Montag, 26. Mai 2025

Ein Fest des Lebens – trotz allem


Unsere Tochter ist verheiratet, die Hochzeit liegt hinter uns! Wir blicken auf einen sehr turbulenten Party-Marathon und ein wunderbares Fest zurück.

In den letzten Tagen folgten die Ereignisse Schlag auf Schlag: am Dienstagabend besuchte Sivan die Mikve, die spirituelle Reinigung für Frauen vor der traditionell-religiösen Hochzeit. Mit meinem säkularen Lebensstil ist mir das rituelle Bad fremd. Doch dann empfinde ich das Eintauchen und die Segenssprüche als Verbindung mit den jahrtausendealten Traditionen des Judentums, das ich so sehr schätze und liebe, als zutiefst ergreifend. Im Anschluss insistieren Sivans Freundinnen auf das traditionelle Challah-Teigopfer, eine Zeremonie in der Frauen um den Segen für die neu gegründete Familie beten. Den lustigen und lockeren Abend mit viel Vorfreude auf den neuen Lebensabschnitt lassen die Freundinnen bei einigen Gläsern Wein bei uns im Garten ausklingen, während ich Schlafen gehe.
Am nächsten Tag putzen wir das Mehl weg und sind mit letzten Vorbereitungen beschäftigt. Am Abend treffen sich die Freundinnen wieder bis in späte Stunden bei uns im Garten – diesmal ohne traditionellen Hintergrund.

Sivan verbringt die Nacht bei uns und am Tag der Hochzeit überstürzen sich die Ereignisse. Die Visagistin und der Hairdesigner beginnen in den Morgenstunden ihr Wunderwerk, um aus Sivan die Schönste aller Bräute zu zaubern. Dass die Freundinnen die ganze Zeit zugegen sind, muss wohl gar nicht mehr erwähnt werden. Auch ein Fotografenteam ist dabei und kurz nach 14 Uhr treffen der Bräutigam mit Gefolge ein. Jetzt drängen sich schon weit über zwanzig Personen in unserem Garten und in der Stube, in welcher ich in den Tagen vorher wohlweislich alles umgestellt habe, um Platz für die Fachleute, die Begleitpersonen und für grosse Spiegel, Schminkkoffer, Frisierutensilien und -möbel zu schaffen. Am Nachmittag brechen Braut und Bräutigam für eine mehrstündige Fotosession in Richtung Veranstaltungspark auf. Jetzt ist der Moment für Lianne und mich gekommen, uns zu schminken und die festlichen Kleider anzuziehen. Als auch Eyal in Anzug und Krawatte parat ist, fahren wir los und lassen dabei ein ziemlich zerstörtes Haus zurück.

Die Hochzeit selbst ist ein wunderbares Fest mit mehreren Hundert Gästen und grandioser Stimmung. Unter jubelndem Beifall tanzen Braut und Bräutigam freudig unter den traditionellen Baldachin für die Hochzeitszeremonie. Die Freude und Erregung des jungen Paares sind ansteckend und lassen keinen Gast unberührt. Im Anschluss feiern wir mit den vielen Freunden des Paares ausgelassen bis in die Morgenstunden.

Es wird schon hell als ich mich mit schmerzenden Füssen und dröhnendem Kopf, aber überglücklich, für einige Stunden schlafen lege. Doch bald stehe ich wieder auf und beginne aufzuräumen. Für den kommenden Tag haben wir als kleine Afterparty die engere Familie eingeladen, die nun zusammen mit den neu eingeheiraten Angehörigen über dreissig Personen zählen wird. Der Garten muss auf Vordermann gebracht werden und am Mittag liefert eine Leihfirma Tische, Stühle, Sonnenschirme und Geschirr an. Am Samstag brechen wir früh in die Synagoge auf, wo das junge Ehepaar von der Gemeinde geehrt und gesegnet wird. Ab Mittag treffen die Gäste ein. Danach geht wieder alles so schnell, dass ich am Ende des Tages ganz durcheinander zurückbleibe, mit einem Haus, das erneut aussieht, als wäre ein Tornado durchgezogen. Doch wir räumen auf und dann wird es endlich ruhig. Die frisch Verheirateten packen ihre Kleider, Anzüge, Schuhe, Unmengen von übriggebliebenen Partyutensilien und Spirituosen ins Auto und verabschieden sich.

Ich denke, es ist verständlich, dass ich jetzt nur noch meine Komfortzone zurückhaben und für einige Zeit keine Personen mehr in unserem Haus sehen will, die nicht meiner Kernfamilie angehören.



Natürlich ist auch ein freudiger Anlass wie dieser von den Zeichen der Zeit geprägt. Während der Zeremonie unter dem Baldachin gedenken wir Nitzan. Ihre Mutter und Schwester weilen unter den Gästen. 
Auch ein Gebet für die kämpfenden Soldaten und für die Gefallenen wird gesprochen. 
Der Bruder des Bräutigams dient seit dem 7. Oktober-Pogrom fast ununterbrochen in Reserve. Seine Truppe ist in Gaza stationiert, für die Hochzeit kann er einige Tage Urlaub ergattern. 
Yotam und seine Freunde, die am Nova-Massaker durch ein Wunder dem Tod entwischt sind, feiern mit uns. Yotam, der mit einer Schusswunde davongekommen ist, wird im Juli heiraten. 
Die Eltern von Tomer, der im April 2022 bei einem Attentat in Tel-Aviv ermordet worden ist, beehren uns mit ihrer Anwesenheit. 
Jeder hier hat seine Geschichte, einige davon kenne ich, viele nicht. 
Alon tanzt die ganze Nacht unter grosser Anstrengung auf einem Bein und mit der neuen Prothese, immer umgeben und gestützt von seinen treuen Freunden. Als er sich erschöpft für einige Minuten eine Pause gönnt, tanzen seine Freunde mit seiner Beinprothese weiter. Das mag makaber scheinen, aber es versinnbildlicht durch und durch den Geist dieses Volkes: Es ist ein Volk, das sich nicht nieder kriegen lässt. Voller Optimismus werden sie Familien gründen, Kinder bekommen und Feste und das Leben feiern und wenn es sein muss, werden sie lachend und weinend zugleich mit Prothesen tanzen.



Irgendwann in den späten Nachtstunden betrachte ich das ausgelassen tanzende Grüppchen und bin zutiefst berührt von der Resilienz und der überbordenden, ungebrochenen Lebensfreude. Während der Judenhass in Form von verdrehten Narrativen, Verleumdung und jeglicher Realität entbehrenden Behauptungen auf der ganzen Welt eskaliert, weiss ich, dass wir – dieses Volk, und ich mit ihm – auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Mögen die jungen Leute hier viele Kinder gebären, sie in Liebe grossziehen, mögen sie Gutes tun und über alles Böse siegen! Mögen ihre Kinder in Frieden und Sicherheit leben und mögen sie der Menschheit ein Licht im Dunkeln sein!



Montag, 19. Mai 2025

Big Glilot

Am Samstagabend entführen mich meine Töchter nach "Big Glilot", den neuesten Mega-Shoppingtempel in Israel. Hier locken unzählige weitläufige Läden in zweistöckigen Gebäuden in Form einer architektonisch raffiniert geplanten kleinen Stadt. An diesem Samstagabend ist der sensationelle neue Einkaufspalast proppenvoll. Kauffreudig flanieren die Israelis auf europäisch chicen Promenaden, zwischen plätschernden Zierbrunnen und -becken, Ruhebänken und auf Galerien mit Balustraden in elegantem Design. Sie pilgern in Scharen herbei, vergnügen sich in den Läden und Restaurants und stehen willig vor den Ankleidekabinen und Kassen zu Dutzenden Schlange. 


Ich bin überwältigt von den Menschenmassen und der Grösse und Eleganz des Einkaufszentrums. Gleichzeitig wundere ich mich, warum gerade mehrere Fluggesellschaften ihren Flugstopp nach Israel verlängert und damit meinen Schweizer Hochzeitsgästen endgültig die Anreise an unser Fest am Donnerstag vereitelt haben. Sieht so etwa ein gefährliches Touristenziel aus? 

Schwarz gekleidete Angestellte schweben auf elektrischen Rollern über die Gehwege, beantworten Fragen, geben Auskunft und lesen den Besuchern jeden Wunsch von den Lippen ab. Wie überall in Israel sieht man auch hier viele Araber, erkenntlich vor allem an den züchtigen Kopfbedeckungen der Frauen. Doch hier scheint eine ganz andere Gruppierung von Menschen unterwegs zu sein, als ich sie aus meinem gewohnten Umfeld kenne: Die Kleider sind zwar sittsam lang, aber erkenntlich teuer und modern. Schuhe von Dior, Brillen und Taschen von Prada und Gucci werden zur Schau getragen. Ein Shoppingtrip nach Dubai war nie auf meiner Löffelliste, doch nun habe ich ihn offensichtlich trotzdem bekommen. 
Der Laden der Modekette Zara umfasst drei Stockwerke. Auf dem grossflächigen Vorhof stehen mehrere Luxuskarossen, die man gleich auch noch kaufen kann. Ich bräuchte eigentlich nur Nachschub für meine übliche (billige) Feuchtigkeitscrème, doch sogar mein gewohnter Drogeriemarkt ist hier zum Luxuspalast geworden. In der Eingangshalle werden nur teuerste Parfums angeboten. Das Parfum meiner Träume wird von einem breitschultrigen uniformierten Mann bewacht. Eingeschüchtert von soviel unerschwinglichem Luxus mache ich mich gleich wieder aus dem Staub. Die Crème kann ich ja anderswo kaufen. 
Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Was für eine bizarre Parallelwelt! Das wirft Fragen auf. Wie viele Kleider und Schuhe kann man sich eigentlich noch kaufen? Hier kann niemand mehr übersehen, dass sich unser gesamtes Dasein nur um Geld und Materielles dreht. Der Messias ist schon da, wir warten vergebens! Diese Stätten sind die Kulttempel unserer Generation. 
Doch bei allem Kopfschütteln kaufe auch ich einige Dinge, die ich überhaupt nicht brauche. Wie könnte man entsagen? Alles riecht so verführerisch. Im Laden meiner Lieblingsmodemarke versuche ich viermal, zum Ausgang zu steuern – jedes Mal saugt mich die Versuchung in Form eines weiteren Kleidungsstückes wieder hinein. Irgendwann schaffe ich es doch, mit Hilfe meiner Töchter. Dann lassen wir diese surreale Kultstätte hinter uns und reisen in einer vierrädrigen Zeitmaschine wieder in unsere eigene kleine Welt zurück.

Nachts weckt mich die Alarm-App, wahrscheinlich um meine Frage zu beantworten, warum die Fluggesellschaften nicht nach Israel fliegen. In Tel-Aviv und Umgebung laufen Hunderttausende in die Schutzräume. Dank dem nächtlichen Weckruf erfahre ich, dass Yuval Raphael am ESC in Basel als Publikumsliebling den zweiten Platz gewonnen hat. 

Dann schlafe ich unruhig weiter. In wirren Träumen erscheinen mir Luxuskarossen in Dubai, ein Goldesel, Israelis, die nachts um zwei in Luftschutzkellern den ESC Sieg feiern, meine Töchter in Hochzeitskleidern, Palästinenser-Flaggen in Basel, jemenitische Raketen und Swiss-Flugzeuge, die vor der Küste Israels kehrt machen.
 
Am Morgen entpuppt sich alles als wahr. Wir leben in wahrlich verrückten Zeiten.





Samstag, 10. Mai 2025

Rami, Meister der Improvisation

Seit einigen Jahren lasse ich meine relativ kurzen Haare nur von der Coiffeuse meines Vertrauens in der Schweiz schneiden. Die zuvorkommende Bedienung und die absolut zufriedenstellende Leistung sind mir den höheren Preis wert. Die Coiffeuse ist begabt und technisch kompetent, sie hat ihr Zeitmanagement bestens im Griff und plant ihre Termine so umsichtig, dass ich nie eine andere Kundin antreffe. Die Atmosphäre im kleinen Salon ist ruhig und angenehm. Der Besuch beginnt mit einem Beratungsgespräch, in welchem die gewünschte Frisur basierend auf Erfahrungen und Resultate vom letzten Mal besprochen und im Detail geplant wird. Dann werde ich mit einer liebevollen Haarwäsche mit betörend riechenden Haarpflegemitteln verwöhnt. Beim Schneiden geht die Coiffeuse sorgfältig auf jede einzelne Strähne ein, sie arbeitet sich strategisch und gleichzeitig äußerst kreativ rund um meinen Kopf und setzt in präziser Arbeit ihre Vision um. Am Schluss ist meine Frisur immer perfekt, top modern, genau richtig in der Länge und ich fühle mich wunderschön.

Nun scheint einzutreffen, was ich befürchtet habe: Ausgerechnet für die Hochzeit meiner Tochter werde ich mich mit Coiffeur Rami in Netanya begnügen müssen, dem Meister der Improvisation.

In den vergangenen zwei Wochen hatte ich täglich die Flugangebote in die Schweiz unter dem Radar. Doch die Situation ist mit dem momentanen Aussetzen mehrerer Fluggesellschaften äußerst prekär. Irgendwann musste ich mir eingestehen, dass aus einem Sprung zur Coiffeuse in der Schweiz vor der Hochzeit nichts mehr wird. Und so betrat ich diese Woche mit mulmigem Gefühl Ramis Salon in Netanya, um mit ihm mein Haardesign für die Hochzeit in die Wege zu leiten.

Ein Besuch bei Rami in Netanya ist eine authentische israelische Erfahrung. In den bald 40 Jahren, in denen ich in Israel lebe, habe ich noch nicht in Erfahrung bringen können, ob es hier Usus ist, sich beim Coiffeur anzumelden oder nicht. Manchmal tue ich es, manchmal nicht - es macht überhaupt keinen Unterschied. Immer sitzen schon einige Frauen auf den wenigen Sitzgelegenheiten und warten, bis sie von einem der beiden Coiffeure, zwei Brüdern, bedient werden, und so auch ich. Rami wäscht mir die Haare so lieblos, dass mir seine Frau ernsthaft leid tut. Irgendwelche Wünsche betreffend der Frisur anzubringen, ist völlig sinnlos. Rami klopft höchstens einen flotten Spruch. Beim Frisieren vermitteln mir seine Körpersprache und sein Stil, dass er keinen Plan, keine Kontrolle und keine Übersicht hat. Er schneidet einfach drauflos, ganz nach dem Motto, irgendwie schaukeln wir das schon!

Ich habe enorme Mühe mit dieser demonstrativen Lässigkeit. Improvisation und Nonchalance mögen ja gut und schön sein, sind aber einfach nicht immer angemessen. Wenn ich mich zum Beispiel einer komplizierten Herzoperation unterziehen muss, finde ich Kompetenz und Präzision wichtiger. Ebenso bei meiner Frisur. Aber Rami fährt mir mit der Schere ins Haar, dass mir der Atem stockt. Er wirft die Schere locker von Seite zu Seite, schneidet hier ein bisschen und da ein bisschen. Unterdessen unterhält er sich mit den anderen Kundinnen, Bekannte kommen vorbei, um mit ihm zu plaudern, und zweimal beantwortet er das Telefon. Die Nachbarin des Salons bittet dringend um Hilfe, sie hat eine Eidechse in der Wohnung. Ich rechne es Rami hoch an, dass er mich nicht mit der halbfertigen Frisur zurücklässt, sondern seinen Bruder auf die Rettungsaktion schickt.

Ehrlicherweise muss ich anfügen, dass ich mit dem Resultat meistens überraschend zufrieden bin, sonst käme ich garantiert nicht mehr wieder. Als eingefleischte Schweizerin finde ich einfach das Gefühl, etwas nicht wenigstens einigermaßen unter Kontrolle zu haben, sehr beunruhigend. 

Während ich bezahle, bläue ich Rami ein, dass er sich ja meinen geplanten Besuch am Tag der Hochzeit im Terminkalender vormerken und rot einrahmen soll. Dabei suche ich die Theke verstohlen nach einem Kalender ab – aber dort liegt nichts, nicht einmal ein Kugelschreiber.

Ja, ja, sagt er, ruf mich doch einfach zwei oder drei Tage vorher an. Jetzt weiss ich, dass er gar keinen Terminkalender hat.




Montag, 5. Mai 2025

Alles ruhig

Israel ist zur Zeit nicht gerade das Land, in welchem man sich einen entspannten und beruhigenden Urlaub erträumt. Trotzdem haben sich einige treue und mutige Familienmitglieder aus der Schweiz für das Hochzeitsfest unserer Tochter Ende Mai angemeldet. Ich gestehe: Damit sie keine kalten Füsse bekommen, antworte ich jetzt jeweils eher zurückhaltend, wenn sie mich am Telefon fragen, wie es uns geht. Man muss ja nicht jedes Mal die ganze Katastrophe ausführlich beschreiben. Immerhin lebe ich jedenfalls einen einigermassen geregelten und meistens ruhigen Alltag. Auch diese Woche wieder bestätige ich einem etwas verunsicherten Schweizer Gast, dass die Situation in Israel einfach wunderbar ist! Raketenalarme? Ach was! Nicht bei uns!

Aber - alle Facebook-Nutzer kennen das: Wenn man über irgendetwas spricht, hat man umgehend den Feed voll mit Angeboten für das just besprochene Thema. Mit den Raketen aus dem Jemen und allen anderen Himmelsrichtungen scheint es sich ähnlich zu verhalten.

Dass unsere Heimfront jetzt eine neue Funktion anbietet, die auf dem Handy zwei Minuten VOR dem Alarm eine Ankündigung schickt, habe ich schon gehört, aber noch nicht selbst erfahren. Dann ist es so weit: Die Warnung erscheint wie aus dem Nichts auf meinem Telefon, während ich fleissig im Heimbüro mit etwas ganz anderem beschäftigt bin. Ich schrecke auf und schaue noch einmal genauer hin. Wird jetzt wirklich ein Alarm folgen? Bei uns? Das ist bestimmt eine Fehlfunktion! Ich rufe nach oben, dass es in zwei Minuten Alarm geben könnte. Eyal ruft irgendetwas zurück, das ich nicht hören kann. Sonst keine Reaktion. Und jetzt? Ich arbeite weiter. Dann geht der Alarm tatsächlich los. Soll ich in den Schutzraum? Ehrlich gesagt, glaube ich an den Schutz dieses Raumes etwa so sehr, wie an den Erfolg meiner Osteopathin. Also bleibe ich im Heimbüro sitzen. Das Zimmerchen war früher mal eine Garage, ist aber trotz des Umbaus vermutlich das am meisten exponierte und am wenigsten geschützte Zimmer unseres Hauses.

Ich habe ein Abo bei einer Lotterie (Mif'al Hapais), bezahle monatlich meine Beiträge und habe in dreissig Jahren noch nie etwas gewonnen. Ich bin vor Zufallstreffern geschützt. Die Rakete wird nicht ausgerechnet auf diese Garage niedergehen. Ich arbeite weiter, verdränge dabei die Gedanken an das "Und wenn doch?"

Wie vermutet, gibt es auch dieses Mal für mich keinen Lotteriegewinn. Anderswo aber doch: Eine der Raketen, die die Huthis aus dem Jemen heute auf Israel abgefeuert haben, konnte nicht abgefangen werden, schlug in der Nähe des Ben-Gurion Flughafens ein und verursachte beträchtlichen Schaden. Als Konsequenz annullierten verschiedene Fluggesellschaften umgehend ihre Flüge von und nach Israel.

Nun hoffe ich, dass das Ganze nicht eskaliert. Die Plätze an der Hochzeit bleiben für die Schweizer Gäste auf jeden Fall reserviert.

In Netanya übrigens, wo sich die Gäste einquartieren werden, gab es auch dieses Mal keinen Alarm. Netanya ist – in dieser Hinsicht - immer ruhig. Und auch sonst ist bei uns einfach alles wieder wunderbar! Es ist nur eine Frage der Einstellung.

Sonnenuntergang in Netanya. Einfach wunderbar!












Sonntag, 4. Mai 2025

Stimmung

Krieg hier. Kriege dort. 
Ein Krieg zwischen Zivilisation und entfesselter Barbarei.
Unsere Kinder Soldaten wider Willen, alle traumatisiert. 
Totalitäre Ideologien, die überhand nehmen.
Despoten, die die Welt im Höllentempo an die Wand zu fahren scheinen.  
Konfuse wirtschaftliche Lage. Heute so, morgen anders.
Börse, die Achterbahn fährt. 
Dazu noch Extremwetter.
Überschwemmungen, Brände.
Jede Woche irgendwo eine Katastrophe.
Kaum geschehen, schon vergessen.
In den Medien Lärm und Hass, überall, auf alles.  
Desinformation, Zerrbilder und wahnhafte Ideen. 
Krieg der Narrative.
Weltweiter Antisemitismus in schockierendem Ausmass.
Dämonisierung Israels. 
Die Welt, die auf uns zeigt. 
Nicht sehen, nicht hören, nicht verstehen will. 
Das Schweigen vieler. 
Auch ein Bekenntnis.
Der wachsende Graben in der israelischen Gesellschaft.
Freundschaften, die brüchig werden. 
Die Geiseln, die immer noch dort sind. 
19 Monate in feuchten dunklen Erdlöchern. Täglich gefoltert.
Ihre Familien am Verzweifeln.

Alles wird zu gross, zu laut, zu viel.

Und ich mittendrin. 
Gehe unter. 
Will nichts mehr hören.
Will von allem nichts wissen.
Halte mich fest an Momenten, in denen die Welt kurz stillsteht: 
Ein Morgenspaziergang nach einer regenreichen Nacht. 
Der Duft des ersten Kaffees an einem neuen Tag.
Eine Melodie oder ein Lied, das mich fortträgt.
Ein Glas kaltes Wasser an einem heissen Tag.
Ehrliche Gespräche und lustige Augenblicke.
Familienmitglieder, die treu immer da sind. 
Die vielversprechenden Blüten im Garten.
Mangos bald, Pitanga und vielleicht Passionsfrüchte.

Klammere mich an jedes bisschen Normalität.
An jedes bisschen Hoffnung. 









Montag, 28. April 2025

Flagge zeigen



Diese Woche wird in Israel der Unabhängigkeitstag gefeiert. Das Land, die Häuser, die Strassen und die Autos sind jetzt schon mit israelischen Flaggen geschmückt.

Im Ausland werden derweil die israelische Flagge sowie auch die Nationalhymne aufgrund der kommunizierten Realitätsverzerrung, von Desinformation und, tja, dummem Herdenverhalten, als Provokation empfunden. Das hat Chris Faschon am eigenen Leib erfahren müssen. Der Schweizer Journalist und Autor jüdischen Glaubens wurde immer wieder in verschiedenen Formen belästigt, weil er eine israelische Fahne und die gelbe Schleife, die die israelischen Geiseln symbolisiert, im Fenster seines Hauses in Kreuzlingen hängen hat. Als Judenhasser im Februar einen Stein auf das beflaggte Fenster warfen, schrieb sogar die Thurgauer Zeitung darüber.

Ronaldo Goldberger, ein freischaffender Journalist aus Basel, berichtet auf seinem unabhängigen YouTube-Kanal über Aktualitäten aus jüdischer Sicht. In dieser Sendung spricht Ronaldo mit Chris über die Reaktionen, die er auf die israelische Flagge in seinem Fenster erhalten hat und über sein Gefühl in der Schweiz als Jude. Das Gespräch finde ich übrigens alleine schon unterhaltsam, weil sowohl Ronaldo als auch Chris in breitesten Schweizer Dialekten sprechen, der eine in Basler, der andere in Thurgauer Dialekt, wovon einiges sogar für mich nur schwer verständlich ist.

Hier schreibe ich einige Minuten von Chris Faschons Aussagen mit. Leider schafft es nicht einmal ChatGPT, vom Thurgauischen ins Hochdeutsche zu transkribieren. Das Deutsch ist dementsprechend etwas kurios, auch wenn ich mir erlaubt habe, ziemlich frei zu übersetzen.

"...die sagen dann immer, du bist mutig. Und ich denke mir, dass ich nur deswegen mutig bin, weil ich der Einzige bin. Es wäre überhaupt keine besondere Leistung (eine Flagge aufzuhängen), wenn die westliche Welt so ein grauenhaftes Verbrechen (das 7. Oktober-Massaker) vereint verurteilen und darauf bestehen würde, die Geiseln dort herauszuholen. Und wenn es UNO-Sondertruppen bräuchte, und jedes Land Leute einsetzen müsste. Ganz egal, wie lange es dauert: Wir holen sie dort raus! Und wenn alle Regierungen dastehen würden, mit Israel-Anstecker, oder zumindest der gelben Schleife, und sagen würden, das lassen wir nicht zu! Hier geht es um unsere Werte, um Freiheit! Es geht ja nicht nur um Israel und Hamas. Diese Baustelle ist viel, viel grösser. Hier wird unsere Demokratie angegriffen, und das bedeutet, dass man Rückgrat zeigen muss – Hier sind wir, bis hierher, und nicht weiter!
Wenn Leute mich für meinen Mut loben, dann antworte ich: Hier ist der Link, über den ich die Fahne bestellt habe, es ist ganz einfach, das nachzumachen. Und jeder, der es nachmacht, macht mich persönlich ein bisschen sicherer."

"Ich glaube, den Schweizern fällt es besonders leicht, zu schweigen. Die Helvetier sind im Allgemeinen nicht gerade mutig...
...Man kann sich das so lange leisten, bis der Gegner – man entschuldige, dass ich diese Menschen so nenne – bis die andere Seite eine bestimmte kritische Masse erreicht. Wenn die mal so und so viele sind, dann kann man auch keine Fahne mehr heraushängen oder sich positionieren, das geht dann nur noch mit Polizeischutz, sonst wird man auf der Strasse kaltgemacht. Und das in westlichen, freiheitlichen, demokratischen Ländern!"

"...Ich habe schon ein Messer im Briefkasten gehabt, so als Nachricht. Ich habe schon E-Mails erhalten, mit Bemerkungen, dass man für mich die Öfen noch einmal anheizen sollte. Ich nehme das zu einem gewissen Grad schon ernst. Aber, wie gesagt, nur sind wir in diesem beschaulichen Thurgau in einer Situation, dass nicht 150 Leute vor meinem Fenster stehen. Das wäre der kritische Punkt, in dem eine bestimmte Masse überschritten wäre, und ich könnte nicht mehr ohne Polizeischutz aus dem Haus. Solange das noch so ist, ist es wichtig, genau jetzt Position zu beziehen. Jetzt kann man noch etwas bewirken. Danach den Laden wieder unter Kontrolle zu bekommen, wird sehr viel schwieriger sein."



In der zweiten Maihälfte wird Yuval Raphael Israel am Eurovision Song Contest in Basel mit dem Lied "New Day Will Raise" vertreten. Die junge israelische Sängerin hat den Horror des 7. Oktober-Massakers überlebt. Sie war am Nova Musikfestival, als die Terroristen kamen und sie überlebte unter Leichen.
Nun kriechen die Judenhasser aus ihren Löchern – nicht das erste Mal am ESC. In den Medien ist die Hölle los, entweder wird der Sängerin das Erlebte nicht geglaubt, oder ihr Trauma wird ins Lächerliche gezogen, und damit das Trauma aller Überlebenden in Israel. Verschiedene Aktivisten und propalästinensische Bewegungen fordern gar den Ausschluss Israels vom Wettbewerb.

Ich wünsche mir von meinen Basler und Schweizer Freunden und Bekannten, dass sie sich gegen den Antisemitismus, gegen die Anti-Israel Bewegung positionieren, gerade während dem ESC, an welchem viele Touristen die Stadt besuchen werden. Bitte hört euch an, was Chris Faschon zu sagen hat und tragt einen Israel-Anstecker oder hängt eine Israelflagge in eure Fenster. Damit sich Juden und Israelis, Besucher wie Yuval Raphael und ihre Fans, oder Schweizer Juden wie Chris Faschon, in der Schweiz ein bisschen sicherer fühlen.

Tip: Wer sich mit Israel gerne kulinarisch solidarisch zeigen möchte, sollte im Eurovision Village den Stand von Hungry Pita aufsuchen.


Das ikonische Bild einer frenetischen Masse, in derer Mitte ein einziger Mann in Verweigerung des Hitlergrusses die Arme verschränkt.




Donnerstag, 24. April 2025

Wo verläuft die Grenze



Über meinen Besuch bei der Kosmetikerin und das etwas fragwürdige Resultat habe ich vor Kurzem berichtet. Nun bekenne ich: Ich habe nicht nur einen Besuch, sondern eine ganze Serie von Verschönerungsterminen gebucht! Warum? Ich bin sechzig, arbeite seit vierzig Jahren und kann mir das leisten. Man lebt nur einmal und muss ja nicht all das angescheffelte Geld den lieben Kindern vererben. Zwei Termine habe ich schon hinter mir. Jetzt ertappe ich mich öfter dabei, dass ich etwas länger und genauer in den Spiegel gucke: Sind sie etwas sanfter geworden? Etwas unauffälliger? Oder – oh Schreck – vielleicht sogar markanter? Die Falten. Sehe ich etwas frischer, etwas jugendlicher aus? Oder werde ich das wenigstens, wenn ich alle Termine hinter mir habe? Denn, falls nicht – habe ich damit ziemlich viel Geld aus dem Fenster geworfen. Die Gesichtsmassagen im kerzenbeleuchteten Raum sind jedoch wunderbar tiefenentspannend und können vielleicht – falls die Falten partout nicht verschwinden – als Alternative zu einer Behandlung von Trauma- oder Stresssymptomen betrachtet werden.

Wie es so ist mit über sechzig, betrüben mich ausser den Falten noch viele andere Sorgen und Zipperlein. Die Schmerzen in meinem linken Knie haben sich erfreulicherweise nach mehr als einem Jahr und viel Dehnungsarbeit endlich in Luft aufgelöst. Umso grösser war die Enttäuschung, als bei einem meiner ersten Laufversuche schon nach wenigen Hundert Metern die rechte Hüfte streikte. Ein stechender Schmerz zwang mich, umgehend in langsames Schritttempo überzugehen und vollkommen niedergeschlagen nach Hause zu hinken. Die Schmerzen blieben hartnäckig mehrere Tage und ich fühlte mich einfach nur noch alt. Es kann doch nicht sein, dass ich meinen geliebten Laufsport jetzt schon aufgeben muss! Ich habe auch keine Geduld mehr, noch einmal mehrere Monate auf Besserung zu warten. Jetzt musste eine sofortige Lösung her!

Leider bin ich aber auch geistig nicht mehr so flink, und so verwechselte ich Chiropraktik mit Osteopathie. Erst nachdem ich wild entschlossen einen Termin bei einer Osteopathin ergattert hatte, dämmerte mir, dass es sich dabei gar nicht um die gewünschte sofortige Wunderheilung handelte, die mir ein Chiropraktiker mit wenigen Handgriffen hätte besorgen können.

Und so lag ich also an einem Morgen bei einer Handauflegenden Frau auf dem Behandlungsbett. Sie klärte mich auf, dass sie mithilfe von Ertasten und Mobilisieren meinen Körper zu stimulieren und Blockaden zu lösen versucht. Ich gebe mir wirklich grösste Mühe, offen zu sein für alternative Behandlungsmethoden – schliesslich sind diese nicht nur mein letzter Rettungsanker, sondern kosten auch eine beträchtliche Summe Geld. Mit den herkömmlichen Orthopäden und Physiotherapeuten habe ich nämlich schon lange abgeschlossen.

Was soll ich sagen? Fühlte ich wirklich etwas Besonderes an den Stellen, an denen sie mich berührte? Spürte sie wirklich etwas, wenn sie behauptete, sie ertaste verhärtetes Gewebe? Oder band sie mir einfach unverfroren einen Bären auf? Hat sie eine besondere Gabe in ihren Händen oder hätten meine Hände dieselbe Wirkung? Reicht es, wenn sie von der Behandlung überzeugt ist, oder ist es zwingend notwendig, dass ich auch daran glaube? Viele Fragen. Die Antworten werden sich vielleicht irgendwann einmal ergeben. Vielleicht auch nicht. 
Mir war leicht schwindlig und heiss, als ich das Behandlungszimmer verliess. Das könnte aber auch mit dem "Chamsin" zu tun haben, der uns an diesem Tag trockene Luft und Temperaturen um die 40 Grad bescherte. Natürlich erklärte mir auch die Osteopathin, dass ich mehrere Behandlungen werde über mich ergehen lassen müssen, bis ich eine Besserung erwarten könnte.

Zum Abschluss bleibt eine Frage, die sich wohl jeder selbst beantworten muss: Wo verläuft die Grenze zwischen Selbstheilung, den Möglichkeiten der Alternativmedizin und Scharlatanerie?