neben Lidor, ihrem Verlobten, der einen Tag vor ihr beerdigt wurde, zur Ruhe gelegt. Nitzan’s Geschwister, die Zwillinge Ofri und Omri waren in der Klasse meiner jüngeren Tochter. Das Haus ihrer Familie liegt in der Strasse hinter uns.

Nitzan und Lidor waren an der Rave-Party im Süden. Der Kontakt zu Nitzan brach am Samstagmorgen des 7. Oktobers ab, aber schon bald erhielt die Familie ein Video, in welchem Nitzan, Lidor und einige Freunde in einem offenen Betonbunker Schutz suchend erkennbar sind. Sie scheinen verängstigt, aber wohlauf. Das Video gibt der Familie Hoffnung in den zermürbenden vier bis fünf Tagen der Ungewissheit. Vielleicht halten sich die jungen Leute irgendwo versteckt. Später, am Tag, der die Gewissheit bringt, kursiert in den Medien ein weiteres Video desselben Betonbunkers (er trägt einen grossen gemalten Vogel auf seiner Vorderseite) vor welchem einige schwer bewaffnete Terroristen ihr grausames Werk treiben und einer der Unmenschen eine Handgranate in den Bunker wirft. Nach der Beerdigung von Nitzan wird auch die Aufnahme ihres letzten Telefongesprächs mit ihrer Mutter publik gemacht. Nitzan schreit, dass geschossen wird und dass sie hier weg will.

Erst vor wenigen Tagen hatte Nitzan ihrer Familie mitgeteilt, dass sie schwanger war und die Familie begann freudig die Hochzeit zu planen.

Nun ziehen sich meine Mädchen an und treffen ihre Freundinnen, aber sie gehen nicht an eine Hochzeit oder eine Party, wie es für ihr Alter normal wäre, sondern an die Beerdigung und später die Schiv’a von Nitzan.

Die Geschichte von Nitzan ist nur eine von einer nicht nachvollziehbaren Zahl an unfassbaren Horrorgeschichten.



Rabbi Jonathan Sacks schreibt in seinem Buch „A Letter in the Scroll“: „Das Judentum vertritt die kühne Idee, dass Mensch und Gott Partner im Schöpfungswerk sind.“
„Gott steckt nicht in der Antwort, sondern in der Frage. Auf die Frage "Warum leiden die Unschuldigen?" gibt es auf der Ebene des Denkens keine Antwort. Die einzige angemessene Antwort liegt auf der Ebene der Tat, auf dem langen Weg zu einer Welt, in der die Unschuldigen nicht mehr leiden. Das jüdische Gesetz fordert uns auf, nur das zu akzeptieren, was nicht geändert werden kann, und es gibt kein Übel in der Zukunft, das nicht geändert werden kann.“ 
Wir müssen diesen langen Weg gehen. Wir müssen jetzt die Antwort sein.


Ich bin kein religiöser Mensch, aber ich habe, seit ich das Judentum zu begreifen versuche, eine tiefe Hochachtung und Liebe für die Werte dieser schon in ihren Anfängen revolutionären Religion. Schon länger, seit ich mich bewusst damit befasse, die jüdische Identität zu verstehen, sowohl im Zusammenhang mit dem Lande Israel als auch im Bezug auf die Weltgeschichte, bin ich religiösen jüdischen Menschen in den mannigfaltigen Facetten der Religiösität dankbar. Sie nehmen die nicht immer einfache Arbeit auf sich, diese Religion zu leben, am Leben zu erhalten und weiterzugeben. Ich selbst fühle mich den Werten der Religion aus tiefstem Herzen verbunden, aber die Traditionen bleiben mir  obwohl sehr bekannt  fremd, vielleicht weil sie nicht in mir verwurzelt sind (ich bin konvertierte Jüdin). 

Den Kiddusch (das Sabbatgebet) beten wir sonst nur, wenn meine Schwiegermutter zu Besuch kommt, und auch dann nur halbherzig. Aber meine Kinder kennen das Gebet auswendig, sie haben es bei meinen Schwiegereltern jeden Freitag ihrer Kindheit gemeinsam gebetet. Diesen Freitag beten wir auch wieder gemeinsam: meine Töchter, der Freund, mein Mann, meine Schwiegermutter. Unser Sohn, als Reservist im Norden an der libanesischen Grenze stationiert, nimmt per Videoanruf teil. Sein Handy muss dunkel bleiben, deshalb sehen wir im Dunkel der Nacht nur seine Umrisse. Er spricht das ganze Gebet auswendig vor, sein Grossvater wäre stolz auf ihn. Dieser Zusammenhalt gibt uns nun Kraft und ich hoffe, dass auch meine Töchter zuversichtlich bleiben können „auf dem langen Weg zu einer Welt, in der die Unschuldigen nicht mehr leiden.“




Freitag, 13. Oktober 2023

Für unsere Kinder

Gestern bin ich etwas zusammengebrochen. Nach Aufenthalt im Schutzraum am Mittwochabend wegen falschem Alarm, Aufenthalt im Schutzraum am frühen Morgen danach wegen echtem Alarm, zwei Beerdigungen am Nachmittag (Yoni, 21 und Nitzan, 28, im vierten Monat schwanger) und all den unfassbaren, schrecklichen Nachrichten war ich am Abend am Boden zerstört. Seit Samstag leide ich an Atemnot und schlafe nachts nicht länger als vier oder fünf Stunden.

Aber heute Morgen habe ich eine grosse Israelflagge vor unser Haus gehängt und beschlossen, stark zu bleiben. Ich werde ganz aktiv versuchen, diese schreckliche Realität von mir fernzuhalten, denn anders ist es nicht auszuhalten. Ich werde mein Handy nicht mehr anrühren, es sei denn, jemand ruft mich an. Kein Instagram, kein Facebook, keine Zeitungen, keine Nachrichten. Ich werde nur noch Bücher lesen. Und ich werde ganz fest daran glauben, dass wir das überstehen werden. Das Gute muss über das Böse siegen. Für unsere Kinder.

Dienstag, 10. Oktober 2023

Stop all the clocks (Funeral Blues)

Für Nizan (28), Yuval (26), Omer (22), Sivan (22), Peleg (26), Yoni (22) und ihre Familien



Stop all the clocks, cut off the telephone,
Prevent the dog from barking with a juicy bone,
Silence the pianos and with muffled drum
Bring out the coffin, let the mourners come.

Let aeroplanes circle moaning overhead
Scribbling on the sky the message 'They Are Dead'.
Put crepe bows round the white necks of the public doves,
Let the traffic policemen wear black cotton gloves.

They were my North, my South, my East and West,
My working week and my Sunday rest,
My noon, my midnight, my talk, my song;
I thought that love would last forever: I was wrong.

The stars are not wanted now; put out every one,
Pack up the moon and dismantle the sun,
Pour away the ocean and sweep up the wood;
For nothing now can ever come to any good.

W. H. Auden (1907-1973)


Donnerstag, 5. Oktober 2023

Bruno




Beim Autofahren vernehme ich aus dem Morgenprogramm im Radio, dass Agam Buhbut als eine der Aufwärmesängerinnen für ein Konzert von Bruno Mars gewählt worden ist. Ich kenne Agam nicht, sie ist für mich ein weiteres Sternchen am unübersichtlichen israelischen Schlagerhimmel. Aber ich weiss sehr wohl wer Bruno Mars ist und denke, alle Achtung Agam, als Vorsängerin für ein Bruno Mars-Konzert ins Ausland fliegen zu dürfen ist ein Karriereschritt, auf den du stolz sein darfst.

Etwas später erfahre ich aus den Medien, dass Agam gar nicht ins Ausland fliegt, sondern dass der Megastar Bruno Mars in Israel auf Tournee ist und heute Abend im Hayarkonpark in Tel-Aviv aufspielt. So macht die Sache mit der Vorsängerin Agam schon mehr Sinn, bedeutet aber immer noch ein beachtenswerter Erfolg.

Dann nimmt das Schicksal seinen Lauf und ehe ich mich versehe, befinde ich mich kurz nach sieben Uhr abends mit einer Freundin und meiner Tochter im „Golden Ring“ des Bruno Mars-Konzerts, von welchem ich am Morgen dieses Tages überhaupt noch nichts wusste. Spontan und gratis eingeschmuggelt von einem Crewmitarbeiter, Sohn der Freundin! Etwa 60‘000 Leute (+drei) drängeln sich im Park und warten fiebernd auf den Auftritt des Stars. Bruno und seine Band legen pünktlich und professionell zum geplanten Zeitpunkt los und hüpfen und fetzen in einer grandiosen und eindrücklichen Show fast zwei Stunden über die Bühne. Die Aufwärmesänger Mergui und Agam haben da noch einiges zu lernen.

Da ich nicht gerade der Musikshowfreak bin, habe ich einen Anlass dieser Ausmasse noch nie erlebt, sieht man von den Konzerten der Rolling Stones (ja, ja, DIE Rolling Stones) und Neil Young in Basel in den Achtziger Jahren ab, wo ja alles noch etwas geruhsamer zu und  her ging.

Nach Ende der Show strömen die 60‘000 Besucher aus dem Park in alle Richtungen, von der Polizei geschleust. Auf dem eigentlich kurzen Weg zum Bahnhof müssen wir kontrolliert an zwei abgesperrten Stellen warten, um zu verhindern, dass sich plötzlich Zehntausende auf den Bahnsteig drängeln. So dauert die Heimreise aufgrund der Menschenmassen fast zwei Stunden. Im Zug fängt nach Mitternacht meine Geburtstagsfeier an, untermalt von einem spontanen Happy-Birthday-Ständchen meiner Tochter, in welches natürlich alle Reisenden im Waggon einstimmen – Israel eben!

Fazit: ein aussergewöhnlich eindrückliches Erlebnis, das durch die Spontaneität und die Fügung des Schicksals, das uns die begehrten Tickets ganz unerwartet ausgerechnet an meinem Geburtstag in den Schoss schneite, noch um ein Vielfaches mehr faszinierte. Aber auch – zu viel Lärm für meine alten Ohren und zu viele Menschen und Gedränge. Und fast vier Stunden an Ort stehend zu verbringen, ist wohl auch eher etwas für Jüngere.

Immerhin, ich bin begeistert und sehr dankbar für dieses einmalige Erlebnis. Und jetzt, am Morgen danach sitze ich im Garten und starte mit einem grossen Beruhigungstee mit Honig in meinen Geburtstag, denn ich bin heiser und habe Ohrensausen und ein Hangover, als hätte nicht Bruno Mars, sondern ich persönlich gestern Nacht eine Megashow hingelegt.


Mittwoch, 13. September 2023

Himmel und Hölle


Als die ersten Menschen zu biblischen Zeiten durch die damals noch strassenlose Negevwüste und über die Eilater Berge an den Golf von Aqaba gelangten, musste ihnen die langgestreckte Bucht, in welche das Rote Meer an seinem Nordende ausläuft, paradiesisch schön erschienen sein. Eine von sanften, rötlich leuchtenden Bergkämmen geschützte Bucht breitete sich vor ihnen aus, mit weitläufigem Kieselstrand, trockenem Klima, klarem, spiegelglattem Meer und – falls die ersten Menschen schon baden gingen – einer Vielfalt von farbigen Korallen und Fischen im angenehm kühlen Wasser.

Blick auf Jordanien


Von diesem Paradies ist heute nichts mehr übrig. Im östlichen Drittel der Bucht liegt die jordanische Stadt Aqaba, welche ich zwar aus der Ferne betrachten, aber nur nach einer umständlichen Grenzüberqerung besuchen könnte. Im israelischen Teil der Bucht liegt die Stadt Eilat. Hier verschandeln unzählige riesige Hotelanlagen das einstige Paradies. Einige monströse, nicht identifizierbare Gebäude sind reichlich heruntergekommen oder liegen sogar leer, dem Verfall überlassen. Die Stadt ist katastrophal strukturiert: In der Stadtmitte stört der ausrangierte Flughafen, zurzeit eine unübersichtliche Baustelle. Wie eine eiternde Wunde klafft zwischen den Hotels die bedrohlich eingezäunte und nicht gerade charmant gestaltete Militärbasis. Den südlichen Teil der Stadt verunstaltet der kolossale Hafen.
Das Angebot an öffentlichem Verkehr ist minimal, dementsprechend ist die Stadt von Autos überfüllt und zum Bersten volle Parkplätze dominieren alle öffentlichen Anlagen.
Das türkisfarbene Meer täuscht. Die Korallenriffe sind grösstenteils zerstört und abgestorben. Unter der Wasseroberfläche ist alles grau, tot und hässlich. Vereinzelte Fische bringen noch etwas Farbe in die Unterwasserwelt, als stumme Mahnmale des einstigen Reichtums.
Etwa 99 % der Hotelgäste sind Israelis, die Billigferienangebote ihrer Arbeitgeber in Anspruch nehmen. (Wobei das Wort „billig“ mit Bedacht genossen werden muss, denn billig ist in Israel, dem offiziell teuersten Land der Welt überhaupt nichts.)
In den Hotels wimmelt es von schlecht erzogenen lärmenden Kindern und schwitzenden Erwachsenen in unvorteilhaften Bad- und Strandkleidern.
Über all dem weht der Hauch des Todes: Eine unerträgliche Hitze, rund um die Uhr. Ein starker heisser Wind bläst ununterbrochen, als halte jemand im Himmel einen Riesenföhn im Turbomodus auf die Stadt gerichtet. Sogar abends um acht zeigt das Thermometer noch 41 Grad und wer sich gar über Mittag nach draussen wagt, läuft Gefahr, lebendigen Leibes verbrannt zu werden!
Das israelische Tourismusbüro möge mir verzeihen, aber – Eilat ist die Hölle auf Erden!


Doch auch in der Hölle scheint es Lichtblicke zu geben: Wir bekommen ein dezent gestyltes grosses Hotelzimmer mit – am Allerwichtigsten – perfekt funktionierender Klimaanlage. Auch die Aussicht über den Pool ist famos (wenigstens morgens um sieben).



Und – das absolute Highlight: Der Mann an meiner Seite, den ich vor bald 40 Jahren ausgerechnet in Eilat kennengelernt habe, überrascht mich mit einem verwöhnenden Spa-Schwebe-Erlebnis. Schweben ist ja an sich schon ein traumhafter Zustand. Gesteuertes Schweben ist überwältigend! Das geht so: Ich schwebe in Rückenlage in einem überdachten Meerwasserbecken mit perfekter Wassertemperatur, ein kleines Kissen unter dem Kopf. Eine hübsche junge Dame, die ich aber schon nach zwei Minuten absolut nicht mehr wahrnehme, bewegt, dehnt und streckt vorsichtig meinen Körper. Sie dehnt meinen Nacken, streckt meine Wirbelsäule, bewegt meine Finger, lockert meine Beine, drückt meine Füsse. Während ich schwebe, halten mich ihre Hände (es scheinen mehrere zu sein) mit leichtem Drücken und Stupsen in ständiger Bewegung. 
Ich werde eins mit dem Wasser, mein Körper verliert seine Grenzen. Ich schalte ab und bin weg. Schwerelos, aber immer in Bewegung. Ich bin eine Welle. Eine Welle, getragen von anderen Wellen. Zusammen erzeugen wir das Meeresrauschen. Leise Unterwassermusik begleitet uns. An meinem Ohr ein fremder Herzschlag. Ist es meine Mutter, in deren Leib ich heranwachse? Atme ich? Oder nehme ich Sauerstoff über Kiemen auf? Meine Hüften wiegen sich in einem flüssigen Sambatakt (was man nicht alles kann, wenn man sich vergisst). Meine Extremitäten werden zu weichen, im Wasser tanzenden Flossen.
Nach einer Weile ohne Zeitmessung werden eben diese Flossen sanft nach unten gedrückt. Einige nachdrückliche Versuche bringen mich in die Vertikale. Ich erinnere mich, dass ich Beine und Arme habe und wundere mich, ob ich gerade geboren worden bin. Es ist vorbei, aber ich bin ruhig und glücklich.
Ich darf in einem der weiteren Becken noch etwas alleine vor mich hinschweben und nutze das Angebot ausgiebig. Danach gucken wir uns die Delphine an, die hier in zum Meer offenen Becken leben. Die Delphine lächeln. Kein Wunder! So schlimm ist es gar nicht in der Hölle.