Donnerstag, 30. Oktober 2025

Berg und Tal



Das Leben ist eine unaufhaltsame Welle, ein turbulentes Auf und Ab, das uns zwischen Glück und Schmerz hin- und her wirft. Gerade habe ich vielleicht die zwei emotional aufwühlendsten Wochen meines Lebens hinter mir. Sie begannen mit einem Wunder: Die zwanzig noch im Gazastreifen verbliebenen lebenden Geiseln kamen frei. Etwas, an das kaum noch jemand zu glauben wagte. Ein Hoffnungsschimmer inmitten dunkler Tage. An jenem historischen Morgen katapultierte mich ein vierstündiger Flug diesmal nicht nur in ein anderes Land, sondern ans Sterbebett meiner Mutter – in ihren letzten Stunden. 

Ganz an der Spitze der Skala überwältigender Lebensphasen rangieren zweifellos die Geburten unserer Kinder – lange her. Vor allem die Geburt unseres Sohnes. Eine tragischer Fehler – eine falsch berechnete Dosis Schmerzmittel nach der Brit Mila, brachte unser Neugeborenes in Lebensgefahr. Der Tag endete in der Notfallaufnahme. Heute ist diese Zeit eine fast amüsante Anekdote in unseren unberechenbaren Leben. 
Zu den weiteren chaotischen Höhepunkten auf der Achterbahnfahrt des Lebens zählt unsere Hochzeit. Es war ein aufregendes, schicksalsträchtiges Fest, zu dem zahlreiche Verwandte aus der Schweiz angereist waren. Da wir in unserer kleinen Junggesellenwohnung Gäste beherbergten, verbrachten wir die Hochzeitsnacht auf einer Matratze auf dem Balkon. 
Viele freudige sowie auch schmerzliche Ereignisse und Zeiten folgten. Hochzeiten und Geburten, Kriege und Krebs.

Doch die vergangenen zwei Wochen übertreffen aus meinem jetzigen Blickwinkel alles, was das Leben an Turbulenzen bisher zu bieten hatte. 

Wenige Stunden nach meinem Besuch starb meine Mutter. Es war absehbar – und doch ist man auf den Moment nie vorbereitet. Nach ihrem Tod überlegte ich, bis zur Beerdigung nach Israel zurückzureisen. Wieder einmal war ich hin- und her gerissen zwischen meiner Familie in der Schweiz und der Familie in Israel. 

Längere Aufenthalte in meinem Elternhaus hatte ich in den letzten Jahren vermieden: die Stille, die Dunkelheit, der abgestandene Pfeifenrauch waren bedrückend. Und jetzt kam noch die Abwesenheit meiner Mutter hinzu – wo doch jeder Gegenstand von ihrer Nähe erzählt. In einem Beutel, den jemand aus dem Spital brachte, liegt ihre Bürste, in der noch silberne Haare hängen. Ihre Brille. Sie ruht nun im Nachttischchen, bei den warmen Socken, die einst ihre Füsse wärmten. 

Doch diesmal war die letzte Gelegenheit gekommen, mich all dem zu stellen. Ich beschloss spontan, bei meinem Vater zu bleiben. 

Die folgenden zwei Wochen waren von einem leisen, unerwarteten Wandlungsprozess geprägt. Ich half meinem Vater bei den kleinen Dingen des Alltags, die ihm immer schwerer fielen. Und er, einst streng und unnachgiebig, machte sich nun klein und nahm meine Hilfe dankbar an. Langsam verschwand die Mauer zwischen uns, und an ihre Stelle traten Demut, Vergebung, Nähe und Dankbarkeit.

Die Beerdigung meiner Mutter war wunderschön und doch erschütternd. Die Kirche war randvoll mit Menschen, die sie geliebt haben – sie war ein selbstloser Mensch mit einem grossen Herzen. 

Doch der Anblick der Urne zog mir den Boden unter den Füssen weg. Wie wenig von uns bleibt, wenn wir unser Leben zurückgeben! Eine Handvoll nichts und einige Erinnerungen. 
Der Himmel weinte an diesem Tag. Der strömende Regen, das Wiedersehen mit Cousins und Cousinen, ehemaligen Nachbarskindern, Bekannten und Verwandten, von denen ich viele seit vierzig Jahren nicht gesehen hatte, und dabei meine Mutter in einer Urne – das alles verlieh dem Tag etwas vollkommen Surreales. 

Unterdessen habe ich mein Elternhaus und meinen Vater wieder verlassen, ungewiss, ob wir uns je wiedersehen werden. Wie bezeichnend, dass er ausgerechnet auf meinem letzten Foto unscharf ist und zu verblassen scheint.

Das Leben gleicht einer Berg- und Talfahrt. Es nimmt uns immer wieder erbarmungslos in die Mangel, wirbelt uns durch und spuckt uns aus, damit wir uns von Neuem aufrappeln. Und das ist gut so. Denn am Ende bleibt von uns allen nicht mehr als ein Häufchen Staub.




Mittwoch, 22. Oktober 2025

Leise Spuren



Vor etwas mehr als einer Woche ist meine Mutter gestorben. Es war absehbar. Ich bin rechtzeitig in die Schweiz geflogen, und sie konnte meine letzte Umarmung mit auf ihre Reise nehmen.

Der Tod ist zutiefst erschütternd in seiner Endgültigkeit - und zugleich ein Erweckungsmoment. Wie möchte ich leben, bevor er zu mir kommt? Diese Frage stellt sich unweigerlich, wenn jemand Nahestehendes diese Welt verlässt.

Als ich in ihren letzten Stunden an ihrem Bett sitze, sinne ich darüber nach, dass der Mensch im Grunde ein ganz einfaches Wesen ist – mit einer viel zu komplizierten Schaltzentrale.
Was brauchen wir wirklich mehr als ein paar liebe Menschen um uns, Sonne auf der Haut, vielleicht auch Regen und Wind, der uns die Haare zerzaust. Ein wenig Gemüse im Garten, damit wir mit den Händen in der Erde wühlen können.
Aber wir rennen umher, erfinden Gründe, Motive, Zusammenhänge. Geschichten, die wir für unser Leben halten.

An meine Kindheit habe ich nur wenige Erinnerungen. Meine Mutter hatte mit mehreren kleinen Kindern und der Last der Hausarbeit, für die es damals kaum moderne Hilfsmittel gab, alle Hände voll zu tun. Für jedes einzelne Kind blieb wenig Zeit.
Als Jugendliche ging sie mir oft auf die Nerven. Sie war – als verlängerter Arm meines Vaters – dafür zuständig, dass ich meine Ämtchen erledigte und mein tägliches Geigenüben nicht vernachlässigte. Mit ihrer ruhigen, zurückhaltenden Art war sie alles andere als durchsetzungsstark. Das führte zu Machtkämpfen, die ich genüsslich in die Länge zog. Später fand ich ihre Ansichten zu Partnerschaft, Familie und Religion altmodisch. Mit zwanzig zog ich in meine eigene Wohnung.

Aber meine Mutter war nicht nachtragend – im Gegenteil. Sie liebte bedingungslos. Als ich nach Israel zog, sorgte sie sich um mich und meine wachsende Familie aus der Ferne.
Auf ihre jährlichen Geburtstagspakete an jedes einzelne Familienmitglied war stets Verlass, liebevoll zusammengestellt und immer persönlich. Auch zu Ostern oder Weihnachten trafen regelmässig Päckchen ein, mit Schokolade, Christbaumschmuck oder kleinen Überraschungen – selbst lange, nachdem ich zum Judentum übergetreten war.

Jetzt liegen in meinem Elternhaus die sorgfältig gefalteten Leintücher in der Schublade, die sie nie mehr öffnen wird. Der Duft von Seifen und Lavendelsäckchen in der Wäscheschublade hat sie überlebt – stille Zeugen ihres Daseins. Sie erzählen davon, dass meine Mutter eine perfekte Hausfrau war. So hatte man es den jungen Frauen damals beigebracht. Die Familie, der Ehemann, die Kinder und der Haushalt waren ihr Lebensinhalt. Meine Mutter opferte sich mit grosser Liebe dafür auf.

Ich habe von meiner Mutter mitbekommen, dass ein Mensch auch leise, ja sogar stumm, wesentlichen Einfluss haben kann. Man muss kein Haudegen sein oder sich in den Vordergrund drängen, um sein Umfeld zu prägen.

Meine Eltern waren 65 Jahre verheiratet. Für meinen Vater war meine Mutter sein zweites Paar Augen, Ohren und Hände. Eine Stimme für alles, was er selbst nicht sehen konnte, sein Zugang zu anderen Welten. Sie war sein weiches Polster in einer harten Wirklichkeit. Nun hat er sie überlebt und steht vor einem tiefen Loch.

Ich bin traurig und nachdenklich, weil ein Kapitel meines Lebensgeflechts zu Ende gegangen ist. Wenn ich an dieses Kapitel zurückdenke, überwiegen die guten Erinnerungen. Das helle Lachen meiner Mutter wird mir für immer in den Ohren klingen.



Montag, 13. Oktober 2025

Mein Treffen mit Präsident Trump




Spontan fliege ich schon wieder in die Schweiz. Kaum habe ich den Entschluss gefasst und einen Flug gebucht, wird bekannt gegeben, dass Präsident Donald J. Trump höchstpersönlich Israel beehren und in der Knesset eine Ansprache halten wird. Ausgerechnet am Montag, dem Tag meiner Abreise!

In den dramatischen Stunden davor werden – nach Trumps Plan – endlich alle Geiseln freigelassen, auf die wir zwei lange Jahre inbrünstig gewartet haben. Wer hätte gedacht, dass dieser Horror tatsächlich ein Ende haben wird! Ganz Israel befindet sich in einem historischen Freudentaumel. Wir möchten Trump die Füsse küssen, auch wenn er ein chauvinistisches Ekel und eine kulturelle Banause ist. Soll sich doch die ganze Welt über den Mann mokieren, der an Staatsbanketts auf Ketchup besteht. Es ist uns egal. Unsere Brüder und Schwestern sind endlich frei, bei ihren Familien! 

Doch das Timing ist denkbar schlecht. Es hat das Potential für einen logistischen Albtraum: Mein Flug hebt nur zehn Minuten nach Trumps Landung ab!

Die Vorbereitungen am Flughafen Ben-Gurion und den zuführenden Verkehrsachsen laufen in den Stunden vor Trumps Ankunft auf Hochtouren. Die Schnellstrasse nach Jerusalem, die Hauptzufahrtstrasse an den Flughafen, ist gesperrt. Der Flughafen ist von bewaffneten Sicherheitskräften umzingelt. Und der Luftraum? Werden wir fliegen?
Immerhin hat man den Zugverkehr „intensiviert“ und ich reise trotz der Verkehrseinschränkungen bequem und pünktlich an.

Genau zur Zeit meines Abflugs findet am Ben-Gurion-Flughafen die grosse Begrüßungszeremonie statt. Präsident Herzog, Premierminister Netanyahu, Frau Netanyahu, die gesamte nationale Prominenz versammelt sich.
Und ich, mittendrin. 

Doch entgegen aller Befürchtungen verläuft mein Check-in wie am Schnürchen. Ich sitze rechtzeitig im Flugzeug. Kein Agent des Secret Service hält mich versehentlich auf. Kein Gedränge. Kein "Balagan". Nur eine Menge Israelis, die in diesen historischen Momenten der Weltgeschichte wie Bessessene über alle möglichen Bildschirme an den Nachrichten hängen.

Kurz vor dem Abflug spähe ich neugierig aus dem Fenster. Die eindrückliche Maschine der Air Force One ist eben angerollt. Da liegt der rote Teppich – und da – sind das nicht King Bibi und seine Frau Sara? 
Und dann sehe ich IHN, Präsident Trump, wie er mit wehenden orangen Haaren die Gangway hinunterschreitet.

Unsere Blicke treffen sich. Die Zeit steht still. 
Ich winke. 
Er winkt zurück.

Melania verengt die Augen zu gefährlichen Schlitzen – aber ich bleibe standhaft. Ich blinzle Präsident Trump verschwörerisch zu und flüstere durch das Doppelfenster ein leises „Danke!“

Dann heben wir ab. Ich bestelle einen Orangensaft und lehne mich zurück, in der Gewissheit auf den Beginn einer neuen politischen Realität im Nahen Osten.

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Was wahr ist an der Geschichte:
Ich fliege in die Schweiz.
Präsident Trump landet genau zur Zeit meines Abflugs.
Natürlich bekomme ich ihn nicht zu Gesicht.
Während ich fliege, hält Trump eine Rede in der Knesset.
Zwanzig lebende Geiseln sind endlich frei!





Sonntag, 12. Oktober 2025

Vermeidbares Leid

In meinem Beitrag "die Kindertränen-Show" schrieb ich vor einigen Tagen, dass auch in Israel erschütternde und verzweifelte Schicksale existieren. Geschichten, die in deutschen Talkshows nicht erzählt werden, weil sie nicht in das gängige Narrativ passen. 

Einer von ihnen war Roee Shalev, ein junger Mann im Alter von Sivan, aus einem Dorf in unserer Gegend, ein Überlebender des Nova-Festivals. Am Morgen des 7. Oktobers suchten Roee, seine Partnerin Agam und ihre Freundin Hili auf dem Festival-Gelände unter zwei Autos Schutz vor dem Kugelhagel. Neben ihm wurden Agam und Hili aus nächster Nähe erschossen. Roee überlebte mit mehreren Schusswunden, nach langen Stunden, in denen er hilflos neben den zwei Ermordeten lag. Gefangen in einen Albtraum, der kein Ende fand. Zwei Wochen nach seiner Rückkehr nahm sich seine Mutter Rafaela das Leben, sie konnte den Schmerz ihres Sohnes und die Bilder des Grauens nicht ertragen. Und nun, zwei Jahre später, hat auch Roee am Freitag seinem Leben ein Ende gesetzt. „Ich halte diesen Schmerz nicht mehr aus, ich verbrenne innerlich“, schrieb er in seinem Abschiedspost.

Es gibt in Israel unzählige solcher Geschichten. Sie bleiben in Europa ungehört, denn sie passen nicht in die politische Debatte. Stattdessen zeigt man Bilder palästinensischer Kinder und fragt hinterlistig nach Verhältnissmässigkeit. Als wäre Leid vergleich- oder messbar. Als gänge es den Israelis um Rache. 

Am Montag sollen alle Geiseln – Tote wie Lebende – freikommen. Ganz Israel hält den Atem an, zwischen vorsichtiger Euphorie und banger Erwartung. Wenn alles gelingt, könnte dieser Montag einer der grössten Freudentage der letzten Jahre werden.

Einer der Geiseln ist Bar Kupperstein, ein aufrichtiger, fleissiger junger Mann, der als Sicherheitsmann beim Nova-Festival arbeitete. Mit seinem Einkommen unterstützte er seine Eltern, von denen der Vater nach einem Unfall schwerbehindert ist. Viele Israelis kennen ihre Gesichter: der Vater im Rollstuhl sitzend, unter grosser Anstrengung artikulierend und nur schwer verständlich, die Mutter erschöpft von der Last, die Familie mit den besonderen Bedürfnissen durchzubringen.
Auf einem der Videos, die die Terroristen am 7. Oktober verbreiteten, sieht man Bar am Boden liegen, die Hände gefesselt. Als er bemerkt, dass die Mörder filmen, nennt er geistesgegenwärtig seinen Namen, in der Hoffnung, jemand möge ihn erkennen.

Zwei Jahre! Zwei Jahre voller Ungewissheit, Schmerz und unfassbarem Leid.
Auch ich wünsche mir in diesem Moment nichts sehnlicher, als dass diese Unschuldigen endlich freigelassen werden. Dass der Montag ein Tag der Freudentränen wird.

Doch bei aller Euphorie – ich komme nicht umhin, zu denken – wie viel einfacher wäre alles gewesen, wie viel Leid wäre vermeidbar gewesen, hätte man diese Menschen gar nicht erst verschleppt.




Dienstag, 7. Oktober 2025

Zum 7. Oktober

Über den 7. Oktober 2023, der alles verändert hat.

Über zwei Jahre täglicher Kampf mit dem Trauma.

Über den heutigen Gedenktag.

Über einen Krieg, der nicht am 7. Oktober begann – aber seit diesem Tag jede Grenze sprengt.

Über das ständige Ringen mit dieser unerträglichen neuen Realität.

Über die Geiseln, die seit zwei Jahren in Gaza festgehalten werden.

Schreibe ich heute nichts.







Freitag, 3. Oktober 2025

Die Kindertränen-Show

Ich habe mir in diesen Tagen die ZDF-Diskussionssendung von Martin Lanz vom 30. September über den Krieg in Israel und Gaza und den neuen „20-Punkte-Plan“ angesehen. Schade, dass ich nicht zu der Diskussion eingeladen war. Ich hätte sehr Grundlegendes beitragen können.

Immerhin, die souveräne Melody Sucharewicz liess sich von den drei voreingenommenen Diskussionspartnern nicht kleinkriegen. Sie stellte mit Nachdruck anti-israelische Positionen infrage und wies ihre Kontrahenten mit schlagkräftigen Beispielen und pointierten Argumenten in die Schranken. Auf einer ganz anderen Ebene fand ich auch ihre gewaltige blonde Lockenpracht hinreissend.
Wer hingegen das anti-israelische Narrativ bedient, fand vermutlich Daniel Gerlach, Chefredakteur des Nahost-Magazins „zenith“ überzeugend.
Ebenfalls auf dem Podium war Katrin Glatz-Brubakk, eine Kinderpsychologin von Ärzte ohne Grenzen. Sie berichtete eindringlich von ihrer Arbeit im Gazastreifen, von den fast unmöglichen Bedingungen der humanitären Hilfe und von zutiefst erschütternden Schicksalen verletzter und traumatisierter Kinder. Bilder von einigen der Kinder wurden gross im Hintergrund eingeblendet. Das kann keinen kalt lassen. Das Engagement von Frau Glatz-Brubakk ist zweifellos bewundernswert. Unter grossem persönlichen Risiko gibt sie ihren Mitmenschen und ihrem eigenen Leben Sinn. Ich nehme an, dass sie auch politische Meinungen hat, in dieser Talkshow sprach sie aber nicht darüber.

Dass es für Kinderpsychologen auch in Israel viel Arbeit gäbe, ist ein anderes Thema. Mit den am 7. Oktober ermordeten Kindern könnte zwar auch Glatz-Brubakk nicht mehr arbeiten, aber mit den Traumatisierten schon. Wo sind die Ärzte ohne Grenzen für die Kinder von Sabine Taasse, für Avigail, Michael und Amalia aus Kfar Aza, für Ariel aus Nir Oz, um nur einige Beispiele zu nennen? Wo bleibt die internationale Unterstützung für die Hunderttausenden israelischer Kinder, deren Alltag von nächtlichen Fluchten in Schutzräume geprägt ist?

Aber das interessiert in Europa keinen. In Israel wächst schliesslich das Geld auf den Bäumen und demzufolge können sich die Israelis um sich selbst kümmern. Ausserdem haben sie den Iron Dome, das Abwehrsystem – das dort auch vom Himmel zu fallen scheint. 
Ob nun diese oder jene Argumente Propaganda sind, diese oder jene angeführten Beispiele der Wahrheit entsprechen – darum sollte es jedoch gar nicht gehen. Der ganze Diskurs verläuft in eine komplett falsche Richtung. Es geht um etwas viel Grundsätzlicheres.

Warum wird dem Leid der Kinder so viel Raum gegeben? Diskutiert man etwa darüber, ob der Krieg schrecklich sei oder nicht? Wissen wir das nicht schon? Oder geht es einfach nur darum, Israel als Sündenbock herbeizuziehen?
Aber vor allem wird in deutschen Medien einmal mehr vermittelt:

Krieg muss um jeden Preis verhindert werden.

Krieg ist das grösste moralische Tabu dieser Gesellschaft. Ein Reflex, der angesichts des kollektiven Traumas des Zweiten Weltkrieges nachvollziehbar ist. Doch genau darauf sollte der mediale Fokus in Deutschland gerichtet werden.

Der Zweite Weltkrieg endete nicht durch Friedensappelle, sondern durch massive militärische Gewalt. Ganze deutsche Städte wurden ausgebombt. Das war brutal und schrecklich – doch ohne dieses Eingreifen wäre der systematische Völkermord nicht gestoppt worden. Die Befreiung von Konzentrationslagern wäre ausgeblieben oder sehr viel später erfolgt. Millionen weitere Opfer wären die Folge gewesen. Das Ende des Zweiten Weltkriegs durch massive Gewalt führte zu einer klaren Zäsur in der Weltgeschichte. Wäre es nicht dazu gekommen, hätten wir möglicherweise kein klares Ende erlebt, sondern ein Fortbestehen der faschistischen Diktaturen, eine Ausweitung der Gewalt gegen Zivilisten und womöglich noch zerstörerischere Konflikte in den Jahrzehnten danach.


Das sind Spekulationen. Sicher ist: Hätte es 1944 schon Talkshows gegeben, hätten sich Kinderpsychologen über die fürchterlichen Schicksale der Kinder in den Trümmern in Ekstase reden können. Und Herr Lanz hätte den Diskussionsteilnehmer der alliierten Streitkräfte gefragt „Zum Begriff der Verhältnismässigkeit – können sie damit etwas anfangen?“

Worüber wir wirklich sprechen sollten: Krieg ist schrecklich. Doch ihn nicht zu führen, ist leider nicht immer eine Option. Zerstörerische Ideologien haben in den letzten Jahren, ohne dass jemand etwas dagegen unternommen hätte, immense militärische Kapazitäten aufgebaut. Sie sind zu einer echten globalen Bedrohung geworden. Das nicht wahrhaben, ist fatale Ignoranz.
Wenn eine Seite kompromisslos kriegerische Absichten hat und die andere Seite jeden Konflikt um jeden Preis vermeiden will, ist das Ergebnis absehbar. Deshalb wäre es ehrlicher, weniger über Einzelschicksale zu reden – so erschütternd sie sind – und stattdessen mehr über die Konsequenzen des Nicht-Handelns und über die Verantwortung, die sich daraus ergibt. Das Beweinen der Kinder in Gaza, ohne den wirklichen Elefanten im Raum anzusprechen, hilft niemandem, am allerwenigsten den Kindern in Gaza.


Noch etwas fürs Auge: das Nabi-Jusha Gebiet in Obergaliläa








Dienstag, 30. September 2025

Jerusalem



Gibt es eine packendere, eine widersprüchlichere, eine verrücktere Stadt als Jerusalem?
Unser Tag beginnt an einem Freitag zwischen den Feiertagen im lebendigen Chaos des Shuk Machane Yehuda. Wer das Gedränge nicht mag, sollte jedoch freitags besser einen Bogen um den Markt machen. Die engen Gassen sind von Menschen überfüllt. Berge aus frischem Obst und Gemüse locken, sowie ein vielfältiges Angebot an Gewürzen, Gebäck, Tee, frisch gemahlenem Kaffee, Halva und lecker riechenden exotischen Speisen. Ausserdem schiessen in den letzten Jahren hippe Bars wie Pilze aus dem Boden. Sie laden ein, bei einem Getränk und feinen Häppchen das Wochenende einzuläuten und das Treiben zu beobachten. Hier trifft die ganze Bandweite Jerusalems aufeinander: säkulare Geniesser, religiöse Juden beim Schabbat-Einkauf, arabische Verkäufer, junge Trendsetter. 
Nachdem wir einige Runden durch das Getümmel gedreht haben, verstauen wir unsere Einkäufe im Auto und spazieren in Richtung Altstadt.



Kurz vor dem Mamilla-Center machen wir Halt im Café Sira. Mehrere verwinkelte Räume sind über und über bedeckt mit Graffiti und Stickern, die keinen Zentimeter Wand blank lassen. Hier treffen sich vor allem linksliberale Studenten. Sie tragen Secondhand-Mode, viele sind tätowiert. Der Geruch von Marihuana hängt in der Luft. Am Tresen werde ich gefragt, ob ich meinen Cappuccino mit Soja- oder Mandelmilch möchte. Wie auch immer – er ist stark und schmeckt perfekt.

Gestärkt laufen wir weiter bis zum Damaskustor, kommen aber zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt dort an. Ein Strom von muslimischen Gläubigen kehrt vom Freitagsgebet auf dem Tempelberg zurück. Tausende Männer und wenige Frauen und Kinder strömen in einem nicht abreissenden Strom aus dem Tor, das wir gerade betreten wollten. Viele der Männer tragen lange helle Gewänder und traditionelle Bärte, zu abrasierten oder sehr kurz geschnittenen Schnurrbärten. Die Frauen sind züchtig verschleiert, die Kopftücher liegen eng am Haupt und verdecken meisst auch die Stirne. Einige tragen Vollverschleierung inklusive dem Niqab, dem Gesichtsschleier. Der Gedanke, uns in entgegengesetzter Richtung in diese Menschenmenge zu stürzen, ist nicht gerade einladend und so setzen wir uns auf die Treppe vor dem Tor und bestaunen die überwältigende, so fremdartig wirkende Menschenflut. Der Strom nimmt kein Ende! Das war zu erwarten, denn das Freitagsgebet wird jeweils von mehreren Zehntausend Menschen besucht. Wir sitzen eine Weile da, dann ändern wir spontan unsere Pläne und besteigen den Bus in die ehemalige Deutsche Kolonie.



Dort, wo früher Güterzüge zum Hafen in Jaffa fuhren, verläuft heute auf den Gleisen ein belebter Fuss- und Radweg, flankiert von Food-Kiosken aller Art. Die restaurierten Templerhäuser tragen teilweise deutsche Inschriften. Nach dem orientalischen Gewusel am Damaskustor mutet die Stimmung hier entspannt und europäisch an. Junge, liberal-religiöse Familien schlendern vorbei. Sie verweilen in den Kiosken, trinken etwas, Kinder essen Eis. Die Männer tragen kurze Bärte und Kippa, die Frauen Hosen oder Röcke in allen Längen und Kopfbedeckungen aus modisch ins Haar geflochtenen Tüchern.
Nach einem kleinen Imbiss und einer Zickzack-Tour durch das Quartier wagen wir uns noch einmal in Richtung Altstadt. 

Durch das Zionstor gelangen wir ins armenische Viertel und vorbei an griechischen Klöstern und Gebetshäusern zur Grabeskirche. Unterwegs kaufen wir bei einem arabischen Strassenhändler frische Datteln. Der junge Mann vermutet in Eyal einen Araber und benennt den Preis für ein Kilo Datteln auf Arabisch mit „thamaniya“ – acht. Dann bemerkt er seinen Irrtum und korrigiert auf das Hebräische „esser“ – zehn.



Obwohl ich schon unzählige Male in der Grabeskirche war, überwältigt mich die Atmosphäre jedes Mal aufs Neue. Der besondere Lichteinfall, der Duft von Weihrauch, die Gesänge verschiedener christlicher Konfessionen, die alle an diesem Ort zusammenfinden – sie erzeugen eine zutiefst eindrückliche Stimmung von Exotik und Spiritualität. 
Gleichzeitig mit uns besucht ein kirchliches Oberhaupt die Kirche. Begleitet von mehreren schwarz gekleideten Würdenträgern mit langen Bärten, Talaren und kunstvollen Stolen wandelt die Delegation durch die heiligen Räume. Als sie durch das grosse Tor und über den Platz vor der Kirche prozessieren, trommeln ihre verzierten Pastoralstäbe in einem machtvollen Ritual rhythmisch auf den Jerusalemer Steinboden. Passanten bleiben stehen. Man kann das ungewöhnliche Schauspiel weder übersehen noch überhören. 

Um uns eine Meinung darüber zu verschaffen, wer in diesem Wettbewerb der skurrilen religiösen Traditionen am besten abschneidet, gehen wir zum Einbruch des Schabbats weiter zur Klagemauer. Der Platz füllt sich minütlich mit Männern, Frauen und Kindern in festlicher Kleidung.
Ein bekannter Rabbi trifft zum Gebet ein. Hier ist es nicht das rhythmische Aufschlagen wertvoller Bischofsstäbe, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht, sondern eine schwarze Limousine, die über den ansonsten verkehrsfreien Platz gefahren und sofort von einer Menschentraube umringt wird. Ein kleines, gebücktes Männchen entsteigt dem Auto und verschwindet, in einen Gebetsschal gehüllt und begleitet von zahlreichen Männern in schwarzen Anzügen und weissen Hemden, in der Synagoge.
Sämtliche Frauen auf dem Platz tragen lange Kleider oder Röcke, die sephardischen Männer schwarze Anzüge und Hüte oder einfache Kippot. Die aschkenasischen Orthodoxen hingegen tragen schwarze Kaftane, Kniestrümpfe und die charakteristischen Shtreimel-Hüte aus Pelz.



Am Ende des Tages fahren wir mit dem Taxi zurück, denn der öffentliche Verkehr ist nun wegen des Schabbat eingestellt.
Der redselige Taxifahrer winkt pragmatisch ab, als wir uns über die extreme ethnische und religiöse Vielfalt äussern. „Wir Jerusalemer sind das gewohnt“, meint er. „Jeder kennt seinen Platz, und so funktioniert das Zusammenleben.“ 
Ganz überzeugt bin ich nicht. Eher wirkt es, als lebten die Menschen hier auf einem Pulverfass, das jederzeit explodieren könnte.

Und doch – im historischen Vergleich ist die heutige Koexistenz bemerkenswert friedlich, trotz aller Spannungen.
Das war nicht immer so. In einer konfliktreichen Geschichte wechselte die Vorherrschaft über Jerusalem immer wieder zwischen den Religionen ab, wobei die anderen Religionen ebenso abwechselnd manchmal geduldet, manchmal unterdrückt und manchmal vertrieben wurden. Nachdem die UNO 1947 die Teilung des britischen Mandatsgebietes in einen jüdischen und einen palästinensischen Staat beschlossen hatte, verhinderte das Königreich Transjordanien den palästinensischen Staat, in dem es sich 1948 das Westjordanland und Ost-Jerusalem gewaltsam einverleibte und bis 1967 besetzt hielt. Die Jordanier vertrieben die jüdische Bevölkerung, zerstörten alle Synagogen und verboten den Juden den Zugang zu ihren heiligen Stätten. Neunzehn Jahre lang gab es keinerlei jüdische Präsenz in der Altstadt. Auch Christen litten unter wirtschaftlichen und politischen Einschränkungen. Erst nach dem Sechstagekrieg erhielten 1967, unter der Verwaltung Israels, alle Religionen wieder Zugang zu ihren heiligen Orten.
Seither verwaltet Israel die Altstadt politisch, während die religiöse Verwaltung der wichtigsten muslimischen Stätten bei jordanischen Behörden liegt.

Jerusalem polarisiert. Es ist chaotisch, widersprüchlich, unruhig, voller Spannungen. Mystik und Spiritualität sprechen hier aus jedem Stein und sind zugleich gelebter Alltag. Jerusalem ist zweifellos ein ewiges Pulverfass. Mich persönlich fasziniert diese Stadt der Extreme immer wieder aufs Neue.