Freitag, 13. Oktober 2023

Für unsere Kinder

Gestern bin ich etwas zusammengebrochen. Nach Aufenthalt im Schutzraum am Mittwochabend wegen falschem Alarm, Aufenthalt im Schutzraum am frühen Morgen danach wegen echtem Alarm, zwei Beerdigungen am Nachmittag (Yoni, 21 und Nitzan, 28, im vierten Monat schwanger) und all den unfassbaren, schrecklichen Nachrichten war ich am Abend am Boden zerstört. Seit Samstag leide ich an Atemnot und schlafe nachts nicht länger als vier oder fünf Stunden.

Aber heute Morgen habe ich eine grosse Israelflagge vor unser Haus gehängt und beschlossen, stark zu bleiben. Ich werde ganz aktiv versuchen, diese schreckliche Realität von mir fernzuhalten, denn anders ist es nicht auszuhalten. Ich werde mein Handy nicht mehr anrühren, es sei denn, jemand ruft mich an. Kein Instagram, kein Facebook, keine Zeitungen, keine Nachrichten. Ich werde nur noch Bücher lesen. Und ich werde ganz fest daran glauben, dass wir das überstehen werden. Das Gute muss über das Böse siegen. Für unsere Kinder.

Dienstag, 10. Oktober 2023

Stop all the clocks (Funeral Blues)

Für Nizan (28), Yuval (26), Omer (22), Sivan (22), Peleg (26), Yoni (22) und ihre Familien



Stop all the clocks, cut off the telephone,
Prevent the dog from barking with a juicy bone,
Silence the pianos and with muffled drum
Bring out the coffin, let the mourners come.

Let aeroplanes circle moaning overhead
Scribbling on the sky the message 'They Are Dead'.
Put crepe bows round the white necks of the public doves,
Let the traffic policemen wear black cotton gloves.

They were my North, my South, my East and West,
My working week and my Sunday rest,
My noon, my midnight, my talk, my song;
I thought that love would last forever: I was wrong.

The stars are not wanted now; put out every one,
Pack up the moon and dismantle the sun,
Pour away the ocean and sweep up the wood;
For nothing now can ever come to any good.

W. H. Auden (1907-1973)


Donnerstag, 5. Oktober 2023

Bruno




Beim Autofahren vernehme ich aus dem Morgenprogramm im Radio, dass Agam Buhbut als eine der Aufwärmesängerinnen für ein Konzert von Bruno Mars gewählt worden ist. Ich kenne Agam nicht, sie ist für mich ein weiteres Sternchen am unübersichtlichen israelischen Schlagerhimmel. Aber ich weiss sehr wohl wer Bruno Mars ist und denke, alle Achtung Agam, als Vorsängerin für ein Bruno Mars-Konzert ins Ausland fliegen zu dürfen ist ein Karriereschritt, auf den du stolz sein darfst.

Etwas später erfahre ich aus den Medien, dass Agam gar nicht ins Ausland fliegt, sondern dass der Megastar Bruno Mars in Israel auf Tournee ist und heute Abend im Hayarkonpark in Tel-Aviv aufspielt. So macht die Sache mit der Vorsängerin Agam schon mehr Sinn, bedeutet aber immer noch ein beachtenswerter Erfolg.

Dann nimmt das Schicksal seinen Lauf und ehe ich mich versehe, befinde ich mich kurz nach sieben Uhr abends mit einer Freundin und meiner Tochter im „Golden Ring“ des Bruno Mars-Konzerts, von welchem ich am Morgen dieses Tages überhaupt noch nichts wusste. Spontan und gratis eingeschmuggelt von einem Crewmitarbeiter, Sohn der Freundin! Etwa 60‘000 Leute (+drei) drängeln sich im Park und warten fiebernd auf den Auftritt des Stars. Bruno und seine Band legen pünktlich und professionell zum geplanten Zeitpunkt los und hüpfen und fetzen in einer grandiosen und eindrücklichen Show fast zwei Stunden über die Bühne. Die Aufwärmesänger Mergui und Agam haben da noch einiges zu lernen.

Da ich nicht gerade der Musikshowfreak bin, habe ich einen Anlass dieser Ausmasse noch nie erlebt, sieht man von den Konzerten der Rolling Stones (ja, ja, DIE Rolling Stones) und Neil Young in Basel in den Achtziger Jahren ab, wo ja alles noch etwas geruhsamer zu und  her ging.

Nach Ende der Show strömen die 60‘000 Besucher aus dem Park in alle Richtungen, von der Polizei geschleust. Auf dem eigentlich kurzen Weg zum Bahnhof müssen wir kontrolliert an zwei abgesperrten Stellen warten, um zu verhindern, dass sich plötzlich Zehntausende auf den Bahnsteig drängeln. So dauert die Heimreise aufgrund der Menschenmassen fast zwei Stunden. Im Zug fängt nach Mitternacht meine Geburtstagsfeier an, untermalt von einem spontanen Happy-Birthday-Ständchen meiner Tochter, in welches natürlich alle Reisenden im Waggon einstimmen – Israel eben!

Fazit: ein aussergewöhnlich eindrückliches Erlebnis, das durch die Spontaneität und die Fügung des Schicksals, das uns die begehrten Tickets ganz unerwartet ausgerechnet an meinem Geburtstag in den Schoss schneite, noch um ein Vielfaches mehr faszinierte. Aber auch – zu viel Lärm für meine alten Ohren und zu viele Menschen und Gedränge. Und fast vier Stunden an Ort stehend zu verbringen, ist wohl auch eher etwas für Jüngere.

Immerhin, ich bin begeistert und sehr dankbar für dieses einmalige Erlebnis. Und jetzt, am Morgen danach sitze ich im Garten und starte mit einem grossen Beruhigungstee mit Honig in meinen Geburtstag, denn ich bin heiser und habe Ohrensausen und ein Hangover, als hätte nicht Bruno Mars, sondern ich persönlich gestern Nacht eine Megashow hingelegt.


Mittwoch, 13. September 2023

Himmel und Hölle


Als die ersten Menschen zu biblischen Zeiten durch die damals noch strassenlose Negevwüste und über die Eilater Berge an den Golf von Aqaba gelangten, musste ihnen die langgestreckte Bucht, in welche das Rote Meer an seinem Nordende ausläuft, paradiesisch schön erschienen sein. Eine von sanften, rötlich leuchtenden Bergkämmen geschützte Bucht breitete sich vor ihnen aus, mit weitläufigem Kieselstrand, trockenem Klima, klarem, spiegelglattem Meer und – falls die ersten Menschen schon baden gingen – einer Vielfalt von farbigen Korallen und Fischen im angenehm kühlen Wasser.

Blick auf Jordanien


Von diesem Paradies ist heute nichts mehr übrig. Im östlichen Drittel der Bucht liegt die jordanische Stadt Aqaba, welche ich zwar aus der Ferne betrachten, aber nur nach einer umständlichen Grenzüberqerung besuchen könnte. Im israelischen Teil der Bucht liegt die Stadt Eilat. Hier verschandeln unzählige riesige Hotelanlagen das einstige Paradies. Einige monströse, nicht identifizierbare Gebäude sind reichlich heruntergekommen oder liegen sogar leer, dem Verfall überlassen. Die Stadt ist katastrophal strukturiert: In der Stadtmitte stört der ausrangierte Flughafen, zurzeit eine unübersichtliche Baustelle. Wie eine eiternde Wunde klafft zwischen den Hotels die bedrohlich eingezäunte und nicht gerade charmant gestaltete Militärbasis. Den südlichen Teil der Stadt verunstaltet der kolossale Hafen.
Das Angebot an öffentlichem Verkehr ist minimal, dementsprechend ist die Stadt von Autos überfüllt und zum Bersten volle Parkplätze dominieren alle öffentlichen Anlagen.
Das türkisfarbene Meer täuscht. Die Korallenriffe sind grösstenteils zerstört und abgestorben. Unter der Wasseroberfläche ist alles grau, tot und hässlich. Vereinzelte Fische bringen noch etwas Farbe in die Unterwasserwelt, als stumme Mahnmale des einstigen Reichtums.
Etwa 99 % der Hotelgäste sind Israelis, die Billigferienangebote ihrer Arbeitgeber in Anspruch nehmen. (Wobei das Wort „billig“ mit Bedacht genossen werden muss, denn billig ist in Israel, dem offiziell teuersten Land der Welt überhaupt nichts.)
In den Hotels wimmelt es von schlecht erzogenen lärmenden Kindern und schwitzenden Erwachsenen in unvorteilhaften Bad- und Strandkleidern.
Über all dem weht der Hauch des Todes: Eine unerträgliche Hitze, rund um die Uhr. Ein starker heisser Wind bläst ununterbrochen, als halte jemand im Himmel einen Riesenföhn im Turbomodus auf die Stadt gerichtet. Sogar abends um acht zeigt das Thermometer noch 41 Grad und wer sich gar über Mittag nach draussen wagt, läuft Gefahr, lebendigen Leibes verbrannt zu werden!
Das israelische Tourismusbüro möge mir verzeihen, aber – Eilat ist die Hölle auf Erden!


Doch auch in der Hölle scheint es Lichtblicke zu geben: Wir bekommen ein dezent gestyltes grosses Hotelzimmer mit – am Allerwichtigsten – perfekt funktionierender Klimaanlage. Auch die Aussicht über den Pool ist famos (wenigstens morgens um sieben).



Und – das absolute Highlight: Der Mann an meiner Seite, den ich vor bald 40 Jahren ausgerechnet in Eilat kennengelernt habe, überrascht mich mit einem verwöhnenden Spa-Schwebe-Erlebnis. Schweben ist ja an sich schon ein traumhafter Zustand. Gesteuertes Schweben ist überwältigend! Das geht so: Ich schwebe in Rückenlage in einem überdachten Meerwasserbecken mit perfekter Wassertemperatur, ein kleines Kissen unter dem Kopf. Eine hübsche junge Dame, die ich aber schon nach zwei Minuten absolut nicht mehr wahrnehme, bewegt, dehnt und streckt vorsichtig meinen Körper. Sie dehnt meinen Nacken, streckt meine Wirbelsäule, bewegt meine Finger, lockert meine Beine, drückt meine Füsse. Während ich schwebe, halten mich ihre Hände (es scheinen mehrere zu sein) mit leichtem Drücken und Stupsen in ständiger Bewegung. 
Ich werde eins mit dem Wasser, mein Körper verliert seine Grenzen. Ich schalte ab und bin weg. Schwerelos, aber immer in Bewegung. Ich bin eine Welle. Eine Welle, getragen von anderen Wellen. Zusammen erzeugen wir das Meeresrauschen. Leise Unterwassermusik begleitet uns. An meinem Ohr ein fremder Herzschlag. Ist es meine Mutter, in deren Leib ich heranwachse? Atme ich? Oder nehme ich Sauerstoff über Kiemen auf? Meine Hüften wiegen sich in einem flüssigen Sambatakt (was man nicht alles kann, wenn man sich vergisst). Meine Extremitäten werden zu weichen, im Wasser tanzenden Flossen.
Nach einer Weile ohne Zeitmessung werden eben diese Flossen sanft nach unten gedrückt. Einige nachdrückliche Versuche bringen mich in die Vertikale. Ich erinnere mich, dass ich Beine und Arme habe und wundere mich, ob ich gerade geboren worden bin. Es ist vorbei, aber ich bin ruhig und glücklich.
Ich darf in einem der weiteren Becken noch etwas alleine vor mich hinschweben und nutze das Angebot ausgiebig. Danach gucken wir uns die Delphine an, die hier in zum Meer offenen Becken leben. Die Delphine lächeln. Kein Wunder! So schlimm ist es gar nicht in der Hölle.


Mittwoch, 23. August 2023

Schlaflose Nächte

An der Hitze kann es nicht liegen, unsere Klimaanlage funktioniert tadellos. Attentate? Die innenpolitische Situation? Stress im Job? Der schnarchende Partner? Nein, das ist es auch nicht, diese üblichen Störfaktoren sind – schrecklich genug – längst zur Gewohnheit geworden.

Es geht um meine Tochter. Nach zwei Monaten in Kanada wird sie sich heute von ihren israelischen Reisefreunden trennen und morgen alleine nach Hause reisen. Dabei muss sie in Downtown Toronto den UP Express zum Flughafen besteigen. Vom Flughafen kann sie mit dem Shuttlebus zum Hotel fahren. Sie wird eine Nacht im Hotel übernachten und am Donnerstag erneut den Shuttlebus zum Flughafen nehmen, einchecken und nach Tel-Aviv fliegen. Das alles in Begleitung – eines Riesenkoffers mit beträchtlichem Übergewicht und einer aus allen Nähten platzenden Reisetasche. Aber sonst alleine.

Der UP Express fährt ab Downtown Toronto alle 15 Minuten direkt ins Terminal 1. Das Ticket kostet $12.35. Die Shuttlebusse fahren alle 40 Minuten vom Terminal ins Hotel. Auf der Webseite des wie es scheint riesengrossen International Pearson Toronto Flughafen gibt es eine interaktive Karte, die bei Eingabe des aktuellen Standortes und einer Zieldestination eine Schritt-für-Schritt-Beschreibung generiert. Das alles weiss ich unterdessen bestens, denn ich verbringe schon Tage mit Internetrecherchen. Bei Tageslicht betrachtet sollte das alles eigentlich machbar sein, auch wenn man erst 21 und reiseunerfahren ist.

Aber nachts! Nachts jagen sich in meinen Wach-/Schlafträumen abwechselnd abscheuliche Schreckensvorstellungen und schweisstreibende Horrorszenarien. Mein Töchterchen, hungrig, frierend, verloren und weinend in einer dunklen Ecke des unübersichtlich weitläufigen Flughafens sitzend, ihre Gepäckstücke aufgeplatzt, ihr Hab und Gut zerstreut, die Pässe verloren, die Handybatterie leer, von Passanten unbeachtet, einige zwielichtige Lüstlinge um sie herumschleichend.

Aber was kann schon passieren? versuche ich mich zu beruhigen, während ich mich schlaflos im Bett von Seite zu Seite drehe. Im schlimmsten Fall verpasst sie den Flug und nimmt den nächsten. Oder bleibt einfach noch ein paar Tage. Nichts, das mit etwas Unkosten nicht zu lösen wäre.

Am Donnerstag, während sie vom Hotel zurück zum Flughafen fahren, einchecken und sich zum Gate begeben soll, werde ich für etwa zwei Stunden nicht erreichbar sein. Ich habe mich zum Stehpaddeln bei Sonnenuntergang angemeldet. Ob das eine gute Idee ist? Ich versuche mich ja abzunabeln, aber vielleicht sollte ich jetzt einfach endlich einmal einen wasserdichten Beutel für mein Handy besorgen. Dann könnte ich vom Paddelboard aus telefonierend die Welt unter Kontrolle halten und Anweisungen geben: Lift zu Level 1, 50 Meter nach rechts, eine Treppe runter, Lift zum Ground Level, 100 Meter geradeaus, Türe R...




Mittwoch, 15. Februar 2023

Ein neues Kapitel

Ein weiteres Küken – das Letzte – macht seine ersten Flugversuche und springt aus dem Nest. Lianne blieb zwar während ihrem Militärdienst schon länger von zu Hause weg, aber jetzt ist es anders. Jetzt schreibt ihr keiner etwas vor, alle Türen stehen offen, sie kann wählen, was sie will. Jetzt muss sie wirklich alleine fliegen lernen.

Fürs Erste wählt sie eine Arbeit in der Kinderbetreuung in einem nahegelegenen Kibbuz. Dort kann sie etwas Geld verdienen, ein eigenes Studio mieten und wird sicherlich viel Kontakt mit Gleichaltrigen haben. Dabei wird sie aber doch nicht so weit von uns entfernt sein und wird die Wochenenden weiterhin mit uns und ihren gewohnten Freundinnen verbringen können.

Den passenden Kibbuz findet sie nach einigen Vorstellungsgesprächen. Alles scheint zu stimmen. Doch am letzten Wochenende vor dem Neuanfang packt sie die Angst. Ein neuer Ort, eine ungewohnte Arbeit, fremde Menschen, das alles scheint ihr jetzt zu viel des Unbekannten! Nun möchte sie sich zum Kokon verpuppen, bei uns auf dem bekannten Sofa, unter der warmen Decke. Und wie immer empfinde ich als Mutter ihre Angst als wäre es meine eigene. Ich will doch nur, dass es ihr gut geht und dass sie glücklich ist und dazu scheint auch mir gerade unsere sichere Stube die ideale Umgebung.
Was habe ich mir nur eingebrockt, fragt mich Lianne, warum mache ich das? 

Und ich? Beinahe bin ich versucht ihr zu sagen, dass sie die Stelle nicht antreten muss, wenn sie es nicht wirklich will. Doch dann tauchen Erinnerungen auf an eine junge Frau, wenig jünger als Lianne jetzt, die in ein fremdes Land reiste, ohne die geringste Ahnung zu haben, was sie erwartete und ohne jemanden zu kennen. Ich erlebte glückliche und aufwühlende Momente, Erfreuliches, Überraschendes und Ärgerliches. Ich hätte viel verpasst, wäre ich diesem Abenteuer ausgewichen. Also versuche ich Lianne aufzumuntern, aber ich bange mit ihr.
Der letzte Tag vergeht unaufhaltsam. Lianne packt einige Sachen, umarmt uns und geht, ängstlich und unsicher.

Am Ende ihres ersten Arbeitstages fährt Lianne in die nahegelegene Stadt, um einige Esswaren einzukaufen. Von dort kann sie entweder in zehn Minuten in das leere ungewohnte Zimmer im Kibbuz zurückfahren, oder in fünfzehn Minuten zu uns nach Hause...

Ach, Mami, ich habe euch so vermisst! Ruft sie lachend, als sie eintritt. Nach knapp 24 Stunden umarmen wir uns, als hätten wir uns Monate nicht gesehen. Sie isst in unserer Küche ein Stück Brot mit Avocado und behauptet, es sei das schmackhafteste Avocadobrot, das sie je gegessen habe!

Dann nimmt sie einen zweiten Anlauf und dieser ist erfolgreicher. Am Wochenende kommt sie begeistert nach Hause und berichtet von vielen neuen Leute, die sie kennengelernt hat und von der Arbeit mit den Kindern. Unterdessen ist eine weitere Wochen vergangen. Lianne unterschreibt einen Mietvertrag, sie lernt, wo das heisse Wasser in der Dusche herkommt, wie der Stromverbrauch berechnet wird und wie man sich einen Internetvertrag einrichtet. Sie setzt sich mit herausfordernden Mitarbeitern auseinander, geht abends mit neuen Bekannten Pizza essen oder verdient sich an den freien Abenden zusätzliches Taschengeld beim Kinderhüten.


Jemand bringt ihr ein gebrauchtes Bett und ein Sofa. Ein Blick in ihren Schrank lässt mich schmunzeln: Eine weisse Schüssel und eine kleine Bratpfanne verkünden den Anfang eines selbständigen Lebens.

Montag, 17. Oktober 2022

Sprudelbad im Toten Meer

Auch wenn das Alltags-Hamsterrad wieder läuft, gibt es doch immer wieder Ereignisse, die für Ausgleich sorgen. Drei Arbeitstage nach dem Urlaub folgt schon ein langes, erlebnisreiches Feiertagswochenende. Am Freitag besuche ich Itay, der nun auch in Tel-Aviv wohnt. Nachdem ich „seine“ Untermiete-Wohnung (und vor allem die Staub- und Schmutzschichten) bestaunt habe, verbringe ich einen sehr erfreulichen und bereichernden Tag mit meinen Kindern in Tel-Aviv.

Sonnenuntergang in Tel-Aviv


Zwei Tage später folgt ein Ausflug mit Übernachtung ans Tote Meer.

Das Tote Meer liegt einige hundert Meter unter dem Meeresspiegel, gleicht aber eher einer surrealen Mondlandschaft als einem irdischen Meer oder See. Kaum tritt am frühen Morgen die Sonne über die Berge am jordanischen Ufer, steigen die Temperaturen auf über dreissig Grad. Umgehend liegt das ganze Gebiet unter einer Dunstwolke, auch jetzt, Mitte Oktober. Der Dunst verwischt alle Übergänge, sodass die umliegenden Berge bis am späteren Nachmittag kaum mehr wahrzunehmen sind. Wortfetzen in unzähligen Sprachen durchdringen die beigefarbene Dunstwolke: russisch, arabisch, hebräisch, englisch, chinesisch, deutsch und vieles mehr.

Das Wasser selbst hat eher die Konsistenz von Öl als von Wasser. Aufgrund des hohen Salzgehalts ist der Auftrieb so stark, dass es einem die Beine hebt, sobald man ins Wasser steigt. Kommt das salzige Wasser mit Wunden oder sogar den Augen in Berührung, brennt es stark. Zur irrealen Stimmung dieses seltsamen Sees trägt bei, dass alle Aktivitäten in Zeitlupe abzulaufen scheinen, sobald man das Wasser betritt. Ganz langsam steigen die Badenden ein, denn der Auftrieb macht schnelle Bewegungen unmöglich. Langsam und vorsichtig bewegen sie sich, um Spritzer zu verhindern. Hier kann man nicht schwimmen oder gar toben, nur einfach ruhig im Wasser sitzen oder liegen. Ich lege mich hin, strecke Beine und Arme von mir und lasse mich schwerelos auf dem Wasser treiben. Auch der Kopf ruht auf dem Wasser, die Ohren knapp unter der spiegelglatten Wasseroberfläche. Blubbernde, schwerelose Ruhe.

Kein Lüftchen trübt die Wasseroberfläche. Das ist wohl die Bedingung für eine neue Entdeckung, die ich heute mache: an einem Punkt des in der Sonne glitzernden Wasserspiegels steigen grosse Blasen auf, wie in einem Sprudelbad. Durch das klare Wasser sehe ich ein etwa 30 cm grosses, dunkles Loch auf dem Meeresgrund. Am Anfang habe ich ein unangenehmes Gefühl und befürchte, dass das Loch in diesem Science-Fiction-See aufklaffen und mich verschlingen könnte. Dann wage ich es langsam, meinen Fuss dem Loch zu nähern. Heisses Wasser steigt in starkem Strom aus dem Loch! Ich habe eine Heisswasser-Quelle auf dem Meeresboden entdeckt! Das Natur-Sprudelbad ist super angenehm. Leider fehlen irgendwelche Festhaltevorrichtungen, damit ich auf den Massagedüsen dieses Natur-Jacuzzi sitzen kann. Meine Versuche scheitern immer wieder, der Heisswasserstrom treibt mich weg. Nach mehreren Versuchen gebe ich auf und lege mich wieder in Relax-Lage auf den Rücken – das einzige, das man hier machen kann.