Donnerstag, 5. Juni 2025

Ein fragwürdiges Jubiläum

Als unsere Zeitrechnung ins Jahr 2000 überging, befürchteten die Industrienationen ein globales Fiasko aufgrund weitreichender Softwareabstürze. Entgegen aller Erwartungen verlief der Übergang reibungslos, doch für mich persönlich brachte er in den ersten Tagen des neuen Jahres einen Lebens-prägenden Neubeginn.

Nach der Geburt des zweiten Kindes und zweieinhalb Jahren Babypause fand ich endlich eine neue Arbeit. Alle vorherigen Möglichkeiten hatte ich ausgeschlagen, denn nichts schien mir damit vereinbar, dass ich jetzt für zwei kleine Kinder und den Haushalt einer Familie verantwortlich war. Doch dann legte mir das Schicksal ein Angebot in einer angesehenen internationalen Firma vor die Füsse, das ich nicht ablehnen konnte.

Einige Monate nach Arbeitsanfang und Anstellung über eine Vermittlerfirma folgte die Festanstellung. Danach vergingen einige Tage, Wochen, Monate und – schwups! landete vor einigen Tagen eine E-Mail in meiner Mailbox, in der mir mein Arbeitgeber zum 25-jährigen Dienstjubiläum gratuliert.

Ich bin alles andere als stolz darauf, fast ewig beim selben Arbeitgeber hocken geblieben zu sein. Das zeugt nicht gerade von Flexibilität und Mut zum Abenteuer.


Wer will schon so einen Grabstein?

Immerhin darf ich mir anrechnen, dass ich in ferner Vergangenheit den Umzug in ein fremdes Land gewagt habe. Dieser Perspektivenwechsel hat meinen Lebenshorizont ins Unermessliche bereichert. Doch ich befürchte, dass auch diese Änderung bei mir nicht unbedingt mit Pioniergeist zu tun hatte, sondern eher mit reichlich Naivität und der Unfähigkeit, vorauszudenken.

Seien wir ehrlich – eine sehr wagemutige Draufgängerin bin ich nicht. Es gab da und dort einige Versuche, berufliche Änderungen vorzunehmen, doch schlussendlich schaffte ich den Absprung nie. Obwohl es ärgerliche Phasen, Mitarbeiter oder Vorgesetzte gab, waren diese Firma und mein Job einfach immer zu bequem und zu passend für mich. Bei persönlichen Belangen und Bedürfnissen, in Zeiten von Krankheit, der Geburt des dritten Kindes und überhaupt als Mutter von kleinen Kindern, kam mir die Firma immer sehr grosszügig entgegen. Dazu kommen das internationale Umfeld, der kurze Arbeitsweg, die vorteilhaften Bedingungen, der sichere Lohn, die ganz akzeptable Kantine – kurzum ein mehr als zufriedenstellendes Gesamtpaket.

Natürlich waren die 25 Jahre auch stets von beruflichen und persönlichen Änderungen geprägt. Ich bin fast zehnmal in ein anderes Büro in verschiedenen Gebäuden umgezogen. Als die Firma vor einigen Jahren gesundgeschrumpft und meine gesamte Abteilung aufgelöst wurde, bekam ich als einzige meines Teams eine weitere Chance und startete in einer anderen Abteilung in eine neue Karriere.

Ich konnte beruflich mehrere Male in die USA und verschiedene Länder Europas reisen. Ich bin auf Kosten der Firma Business-Class geflogen, habe in ausgezeichneten Restaurants gespeist und in den besten Hotels geschlafen. Was aber noch viel prägender war: Ich hatte die Möglichkeit, Menschen in den USA, in Deutschland, Frankreich, England und Kroatien als Arbeitskollegin und nicht als Touristin zu erleben. Ich habe mich in den Städten Europas in Menschenmassen eingereiht, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln frühmorgens zur Arbeit und abends wieder zurück zu pendeln. Ich habe in Firmengebäuden in Industrie-Vororten mit den Mitarbeitern in der Kaffeeküche geplaudert. In den Vororten von Philadelphia bin ich mit dem Mietwagen zur Arbeit gefahren und habe in amerikanischen Grossraumbüros braune Brühe in XXL Tassen geschlürft. Ich durfte sogar mehrere Male in die Schweiz reisen, wo die Firma in der Stadt meiner Gymi-Zeit einige Jahre über einen Firmensitz verfügte. Diese Erfahrungen brachten Abwechslung und sie begeisterten und erfüllten mich.

Seit meiner ersten Arbeitsjahre in der Firma haben globale Umwälzungen die Arbeit grundlegend verändert und ich habe die Digitalisierung einst manueller firmenspezifischer Prozesse erkundet und mitentwickelt. Später habe ich gelernt, mein Wissen weiterzugeben und bin daran gewachsen, ein Team zu leiten. Ich habe mindestens 15 direkte Vorgesetzte überdauert.



Nun habe ich hier schon fast meine eigene Abschiedsrede verfasst – aber leider muss ich noch drei weitere Jahre absitzen, bis ich rechtmässig in Rente gehen kann. Es wäre keine Katastrophe, früher aufzuhören. Zurzeit macht es Spass, nicht mehr unter Druck zu arbeiten. Ich muss keine Familie mehr miternähren und keine erfolgreiche Karriere mehr aufbauen. Ich arbeite mit dem Wissen, dass ich einfach gehen kann, falls mir jemand zu sehr auf den Wecker fällt.

Gerade in diesen Tagen bekomme ich wieder eine neue Vorgesetzte. Sie hat ihren Sitz in den USA und aufgrund der Zeitverschiebung werden wir nicht allzu viele gemeinsame Arbeitsstunden haben. Doch ich werde mir Mühe geben müssen, einen guten Eindruck zu machen. Mit 25 Jahren Dienstalter ist der Grat zwischen erfahrener und veralteter Erscheinung sehr schmal.

An schlechteren Tagen ist die grösste Herausforderung das Gefühl, dass sich alles ins Unendliche zu wiederholen scheint und dass mir manchmal einfach die Geduld ausgeht für neue Projekte. Dann bin ich versucht, draufgängerischen Arbeitskollegen, die glauben, die perfekte Lösung für irgendein Problem gefunden zu haben, den Wind aus den Segeln zu nehmen und auszurufen: Nehmt's mal locker, das war doch alles schon da!

Doch dann besinne ich mich. Natürlich werde ich auch bei diesem Projekt noch mitmachen. Einfach, weil ich es kann. Und ich werde auch weiterhin lernen, ausprobieren, Dinge hinterfragen und Prozesse erneuern.

25 Jahre mögen wie eine Ewigkeit erscheinen, doch sie waren gefüllt mit Wandel, Wachstum und wertvollen Begegnungen. Nichts Grandioses oder Umwerfendes, aber doch stetig, in kleinen, unauffälligen Schritten.


Montag, 2. Juni 2025

Zwischen Leere und Luftschutzalarm

Endlich ist wieder etwas Ruhe in mein Leben eingekehrt. Nach der Hochzeit und all den damit einhergehenden Umtrieben habe ich ein bisschen das Gefühl, dem Wahnsinn ins Gesicht gesehen zu haben. Umso mehr geniesse ich nun etwas, das man fast als Leere beschreiben könnte. Der Sohn zurück in der Schweiz, die jung Vermählten in Griechenland, Lianne in der frei stehenden Wohnung des Paares in Tel-Aviv. Niemand kommt. Keine Projekte. Ich faulenze.

Am Wochenende verschlinge ich das Buch "Meine Sprache wohnt woanders" von Chaim Noll und Lea Fleischmann. Gedanken von zwei nach Israel ausgewanderten Juden, über Deutschland und Israel. Lea Fleischmann schreibt über die Armut, in welcher sie aufwuchs "Sie lehrte mich, dass das geschliffene Wort es mit funkelndem Schmuck aufnehmen kann, und sie lehrte mich, dass der Geist die Armut überwinden kann." Die beiden Autoren sind wahrlich Wort- und Sprachkünstler, sie erschaffen zusammen in vollkommener Ergänzung ein sehr poetisches Werk.
Lea Fleischmann findet in Israel den Glauben und die Spiritualität. Die Freude, mir der sie ihr religiöses Leben beschreibt, ist authentisch, nachvollziehbar und fast ansteckend. 
Es tut mir gut, über die Liebe und die spirituelle Beziehung der Autoren zu Israel zu lesen, vor allem jetzt, in einer Zeit, da es nicht mehr einfach ist, das überrumpelte, geschundene, fast zerbrechende Land zu lieben. Mit meinen Schweizer Wurzeln empfinde ich es als immer bedrückender, in einem Land zu leben, das die halbe Welt vernichten will, während die andere halbe Welt der Meinung ist, Israel hätte den Krieg selbst zu verschulden oder wäre sogar der Aggressor. 
Das Buch wurde 2006 geschrieben und der Rückblick ist eine aufschlussreiche Zeitreise. Obwohl der Nahe Osten schon damals eine schwierige Region war, ist seit dem Pogrom und dem gegenwärtigen Krieg alles noch radikal komplizierter. Schon 2006 schreibt Chaim Noll "in dem eskalierenden Konflikt mit der arabischen Welt, der weitgehend unser Leben bestimmt, geht es für Israel um das Überleben als Staat und als Volk." In tiefgründigen Analysen beschreibt er eingängig das komplexe Israel in Einbezug der jahrtausendealten Geschichte. 
Unterdessen ist der "Konflikt" vollkommen eskaliert. Wir stehen nicht mehr am Abgrund – spätestens am 7. Oktober 2023 sind wir darüber hinaus gestürzt, seither befinden wir uns im freien Fall. Die gesamte Weltengemeinschaft rast dem Aufprall entgegen. Wie werden wir landen?
Ich weiss nicht, was Chaim Noll und Lea Fleischmann heute schreiben würden, wenn sie denn überhaupt noch Worte fänden. Doch ich blende diese Gedanken aus, versetzte mich zwei Jahrzehnte zurück und finde es mitreissend und sehr überzeugend, wie Lea Fleischmann auf Deutschland blickt und wie sie in Israel ihre Berufung gefunden hat.



So ruhig wie mein Leben ist die Situation in Israel dann aber doch wieder nicht. Immer wieder durchbrechen Düsenjäger die Stille. Vor allem abends rütteln ferne Detonationen am Fundament unseres Hauses und lassen die Wände und Fenster erbeben. Ich schrecke jedesmal hoch und wundere mich, dass alles noch steht. Und immer wieder heulen Sirenen. 
Einen Abend verbringen wir bei Freunden bei der Eröffnung eines zauberhaften Kaffeekiosks, den sie mit eigenen Händen aus einem verrosteten alten Anhänger erschaffen haben. Irgendwann rattern die Handys aller Anwesenden gleichzeitig. Gespräche werden unterbrochen. Eltern rufen ihre Kinder an. Der Ort, an dem wir uns befinden, bleibt vom Alarm verschont, aber die Sirenen der umliegenden Ortschaften heulen durch die Nacht.
Lianne arbeitet an diesem Abend als Babysitter in Herzliya. Sie erzählt am nächsten Morgen, dass die zwei älteren Kinder unaufgefordert in den Schutzraum gegangen sind, als wäre es das Alltäglichste auf der Welt. Das dritte Kind, das schon schlafend im Bett liegt, trägt Lianne in den Schutzraum. Zehn Minuten später legt sie es wieder in sein Bett. Ich bewundere meine Tochter für ihre unbeirrbare Ruhe und bin gleichzeitig schockiert, wie selbstverständlich israelische Babysitter so nebenbei als lebensrettende Schutzengel fungieren.








Montag, 26. Mai 2025

Ein Fest des Lebens – trotz allem


Unsere Tochter ist verheiratet, die Hochzeit liegt hinter uns! Wir blicken auf einen sehr turbulenten Party-Marathon und ein wunderbares Fest zurück.

In den letzten Tagen folgten die Ereignisse Schlag auf Schlag: am Dienstagabend besuchte Sivan die Mikve, die spirituelle Reinigung für Frauen vor der traditionell-religiösen Hochzeit. Mit meinem säkularen Lebensstil ist mir das rituelle Bad fremd. Doch dann empfinde ich das Eintauchen und die Segenssprüche als Verbindung mit den jahrtausendealten Traditionen des Judentums, das ich so sehr schätze und liebe, als zutiefst ergreifend. Im Anschluss insistieren Sivans Freundinnen auf das traditionelle Challah-Teigopfer, eine Zeremonie in der Frauen um den Segen für die neu gegründete Familie beten. Den lustigen und lockeren Abend mit viel Vorfreude auf den neuen Lebensabschnitt lassen die Freundinnen bei einigen Gläsern Wein bei uns im Garten ausklingen, während ich Schlafen gehe.
Am nächsten Tag putzen wir das Mehl weg und sind mit letzten Vorbereitungen beschäftigt. Am Abend treffen sich die Freundinnen wieder bis in späte Stunden bei uns im Garten – diesmal ohne traditionellen Hintergrund.

Sivan verbringt die Nacht bei uns und am Tag der Hochzeit überstürzen sich die Ereignisse. Die Visagistin und der Hairdesigner beginnen in den Morgenstunden ihr Wunderwerk, um aus Sivan die Schönste aller Bräute zu zaubern. Dass die Freundinnen die ganze Zeit zugegen sind, muss wohl gar nicht mehr erwähnt werden. Auch ein Fotografenteam ist dabei und kurz nach 14 Uhr treffen der Bräutigam mit Gefolge ein. Jetzt drängen sich schon weit über zwanzig Personen in unserem Garten und in der Stube, in welcher ich in den Tagen vorher wohlweislich alles umgestellt habe, um Platz für die Fachleute, die Begleitpersonen und für grosse Spiegel, Schminkkoffer, Frisierutensilien und -möbel zu schaffen. Am Nachmittag brechen Braut und Bräutigam für eine mehrstündige Fotosession in Richtung Veranstaltungspark auf. Jetzt ist der Moment für Lianne und mich gekommen, uns zu schminken und die festlichen Kleider anzuziehen. Als auch Eyal in Anzug und Krawatte parat ist, fahren wir los und lassen dabei ein ziemlich zerstörtes Haus zurück.

Die Hochzeit selbst ist ein wunderbares Fest mit mehreren Hundert Gästen und grandioser Stimmung. Unter jubelndem Beifall tanzen Braut und Bräutigam freudig unter den traditionellen Baldachin für die Hochzeitszeremonie. Die Freude und Erregung des jungen Paares sind ansteckend und lassen keinen Gast unberührt. Im Anschluss feiern wir mit den vielen Freunden des Paares ausgelassen bis in die Morgenstunden.

Es wird schon hell als ich mich mit schmerzenden Füssen und dröhnendem Kopf, aber überglücklich, für einige Stunden schlafen lege. Doch bald stehe ich wieder auf und beginne aufzuräumen. Für den kommenden Tag haben wir als kleine Afterparty die engere Familie eingeladen, die nun zusammen mit den neu eingeheiraten Angehörigen über dreissig Personen zählen wird. Der Garten muss auf Vordermann gebracht werden und am Mittag liefert eine Leihfirma Tische, Stühle, Sonnenschirme und Geschirr an. Am Samstag brechen wir früh in die Synagoge auf, wo das junge Ehepaar von der Gemeinde geehrt und gesegnet wird. Ab Mittag treffen die Gäste ein. Danach geht wieder alles so schnell, dass ich am Ende des Tages ganz durcheinander zurückbleibe, mit einem Haus, das erneut aussieht, als wäre ein Tornado durchgezogen. Doch wir räumen auf und dann wird es endlich ruhig. Die frisch Verheirateten packen ihre Kleider, Anzüge, Schuhe, Unmengen von übriggebliebenen Partyutensilien und Spirituosen ins Auto und verabschieden sich.

Ich denke, es ist verständlich, dass ich jetzt nur noch meine Komfortzone zurückhaben und für einige Zeit keine Personen mehr in unserem Haus sehen will, die nicht meiner Kernfamilie angehören.



Natürlich ist auch ein freudiger Anlass wie dieser von den Zeichen der Zeit geprägt. Während der Zeremonie unter dem Baldachin gedenken wir Nitzan. Ihre Mutter und Schwester weilen unter den Gästen. 
Auch ein Gebet für die kämpfenden Soldaten und für die Gefallenen wird gesprochen. 
Der Bruder des Bräutigams dient seit dem 7. Oktober-Pogrom fast ununterbrochen in Reserve. Seine Truppe ist in Gaza stationiert, für die Hochzeit kann er einige Tage Urlaub ergattern. 
Yotam und seine Freunde, die am Nova-Massaker durch ein Wunder dem Tod entwischt sind, feiern mit uns. Yotam, der mit einer Schusswunde davongekommen ist, wird im Juli heiraten. 
Die Eltern von Tomer, der im April 2022 bei einem Attentat in Tel-Aviv ermordet worden ist, beehren uns mit ihrer Anwesenheit. 
Jeder hier hat seine Geschichte, einige davon kenne ich, viele nicht. 
Alon tanzt die ganze Nacht unter grosser Anstrengung auf einem Bein und mit der neuen Prothese, immer umgeben und gestützt von seinen treuen Freunden. Als er sich erschöpft für einige Minuten eine Pause gönnt, tanzen seine Freunde mit seiner Beinprothese weiter. Das mag makaber scheinen, aber es versinnbildlicht durch und durch den Geist dieses Volkes: Es ist ein Volk, das sich nicht nieder kriegen lässt. Voller Optimismus werden sie Familien gründen, Kinder bekommen und Feste und das Leben feiern und wenn es sein muss, werden sie lachend und weinend zugleich mit Prothesen tanzen.



Irgendwann in den späten Nachtstunden betrachte ich das ausgelassen tanzende Grüppchen und bin zutiefst berührt von der Resilienz und der überbordenden, ungebrochenen Lebensfreude. Während der Judenhass in Form von verdrehten Narrativen, Verleumdung und jeglicher Realität entbehrenden Behauptungen auf der ganzen Welt eskaliert, weiss ich, dass wir – dieses Volk, und ich mit ihm – auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Mögen die jungen Leute hier viele Kinder gebären, sie in Liebe grossziehen, mögen sie Gutes tun und über alles Böse siegen! Mögen ihre Kinder in Frieden und Sicherheit leben und mögen sie der Menschheit ein Licht im Dunkeln sein!



Montag, 19. Mai 2025

Big Glilot

Am Samstagabend entführen mich meine Töchter nach "Big Glilot", den neuesten Mega-Shoppingtempel in Israel. Hier locken unzählige weitläufige Läden in zweistöckigen Gebäuden in Form einer architektonisch raffiniert geplanten kleinen Stadt. An diesem Samstagabend ist der sensationelle neue Einkaufspalast proppenvoll. Kauffreudig flanieren die Israelis auf europäisch chicen Promenaden, zwischen plätschernden Zierbrunnen und -becken, Ruhebänken und auf Galerien mit Balustraden in elegantem Design. Sie pilgern in Scharen herbei, vergnügen sich in den Läden und Restaurants und stehen willig vor den Ankleidekabinen und Kassen zu Dutzenden Schlange. 


Ich bin überwältigt von den Menschenmassen und der Grösse und Eleganz des Einkaufszentrums. Gleichzeitig wundere ich mich, warum gerade mehrere Fluggesellschaften ihren Flugstopp nach Israel verlängert und damit meinen Schweizer Hochzeitsgästen endgültig die Anreise an unser Fest am Donnerstag vereitelt haben. Sieht so etwa ein gefährliches Touristenziel aus? 

Schwarz gekleidete Angestellte schweben auf elektrischen Rollern über die Gehwege, beantworten Fragen, geben Auskunft und lesen den Besuchern jeden Wunsch von den Lippen ab. Wie überall in Israel sieht man auch hier viele Araber, erkenntlich vor allem an den züchtigen Kopfbedeckungen der Frauen. Doch hier scheint eine ganz andere Gruppierung von Menschen unterwegs zu sein, als ich sie aus meinem gewohnten Umfeld kenne: Die Kleider sind zwar sittsam lang, aber erkenntlich teuer und modern. Schuhe von Dior, Brillen und Taschen von Prada und Gucci werden zur Schau getragen. Ein Shoppingtrip nach Dubai war nie auf meiner Löffelliste, doch nun habe ich ihn offensichtlich trotzdem bekommen. 
Der Laden der Modekette Zara umfasst drei Stockwerke. Auf dem grossflächigen Vorhof stehen mehrere Luxuskarossen, die man gleich auch noch kaufen kann. Ich bräuchte eigentlich nur Nachschub für meine übliche (billige) Feuchtigkeitscrème, doch sogar mein gewohnter Drogeriemarkt ist hier zum Luxuspalast geworden. In der Eingangshalle werden nur teuerste Parfums angeboten. Das Parfum meiner Träume wird von einem breitschultrigen uniformierten Mann bewacht. Eingeschüchtert von soviel unerschwinglichem Luxus mache ich mich gleich wieder aus dem Staub. Die Crème kann ich ja anderswo kaufen. 
Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Was für eine bizarre Parallelwelt! Das wirft Fragen auf. Wie viele Kleider und Schuhe kann man sich eigentlich noch kaufen? Hier kann niemand mehr übersehen, dass sich unser gesamtes Dasein nur um Geld und Materielles dreht. Der Messias ist schon da, wir warten vergebens! Diese Stätten sind die Kulttempel unserer Generation. 
Doch bei allem Kopfschütteln kaufe auch ich einige Dinge, die ich überhaupt nicht brauche. Wie könnte man entsagen? Alles riecht so verführerisch. Im Laden meiner Lieblingsmodemarke versuche ich viermal, zum Ausgang zu steuern – jedes Mal saugt mich die Versuchung in Form eines weiteren Kleidungsstückes wieder hinein. Irgendwann schaffe ich es doch, mit Hilfe meiner Töchter. Dann lassen wir diese surreale Kultstätte hinter uns und reisen in einer vierrädrigen Zeitmaschine wieder in unsere eigene kleine Welt zurück.

Nachts weckt mich die Alarm-App, wahrscheinlich um meine Frage zu beantworten, warum die Fluggesellschaften nicht nach Israel fliegen. In Tel-Aviv und Umgebung laufen Hunderttausende in die Schutzräume. Dank dem nächtlichen Weckruf erfahre ich, dass Yuval Raphael am ESC in Basel als Publikumsliebling den zweiten Platz gewonnen hat. 

Dann schlafe ich unruhig weiter. In wirren Träumen erscheinen mir Luxuskarossen in Dubai, ein Goldesel, Israelis, die nachts um zwei in Luftschutzkellern den ESC Sieg feiern, meine Töchter in Hochzeitskleidern, Palästinenser-Flaggen in Basel, jemenitische Raketen und Swiss-Flugzeuge, die vor der Küste Israels kehrt machen.
 
Am Morgen entpuppt sich alles als wahr. Wir leben in wahrlich verrückten Zeiten.





Samstag, 10. Mai 2025

Rami, Meister der Improvisation

Seit einigen Jahren lasse ich meine relativ kurzen Haare nur von der Coiffeuse meines Vertrauens in der Schweiz schneiden. Die zuvorkommende Bedienung und die absolut zufriedenstellende Leistung sind mir den höheren Preis wert. Die Coiffeuse ist begabt und technisch kompetent, sie hat ihr Zeitmanagement bestens im Griff und plant ihre Termine so umsichtig, dass ich nie eine andere Kundin antreffe. Die Atmosphäre im kleinen Salon ist ruhig und angenehm. Der Besuch beginnt mit einem Beratungsgespräch, in welchem die gewünschte Frisur basierend auf Erfahrungen und Resultate vom letzten Mal besprochen und im Detail geplant wird. Dann werde ich mit einer liebevollen Haarwäsche mit betörend riechenden Haarpflegemitteln verwöhnt. Beim Schneiden geht die Coiffeuse sorgfältig auf jede einzelne Strähne ein, sie arbeitet sich strategisch und gleichzeitig äußerst kreativ rund um meinen Kopf und setzt in präziser Arbeit ihre Vision um. Am Schluss ist meine Frisur immer perfekt, top modern, genau richtig in der Länge und ich fühle mich wunderschön.

Nun scheint einzutreffen, was ich befürchtet habe: Ausgerechnet für die Hochzeit meiner Tochter werde ich mich mit Coiffeur Rami in Netanya begnügen müssen, dem Meister der Improvisation.

In den vergangenen zwei Wochen hatte ich täglich die Flugangebote in die Schweiz unter dem Radar. Doch die Situation ist mit dem momentanen Aussetzen mehrerer Fluggesellschaften äußerst prekär. Irgendwann musste ich mir eingestehen, dass aus einem Sprung zur Coiffeuse in der Schweiz vor der Hochzeit nichts mehr wird. Und so betrat ich diese Woche mit mulmigem Gefühl Ramis Salon in Netanya, um mit ihm mein Haardesign für die Hochzeit in die Wege zu leiten.

Ein Besuch bei Rami in Netanya ist eine authentische israelische Erfahrung. In den bald 40 Jahren, in denen ich in Israel lebe, habe ich noch nicht in Erfahrung bringen können, ob es hier Usus ist, sich beim Coiffeur anzumelden oder nicht. Manchmal tue ich es, manchmal nicht - es macht überhaupt keinen Unterschied. Immer sitzen schon einige Frauen auf den wenigen Sitzgelegenheiten und warten, bis sie von einem der beiden Coiffeure, zwei Brüdern, bedient werden, und so auch ich. Rami wäscht mir die Haare so lieblos, dass mir seine Frau ernsthaft leid tut. Irgendwelche Wünsche betreffend der Frisur anzubringen, ist völlig sinnlos. Rami klopft höchstens einen flotten Spruch. Beim Frisieren vermitteln mir seine Körpersprache und sein Stil, dass er keinen Plan, keine Kontrolle und keine Übersicht hat. Er schneidet einfach drauflos, ganz nach dem Motto, irgendwie schaukeln wir das schon!

Ich habe enorme Mühe mit dieser demonstrativen Lässigkeit. Improvisation und Nonchalance mögen ja gut und schön sein, sind aber einfach nicht immer angemessen. Wenn ich mich zum Beispiel einer komplizierten Herzoperation unterziehen muss, finde ich Kompetenz und Präzision wichtiger. Ebenso bei meiner Frisur. Aber Rami fährt mir mit der Schere ins Haar, dass mir der Atem stockt. Er wirft die Schere locker von Seite zu Seite, schneidet hier ein bisschen und da ein bisschen. Unterdessen unterhält er sich mit den anderen Kundinnen, Bekannte kommen vorbei, um mit ihm zu plaudern, und zweimal beantwortet er das Telefon. Die Nachbarin des Salons bittet dringend um Hilfe, sie hat eine Eidechse in der Wohnung. Ich rechne es Rami hoch an, dass er mich nicht mit der halbfertigen Frisur zurücklässt, sondern seinen Bruder auf die Rettungsaktion schickt.

Ehrlicherweise muss ich anfügen, dass ich mit dem Resultat meistens überraschend zufrieden bin, sonst käme ich garantiert nicht mehr wieder. Als eingefleischte Schweizerin finde ich einfach das Gefühl, etwas nicht wenigstens einigermaßen unter Kontrolle zu haben, sehr beunruhigend. 

Während ich bezahle, bläue ich Rami ein, dass er sich ja meinen geplanten Besuch am Tag der Hochzeit im Terminkalender vormerken und rot einrahmen soll. Dabei suche ich die Theke verstohlen nach einem Kalender ab – aber dort liegt nichts, nicht einmal ein Kugelschreiber.

Ja, ja, sagt er, ruf mich doch einfach zwei oder drei Tage vorher an. Jetzt weiss ich, dass er gar keinen Terminkalender hat.




Montag, 5. Mai 2025

Alles ruhig

Israel ist zur Zeit nicht gerade das Land, in welchem man sich einen entspannten und beruhigenden Urlaub erträumt. Trotzdem haben sich einige treue und mutige Familienmitglieder aus der Schweiz für das Hochzeitsfest unserer Tochter Ende Mai angemeldet. Ich gestehe: Damit sie keine kalten Füsse bekommen, antworte ich jetzt jeweils eher zurückhaltend, wenn sie mich am Telefon fragen, wie es uns geht. Man muss ja nicht jedes Mal die ganze Katastrophe ausführlich beschreiben. Immerhin lebe ich jedenfalls einen einigermassen geregelten und meistens ruhigen Alltag. Auch diese Woche wieder bestätige ich einem etwas verunsicherten Schweizer Gast, dass die Situation in Israel einfach wunderbar ist! Raketenalarme? Ach was! Nicht bei uns!

Aber - alle Facebook-Nutzer kennen das: Wenn man über irgendetwas spricht, hat man umgehend den Feed voll mit Angeboten für das just besprochene Thema. Mit den Raketen aus dem Jemen und allen anderen Himmelsrichtungen scheint es sich ähnlich zu verhalten.

Dass unsere Heimfront jetzt eine neue Funktion anbietet, die auf dem Handy zwei Minuten VOR dem Alarm eine Ankündigung schickt, habe ich schon gehört, aber noch nicht selbst erfahren. Dann ist es so weit: Die Warnung erscheint wie aus dem Nichts auf meinem Telefon, während ich fleissig im Heimbüro mit etwas ganz anderem beschäftigt bin. Ich schrecke auf und schaue noch einmal genauer hin. Wird jetzt wirklich ein Alarm folgen? Bei uns? Das ist bestimmt eine Fehlfunktion! Ich rufe nach oben, dass es in zwei Minuten Alarm geben könnte. Eyal ruft irgendetwas zurück, das ich nicht hören kann. Sonst keine Reaktion. Und jetzt? Ich arbeite weiter. Dann geht der Alarm tatsächlich los. Soll ich in den Schutzraum? Ehrlich gesagt, glaube ich an den Schutz dieses Raumes etwa so sehr, wie an den Erfolg meiner Osteopathin. Also bleibe ich im Heimbüro sitzen. Das Zimmerchen war früher mal eine Garage, ist aber trotz des Umbaus vermutlich das am meisten exponierte und am wenigsten geschützte Zimmer unseres Hauses.

Ich habe ein Abo bei einer Lotterie (Mif'al Hapais), bezahle monatlich meine Beiträge und habe in dreissig Jahren noch nie etwas gewonnen. Ich bin vor Zufallstreffern geschützt. Die Rakete wird nicht ausgerechnet auf diese Garage niedergehen. Ich arbeite weiter, verdränge dabei die Gedanken an das "Und wenn doch?"

Wie vermutet, gibt es auch dieses Mal für mich keinen Lotteriegewinn. Anderswo aber doch: Eine der Raketen, die die Huthis aus dem Jemen heute auf Israel abgefeuert haben, konnte nicht abgefangen werden, schlug in der Nähe des Ben-Gurion Flughafens ein und verursachte beträchtlichen Schaden. Als Konsequenz annullierten verschiedene Fluggesellschaften umgehend ihre Flüge von und nach Israel.

Nun hoffe ich, dass das Ganze nicht eskaliert. Die Plätze an der Hochzeit bleiben für die Schweizer Gäste auf jeden Fall reserviert.

In Netanya übrigens, wo sich die Gäste einquartieren werden, gab es auch dieses Mal keinen Alarm. Netanya ist – in dieser Hinsicht - immer ruhig. Und auch sonst ist bei uns einfach alles wieder wunderbar! Es ist nur eine Frage der Einstellung.

Sonnenuntergang in Netanya. Einfach wunderbar!












Sonntag, 4. Mai 2025

Stimmung

Krieg hier. Kriege dort. 
Ein Krieg zwischen Zivilisation und entfesselter Barbarei.
Unsere Kinder Soldaten wider Willen, alle traumatisiert. 
Totalitäre Ideologien, die überhand nehmen.
Despoten, die die Welt im Höllentempo an die Wand zu fahren scheinen.  
Konfuse wirtschaftliche Lage. Heute so, morgen anders.
Börse, die Achterbahn fährt. 
Dazu noch Extremwetter.
Überschwemmungen, Brände.
Jede Woche irgendwo eine Katastrophe.
Kaum geschehen, schon vergessen.
In den Medien Lärm und Hass, überall, auf alles.  
Desinformation, Zerrbilder und wahnhafte Ideen. 
Krieg der Narrative.
Weltweiter Antisemitismus in schockierendem Ausmass.
Dämonisierung Israels. 
Die Welt, die auf uns zeigt. 
Nicht sehen, nicht hören, nicht verstehen will. 
Das Schweigen vieler. 
Auch ein Bekenntnis.
Der wachsende Graben in der israelischen Gesellschaft.
Freundschaften, die brüchig werden. 
Die Geiseln, die immer noch dort sind. 
19 Monate in feuchten dunklen Erdlöchern. Täglich gefoltert.
Ihre Familien am Verzweifeln.

Alles wird zu gross, zu laut, zu viel.

Und ich mittendrin. 
Gehe unter. 
Will nichts mehr hören.
Will von allem nichts wissen.
Halte mich fest an Momenten, in denen die Welt kurz stillsteht: 
Ein Morgenspaziergang nach einer regenreichen Nacht. 
Der Duft des ersten Kaffees an einem neuen Tag.
Eine Melodie oder ein Lied, das mich fortträgt.
Ein Glas kaltes Wasser an einem heissen Tag.
Ehrliche Gespräche und lustige Augenblicke.
Familienmitglieder, die treu immer da sind. 
Die vielversprechenden Blüten im Garten.
Mangos bald, Pitanga und vielleicht Passionsfrüchte.

Klammere mich an jedes bisschen Normalität.
An jedes bisschen Hoffnung.