Dienstag, 28. Dezember 2021

Eine Prise Chaos

Geschrieben im August 2021




Während unseres Urlaubs in der Schweiz dürfen wir eine Woche die Wohnung meiner Schwester hüten. Ein wenig beneide ich meine Schwester um ihre wunderschöne moderne und grosszügige neue Wohnung und ich bin von den praktischen und gut durchdachten Einrichtungen der Wohnanlage fasziniert. 

Die Wohnung liegt im zweiten Stock und als ich eines Morgens Lust auf frische Gipfeli zum Frühstück habe, bin ich verblüfft, wie angenehm logisch und einfach das Leben sein kann: Ich fahre mit dem Lift in die Tiefgarage. Im ganzen unteren Stock riecht es betörend nach frisch gewaschener Wäsche. Im unterirdischen Veloraum nehme ich ein Fahrrad und schiebe es in die Garage. Dort gehen, ohne dass ich einen Schalter betätige, die Lichter an. Ich setzte mich aufs Fahrrad und nähere mich langsam dem Garagentor, welches sich bei meinem Entgegenkommen vollautomatisch öffnet. Nach nur dreissig Sekunden rasanter Fahrt bergab stehe ich im nahegelegenen Volgladen vor der verführerischen Gebäckauslage, die schon ab 6:30 Uhr morgens auf Kunden wartet. Nach einer Minute Velofahrt zurück - jetzt bergauf - nähere ich mich wieder dem Garagentor, welches sich von aussen mit der Fernbedienung öffnen lässt. Ich fahre die Einfahrt hinunter direkt in die Garage, wo bei meinem Eintreffen erneut die Lichter angehen. Das Tor schliesst sich leise hinter mir. Vorbei am Duft der frischgewaschenen Wäsche fahre ich im Lift nach oben und lege nach nur fünf Minuten und ohne geschwitzt zu haben frische Gipfeli auf den Teller.

Bei uns gibt es so etwas Vergleichbares nur in einem der wenigen High-Class Luxuswohntürme in Tel-Aviv, wo eine Wohnung horrende Summen kostet. Oder im Film, wo dann auch noch ein frisch rasierter und gut duftender George Clooney im Bett auf die Gipfeli wartet.




In unserer israelischen Realität für Normalsterbliche hingegen...

Der Supermarkt in unserem Wohnort öffnet zwar schon um 7:30 Uhr, aber erst eine halbe Stunden später wird das erste Gebäck in den Ofen geschoben. Das spielt auch keine Rolle, denn es ist pampiges Margarinegebäck, auf welches es sich nicht zu warten lohnt. Ich habe kein Fahrrad mehr, seit meines vor einigen Jahren gestohlen worden ist. Mein Wagen steht meistens auf der unserem Haus gegenüberliegenden Strassenseite an der prallen Sonne. Das Thermometer im Wageninnere steigt in den Sommermonaten ab 8 Uhr morgens auf über 40 Grad und wenn ich irgendwohin fahren will, reisse ich zuerst alle Türen und Fenster auf und lasse die Klimaanlage einige Minuten volle Stärke laufen. Erst dann kann ich ohne sofortige Erstickungsgefahr die Türen schliessen. Trotzdem versuche ich, auf den ersten paar Hundert Metern Fahrt das Lenkrad nicht zu berühren, denn ich will ja keine Verbrennungen riskieren.

In unserer Strasse herrscht seit Jahren katastrophaler Parkplatzmangel. Fast alle Familien mit älteren Kindern sind im Besitz mehrerer Wagen, denn der öffentliche Verkehr ist unbrauchbar. Parkplätze gibt es nur am Strassenrand.

Sobald ich wegfahre, macht sich unser rücksichtsloser Nachbar daran, seinen ganzen Fahrzeugpark so umzuparken, dass zwischen jedem seiner Wagen genau dreiViertel aber kein ganzes Auto Platz haben, so dass garantiert keiner der anderen Bewohner in unserer Strasse einen Wagen auf „seiner“ Strassenhälfte abstellen kann. Wenn später seine Frau oder eines seiner zahlreichen Kinder heimkommen, rückt er alles etwas zusammen, um seinen Liebsten Platz zu machen.

In der Bemühung, etwas mehr Ordnung und Struktur in das Parkplatzproblem in unserem Quartier zu bringen, bemalt eines Tages ein Gemeindeangestellter überraschend die Bordsteinkante entlang unserer Strasse mit rot-weissen Markierungen. Nun ist das Parkieren hier ab sofort verboten. Das ist natürlich keine Lösung, so lange es keine alternativen Parkplätze gibt. Mein Mann ruft deshalb umgehend den Gemeindepräsidenten an und erklärt diesem nachdrücklich, dass er ihn nicht gewählt hat, damit wir später vor unseren Häusern Parkbussen bekommen. Am nächsten Tag werden die rot-weissen Bordsteinkanten wieder weiss übermalt und die Geschichte mit dem rücksichtslosen Nachbarn wiederholt sich ins Unendliche.

Deshalb fahre ich für mein Frühstück nirgendwo hin, weder mit dem Fahrrad und bestimmt nicht mit dem Auto. Ich esse Joghurt aus dem Kühlschrank und keine frischen Gipfeli. Das ist allemal gesünder.



Bei uns in Israel ist vieles mühsahm und chaotisch – aber es fehlt uns nichts. Wir haben alles, das wir zum Leben brauchen und mehr. Und doch kommen wir Israelis in der Schweiz aus dem Staunen nicht heraus. Die Auslagen in den Supermärkten – diese Vielfalt! Und erst die Autos! Die neuesten und teuersten Modelle, es glänzt wohin man nur guckt! Das Niveau der Dienstleistungen macht uns sprachlos. Züge fahren auf die Minute genau! Der Postautofahrplan ist auf den Zugfahrplan abgestimmt! Das sollte eigentlich eine grundlegende Selbstverständlichkeit sein, aber bei uns scheinen Fahrpläne irgendeiner höheren unvorhersehbaren Gewalt zu unterliegen. Der PCR-Test im Gesundheitszentrum wird so speditiv und zuvorkommend abgewickelt, dass man sich als Tourist in einer Traumwelt wähnt. Der Eincheckschalter im Flughafen Zürich liegt gleich neben dem Bahnperron, so dass man keine Koffer schleppen muss. Wie logisch! Man kommt ohne Schlangestehen sofort dran – wie ist das nur möglich? Die Liste unserer Staun-Momente könnte unendlich weitergeführt werden.

Die Schweiz ist ein Land mit höchster Lebensqualität. (Fast) alles ist perfekt durchdacht, organisiert und strukturiert und deshalb frappant einfach und angenehm.

Immer wieder schauen wir uns unterwegs staunend an. Das angenehme und bequeme Leben ist verführerisch. Aber – was macht diese perfekte Infrastruktur mit den hier lebenden Menschen? Was passiert mit uns, wenn das Staunen zur Gewohnheit übergeht? Ist es nicht alles ein bisschen zuviel des Guten? Hängt einem die (fast) hürdenfreie Grundeinrichtung und das schlaraffenlandähnliche Versorgungsnetz nicht irgendwann zum Hals heraus? Möchte ich dreimal am Tag Eiscrème mit Schlagrahm essen – täglich, auf alle Ewigkeit?



Ich weiss nicht, woran es liegt, aber gleich nach der Landung in Tel-Aviv fühle ich mich auffällig frei und leicht, mir fällt eine zentnerschwere Last von den Schultern. Ich kann ganz gut leben mit etwas weniger Reichtum, Ordentlichkeit und Perfektionismus – und einer kräftigen Prise Chaos.


2 Kommentare:

Schreibschaukel hat gesagt…

Wie gut, dass du diesen Post noch entdeckt hast!
Vielleicht ist es so, dass hier - also in der Schweiz - auch immer alles perfekt sein MUSS. Das kann mitunter ganz schön anstrengend sein...

Yael Levy hat gesagt…

Liebe Schreibschaukel,
So empfinde ich es auch! Ab und zu mal ein bisschen Chaos ist befreiend!