Sonntag, 19. Januar 2025

Dicke Haut

Ich schreibe nicht mehr viel hier. Die Vorfälle überschlagen sich und in mir ist eine grosse Leere. Um anhaltende Trauer, Schrecken und Schock über die Ereignisse von mir fernzuhalten, habe ich mir im Laufe der Zeit eine dicke Haut zugelegt. Ermordet aufgefundene Geiseln, gefallene Soldaten, Opfer von Attentaten, Dutzende nur in den letzten zwei Wochen. Ich scrolle beim Lesen der Nachrichten nur noch schnell weiter, ohne mit der Schulter zu zucken. Alle Gefühle sind einer tiefen Frustration gewichen. Frustration über die weiterhin ausweglose Situation, über unsere Unfähigkeit, etwas zu ändern, über die offensichtliche Unfähigkeit des Staates Israel, die Dinge in bessere Richtungen zu leiten, über die fehlenden Partner, um die Dinge in bessere Richtungen zu leiten, über das weltweite Unverständnis oder Nicht-verstehen-wollen, über die haltlosen Anschuldigungen, über den aus allen Löchern hervortretenden und den vorherrschenden Normen entsprechenden Israel- und Judenhass, über das ernüchternde Isoliertsein.

Doch vor den kommenden Monaten bangt mir, trotz dicker Haut. Auch wenn es scheint, es könne nicht mehr schlimmer werden, befürchte ich, dass uns doch noch viel Schlimmeres bevorsteht. Das Abkommen mit der Hamas, dieser Pakt mit dem Teufel, wird eine Flut von schrecklichen Nachrichten in den Medien zur Folge haben. Eine sechs Wochen dauernde Höllentortur wird uns im Tröpfchen-Verfahren tote Geiseln, ermordete Geiseln, lebende Geiseln, missbrauchte und geschändete Geiseln bescheren. Was werden sie berichten? Was werden die an die Öffentlichkeit gelangenden Gräueltaten bei den Familien bewirken, die unterdessen in unvorstellbarer Angespanntheit auf Neuigkeiten warten? Was, wenn das Abkommen nach Freigabe der ersten Geiseln abgebrochen wird? Was wird mit den verbleibenden fast 70 Geiseln sein, die nicht in diesem Abkommen mit eingeschlossen sind? Wie viele weitere Monate und vielleicht Jahre werden sie in der Hölle schmoren müssen, bis sich jemand ihrer erbarmt?

Was immer sein wird, gut und schön wird es nicht sein. Ich will diese Schreckensnachrichten von mir fernhalten, aber wird das möglich sein? Ich befürchte, dass mich keine noch so dicke Haut wird schützen können. Die Nachrichten werden ihren Weg finden, durchzusickern.

Am Samstagmorgen heulen im Zentrum Israels die Luftschutzalarme aufgrund grossflächiger Raketensalven. Die Handy-App ziept und zurrt, denn ich habe sie unter anderem auf Tel-Aviv eingestellt, wo Sivan wohnt. Im Radio, aus welchem ich mich am Samstagmorgen von Musik berieseln lasse, folgen zeitgleich die Warnungen für alle anderen Orte in Israel. Die Bewohner werden dringlich aufgefordert, die Schutzräume aufzusuchen. Es ist Samstagmorgen, 10 Uhr 30, die Liste der betroffenen Orte ist lang und wird im Radio von einem wiederholten, unüberhörbaren, markerschütternden Geräusch untermalt. Es erinnert mich an einen anderen Samstagmorgen, den 7. Oktober 2023, als etwa um diese Zeit die Alarme gar nicht mehr abbrachen und die ersten Videos der Hamas-Terroristen in den Medien auftauchten, die in ihren schwarzen Uniformen und den grünen Stirnbändern auf weissen Pick-Ups schwer bewaffnet und mordend durch die israelische Ortschaft Sderot kurvten.

"Guten Morgen", schreibe ich Sivan, um zu ermitteln, ob sie in Ordnung ist. "Alarmmorgen", schreibt sie kurz angebunden zurück.

Am Nachmittag dieses Samstags sticht ein 19-jähriger palästinensischer Attentäter in Tel-Aviv mit einem Messer auf Passanten ein und verletzt mehrere. Das Attentat ereignet sich in der Levontinstrasse, wo ich selbst am Donnerstagabend in einem hervorragenden japanischen Restaurant gegessen habe. Der Attentäter wird schnell erschossen, denn Waffen zur Selbstverteidigung sind unter Israelis – aus Gründen – weitverbeitet. Auch in meiner Familie tragen viele der Männer Waffen, um uns im Notfall zu schützen. Der Videoclip des Attentats, welchen mir Lianne am Abend unter die Nase hält, zeigt junge Leute im Alter meiner Kinder, die abgestochen werden oder Waffen zücken. Wie traurig, dass unsere Kinder gezwungen sind, Waffen zu gebrauchen.

Am Abend schaue ich auf Netflix den Film "die letzten Tage", in welchem fünf ungarische Juden, Überlebende des Holocaust, ihre Geschichten erzählen. Ich erkenne viele Parallelen zu der heutigen weltweiten Situation. Mein Empfinden beim Betrachten des Filmes schliesst an den Eröffnungsabschnitt dieses Beitrags an: das weltweite Unverständnis, das Nicht-sehen-wollen, die haltlosen Anschuldigungen, der den vorherrschenden Normen entsprechende Judenhass, das Isoliertsein, sie sind dieselben. Wie ist das nur möglich, nur achtzig Jahre danach?

Am Sonntagmorgen zieht die israelische Armee aus dem Gazastreifen grösstenteils ab. Das erklärte Ziel, die Hamas zu vernichten, ist nicht erreicht. Nachdem sich die Terroristen eineinhalb Jahre in ziviler Kleidung unter die palästinensischen "Zivilisten" gemischt haben, tragen sie schon kurz nach Abzug der Armee wieder ihre schwarzen Uniformen und die Stirnbänder, kurven in Siegespose auf ihren weissen Pick-ups durch Gaza und skandieren den ewigen heiligen Krieg und Tod den Juden. Die Menschen in den Strassen, die vor kurzem noch Zetermordio geschrien haben, jubeln ihnen zu. 

Mit einiger Verspätung geben die Teufel die Namen der ersten drei Frauen bekannt, die heute in diesem Pakt freikommen sollen. Die 19-jährige israelische Frau auf dem Bild (Bildausschnitt aus einem Video vom 7.Oktober 2023) ist nicht dabei.




2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Die Hamas zelebriert diese psychologische Folter und kostet sie voll aus. Es werden in der Tat schreckliche Wochen folgen. :-(

Yael Levy hat gesagt…

Stürzen wir uns in die Arbeit, in Hobbies, in was immer uns gut tut...