Mittwoch, 15. Juli 2020

Spuren im Sand

Zwölf obligatorische Schuljahre sind abgeschlossen. Auch die Jahre bei den Pfadfindern, in welchen meine Tochter seit der dritten Klasse mit den Kindern unseres Dorfes enge Freundschaften schliessen konnte, sind für ihren Jahrgang nun zu Ende. Aber während meine älteren Kinder zu dieser Zeit wochenlang mit Vorbereitungen für die grosse Schulabschlussfeier und für das letzte Pfadfinderlager beschäftigt waren, verläuft dieses Jahr alles sang- und klanglos und ohne Abschluss. Wie Spuren im Sand: vom Winde verweht, als wäre alles nie dagewesen. Keine aufwändige Feier in der Schule mit Schülern, Eltern und Lehrpersonal. Keine feierliche Zeugnisübergabe. Keine aufregende Promfeier, für welche die Jugendlichen in anderen Jahren für einen kurzen grandiosen Auftritt viel Geld für übertriebene Roben, Schminke und Frisuren ausgeben. Das letzte Pfadfinderlager, in welchem die Kinder mit der Tradition gewordenen „Tränen-Parade“ von ihren Kollegen Abschied nehmen, fällt ins Wasser. Sogar die bescheidenere Alternative, sich für einige Tage im örtlichen Jugendzentrum zu treffen, wird abgesagt. Einige der Kinder haben sich mit dem Virus angesteckt, Viele sind in Quarantäne. Die Pläne für eine Reise mit Freundinnen nach Spanien sind endgültig begraben. Genauso wie die Feier des gesamten Dorfes, in welcher in „normalen“ Jahren der Schulabschluss und die Aufnahme ins Militär der Jugendlichen eines jeden Jahrgangs zelebriert werden. Der grosse Rucksack, den die Jugendlichen jeweils vom Gemeindepräsidenten in einer aufregenden Zeremonie überreicht bekommen, lag gestern plötzlich einfach im Hauseingang. Ich habe keine Ahnung wie er dahin gekommen ist, so still, leise und unbemerkt und es berührt mich traurig, dass er ohne die Zeremonie nichts weiter als ein lumpiges, unscheinbares und billiges Stück Stoff ist.
Viele Jugendliche unserer Schule machen vor dem obligatorischen Militärdienst in verschiedenen Ämtern ein Freiwilligenjahr, aber all diese Initiativen sind jetzt in Gefahr. Einige Freundinnen sollten als Delegierte der jüdischen Agentur für ein Jahr in die USA oder nach Südamerika abgsandt werden. Ob sie jetzt noch in diese Corona-Hotspots reisen können oder wollen? Etwa die Hälfte der Pfadfinderabgänger aus unserem Dorf haben sich verpflichtet, freiwillig ein Jahr für diese Jugendorganisation zu arbeiten. Aber sogar das könnte nun auf Eis gelegt werden, denn der Staat droht die finanzielle Unterstützung der Pfadfinderbewegung im kommenden Jahr einzustellen. Jetzt muss überall gespart werden und eine Organisation zu unterstützen in welcher Corona-bedingt kaum Aktivitäten stattfinden, scheint sinnlos.

Was empfinden Jugendliche, die nun gezwungenermassen in dieser unsicheren Zeit zu Hause herumhängen? Wie blicken sie in die Zukunft, wenn die Gegenwart nur aus Enttäuschungen, Angst und Ungewissheit besteht?

Nur etwas rückt unwiederruflich näher: der Einberufungsbefehl der Armee. Aber als wäre mit allen Enttäuschungen nicht genug, empfindet Lianne die Funktion, welche das Militär für sie vorgesehen hat, als Riesendämpfer. Sie fühlt sich völlig verkannt, das Amt entspricht weder ihrem Charakter noch ihren Fähigkeiten. Die zweijährige Militärpflicht ist an sich schon eine recht bedrohliche Herausforderung, wenn diese dann noch mit einer unpassenden Funktion einhergeht, sind das recht betrübliche Aussichten für den Verpflichteten. Auch das Datum – schon Anfang August, nur zwei Wochen nach der letzten Abschlussprüfung – kommt für sie viel zu schnell. Sie wollte doch noch wenigstens ein bisschen Freiheit von einschränkenden Institutionen schnuppern, nachdem sie sich nach zwölf Jahren Schule gleich in eine weitere Einrichtung ohne freie Entfaltungsmöglichkeit wird schicken müssen. Viele Tränen fliessen bei uns in diesen Wochen. Auch ich weiss schon bald nicht mehr, wo ich die Kraft hernehmen soll, meine Kinder in dieser unheilvollen Zeit aufzumuntern. Lianne ertrinkt in Selbstmitleid. Und ich mit ihr, weil ich als Mutter immer noch mit meinen Babies mitleide, wobei es keine Rolle spielt, dass das Baby schon achtzehn Jahre alt ist. Aber dann erinnere ich mich meiner Rolle als verantwortlicher Erwachsener und versuche sie zu motivieren. Ich erzähle ihr, dass auch in meinem Leben nicht immer alles so verlaufen ist, wie ich es mir vorgestellt oder gewünscht hätte, dass aber hinterher immer Alles sein Gutes hatte. Auch aus den unwillkommensten Schicksalsschlägen haben sich rückblickend erfreuliche Dinge entwickelt oder wenigstens wichtige Lektionen ziehen lassen. Wenn eine Türe zugeht, ist noch immer irgendwo eine andere aufgegangen, das habe ich immer wieder selbst erfahren. Lianne ist immer noch eher frustriert als überzeugt aber sie ahnt, dass sie im Moment an der unpassenden Einteilung wohl kaum etwas ändern kann.

Auf ein Ziel will sie aber auf keinen Fall verzichten: Noch vor dem Militärdienst möchte sie unbedingt ihre Augen lasern lassen. Dazu muss das Einrückdatum verschoben werden. Starke Kurzsichtigkeit ist eine echte Belastung im Alltag, vor allem wenn man im Dienst bei Feldbedingungen in nur fünf Minuten aus dem Schlaf fertig angezogen Parade stehen soll. Da bleibt für Kontaklinsen-Kram keine Zeit.

Aber das Militär, dieses undurchdringliche und träge System, hat für die Problemchen eines kleinen Mädchens kein Gehör. Lianne schreibt täglich Anträge und bittet um Verschiebung des Datums. Per Mail, WhatsApp und am Telefon legt sie ihre Bitte unzählige Male dar. Sie schreibt, dass sie wegen ihrer Kurzsichtigkeit eingeschränkt ist, dass sie Ende August einen Termin für die Laserbehandlung hat und dass die Erholung im Fall ihrer komplizierteren Operation bis zu einem Monat dauern kann. Doch im israelischen Militär scheint man andere Sorgen zu haben. An der zuständigen Stelle antwortet kaum jemand oder nur nach langer zermürbender Warterei. Wenn doch einmal jemand abnimmt, ist es meist eine Soldatin, deren Aufgabenbereich darauf begrenzt zu sein scheint, den Telefonhörer in der Hand zu halten. Niemand weiss etwas, niemand kennt jemanden, niemand kann jemanden erreichen, niemand kann helfen. Das unverrückbare Datum kommt drohend und unaufhaltsam näher. Dann trifft eine überraschende und unlogische Nachricht vom zuständigen Amt ein: „Malschabit jekara (Anrede für eine für den Sicherheitsdienst vorgesehene Frau), deine Bitte auf Änderung des Anforderungsprofils wird abgelehnt, dein Eintrittsdatum bleibt unverändert 6. August.“ Als Lianne anruft und nach nervenaufreibenden langen Minuten endlich jemanden am Telefon hat, stellt sich heraus, dass ihr Gesuch wohl aufgrund einer Verwechslung mit der Bitte einer anderen Soldatin abgelehnt worden ist. Lianne ist einem Nervenzusammenbruch nahe. In Tränen aufgelöst sieht sie sich schon wegen Dienstverweigerung als letzte Möglichkeit im Militärgefängnis.

Beim Militär irgendeinen Wunsch oder eine Änderung bewilligt zu bekommen, grenzt ans Unmögliche, es sei denn, man kennt eine Person an der entscheidenden Dienststelle. Da sich aber das ganze Personal in ständiger Rotation befindet, findet man eher eine Nadel im Heuhaufen als jemanden, der zur richtigen Zeit im richtigen Amt ist. Doch dann kommt Lianne freudig erregt von einem Pfaditreffen nach Hause: einer der Kollegen vom älteren Jahrgang, der gerade seinen Dienst absolviert, kennt einen Offizier aus dem Nachbarsdorf, der helfen könnte. Über mehrere Mittelmänner wird die vielversprechende Telefonnummer in Erfahrung gebracht, dann erklärt sie dem Offizier Ran ihr Anliegen.

„Wie wär’s mit Ende November?“, kommt dieser direkt zur Sache.
„Ja super!“ antwortet Lianne, nicht sicher ob sich der junge Mann einen Spass auf ihre Kosten erlaubt.
Und dann, als wäre es das Natürlichste der Welt, trifft schon am nächsten Morgen die Nachricht ein: „Malschabit jekara, dein Dienstdatum ist auf den 25. November verschoben worden.“ Immerhin ein Lichtblick! Jetzt bleibt nur noch zu hoffen, dass sich die Zeiten bis dann etwas normalisieren.

Donnerstag, 9. Juli 2020

Weisses Haar und weisse Zähne

In den letzten Märztagen, als ich vor dem Lockdown noch zum letzten mal ins Büro fuhr, liess ich spontan den Friseurtermin sausen, der noch in meinem Kalender vermerkt war. Warum jetzt noch die Haare färben, fragte ich mich, wo doch die totale Apokalypse, oder doch sicher einige unheilvolle Monate vor uns standen. In den darauffolgenden Wochen ohne soziale Kontakte liess ich meine natürliche Haarfarbe mutig spriessen.

Unterdessen sind vier Monate vergangen und als es kürzlich gerade so aussah, als würden wir demnächst unseren gewohnten Alltag wieder aufnehmen, begann ich das Wachstum meiner Haare täglich ungeduldigst und milimeterweise herbeizufiebern. Mir gefällt das ungewohnte Grau, aber die Übergangszeit, in welcher rund um den Scheitel ein grauer Balken trohnt, während die ehemals gefärbten Haare immer undefinierter und bleicher werden, ist schwer zu ertragen. Müsste ich im Moment meine Haarfarbe definieren, wäre wohl Uringelb der am besten passendste Ausdruck.

„Oh, mais c’est dégueulasse! Es ist eine Katastrophe! Das kannst du dir unmöglich antun!“ meint mein französisch-stämmiger Friseur zum grau-gelben Fiasko auf meinem Kopf, als ich meine Haare etwas kürzen lasse. Er hat ja recht, mein Aussehen ist im Moment wirklich kaum zu verantworten. Dank der zweiten Welle darf ich aber zum Glück weiterhin noch etwas zuhause bleiben und ich ertrage so die temporäre farbliche Katastrophe etwas besser. Der einizige soziale Anlass, für den ich im letzten Monat das Haus verlassen musste, war eine Beerdigung, und da trug ich, weil die Zeremonie an der prallen Sonne stattfand, einen Sonnenhut.

Allzu alt und vernachlässigt möchte ich aber doch nicht aussehen und bei einem Blick in den Spiegel auf der Suche nach möglichen Verbesserungen beschliesse ich, meine Zähne aufhellen zu lassen. Leider bin ich von der Natur, was die Farbe meiner Zähne anbetrifft, nicht gerade gesegnet. Meine Zähne sind fast so gelb wie mein Haar, aber nicht Uringelb, sondern eher so ein schmutziges Maisgelb. Soviel Gelb steht keinem Mensch! Das scheint sogar für meine Zahnversicherung ein Grund zu sein, die rein ästhetische Behandlung zu bewilligen. Sie übernimmt zwei Drittel der Kosten und sobald die Corona-Beschränkungen etwas gelockert werden, melde ich mich beim Zahnarzt an. In der Zahnarztpraxis wird nach einem Abdruck meiner Zähne eine Silikonform angefertigt. In diese Form gebe ich nun abends ein Bleichmittel und gehe damit schlafen. In der ersten Nacht schlafe ich sehr unruhig. Die weiche und genau aufliegende Form ist zwar kaum spürbar, aber ich träume, dass mir das Mittel die Zähne zerfrisst. Aber die schlaflose Nacht lohnt sich. Am Morgen danach wache ich mit blendend weissen Zähnen auf! Na ja, natürlich übertreibe ich wieder einmal masslos, aber das Gelb weicht tatsächlich Morgen für Morgen einem etwas strahlenderen Ton und eines wunderschönen Morgens begrüsse ich stolz eine Reihe (fast) WEISSER Zähne. Nun noch etwas roter Lippenstift... Ich bin begeistert!

Wie finden Sie meine Zähne?

Dienstag, 23. Juni 2020

Ein Kraut das Generationen verbindet


Eine Gürtelrose ist eine höchst unangenehme Infektionskrankheit. Sie wird durch die gleichen Viren verursacht wie Windpocken, welche nach einer Erkrankung – meist im Kindesalter – im Körper verbleiben, bis ihnen das Immunsystem eine Chance gewährt, sich erneut zu vermehren. Dann treten, meist im Brustbereich, schmerzhafte Blasen auf. Oft wird eine Gürtelrose bei Stress hervorgerufen.

Kein Wunder, dass meine Schwiegermutter an einer zünftigen Gürtelrose erkrankt. Einen rund um die Uhr pflegebedürftigen Mann zu haben, ist eine unmenschliche Bürde, besonders für eine kontaktfreudige Frau, der es am besten geht, wenn viel los ist, wenn sie es lustig hat und sie von Leuten umgeben ist. Seit unzähligen Jahren schon hat sie aber nur diesen kranken Mann um sich, der rund um den Tag ans Bett und an den Rollstuhl gebunden ist. Seit bei Savta (hebräisch für Grossmutter) eine Gürtelrose ausgebrochen ist, leidet sie ununterbrochen an starken Schmerzen und die Corona-bedingte Isolation schien einer möglichen Besserung den Todesstoss zu versetzen. Jetzt hockte sie erst recht fest in ihrer Wohnung, zusammen mit ihrem klagenden Mann und seinem Pfleger, der ihn mehrmals täglich von einem Liegeort zum anderen hievt. Bald kam auch meine Schwiegermutter kaum noch aus dem Bett, denn die Schmerzen im Oberkörper wurden von Tag zu Tag unerträglicher.

Eine Odyssee zu allen nur erdenklichen Spezialisten, unzählige Experimente mit Schmerzmitteln aller Stärkegrade und mehrere Versuche mit Alternativmedizin schienen ebenfalls keine Besserung zu bringen. Die gute Frau litt und wurde von Tag zu Tag deprimierter. Als irgendjemand Cannabis erwähnte, war sie skeptisch, denn sie hatte ja schon alles versucht und jegliche Hoffnung verloren. Aber das vielverheissende Kraut wurde bei der Krankenkasse beantragt und bewilligt.

Überraschenderweise trudelten gleichzeitig mit der ersten Lieferung des Wundermittels fast alle erwachsenen Enkel ein, die während dem Corona-Shutdown ferngeblieben waren. Nun erinnerten sie sich wieder ihrer Grosseltern, und während noch vor Kurzem das Virus eine willkommene Ausrede bot, um fernzubleiben, brannten nun alle plötzlich darauf, die Grosseltern zu besuchen. Die Enkel bewunderten die Lieferung, eine Handvoll sauber gerollter Joints für die kommende Woche. Umgehend liessen sie den ersten Joint kreisen, lachten über Savta, die nur einmal zögernd daran zog und verbrachten zusammen einige lustige Stunden. Am nächsten Tag tauchte ein professioneller Instrukteur der Cannabis-Firma auf und wies das Grosi geduldig in die Zubereitung und das richtige Rauchen der Joints ein. Die Jungen staunten nicht schlecht – da war jemand tatsächlich schlauer als sie! Nicht nur schien er auf dem Gebiet ein beachtenswertes Wissen zu haben, er machte aus der Raucherei sogar eine bezahlte Vollzeitbeschäftigung!

Nun geben sich die Enkel bei meinen Schwiegereltern die Klinke in die Hand. Der Gedanke, dass das Grosi in einer Schublade reines Cannabis ansammelt, während sie auf dem illegalen Markt für weniger starkes Zeug Unsummen hinblättern, bringt die Jungen auf kreative Ideen. Fast täglich kommen sie bei den Schwiegereltern zusammen und übertreffen sich mit Einsatzbereitschaft für die Senioren. Sie essen und reden mit ihnen, spielen mit ihnen Karten und gehen für sie einkaufen. Bei allem Eifer vergessen sie nicht, immer schön nach Krümeln Ausschau zu halten.

Meiner Schwiegermutter geht es schon merklich besser. Die Schmerzen haben deutlich nachgelassen – obwohl Grosi das Kraut nach den ersten Versuchen nicht mehr angerührt, sondern in einer gut versteckten Schublade weggesperrt hat.

Montag, 15. Juni 2020

Es hat Schaum drin

Vor einigen Jahren, anlässlich einer kurzen Geschäftsreise nach Deutschland, ass ich mit einer Mitarbeiterin dunkler Hautfarbe aus Amerika zu Mittag. Beim Dessertbuffet war die Kollegin besonders neugierig auf einen Schaumkopf. Sie kannte das Dessert nicht und man erklärte ihr, dass es mit Eiweissschaum gefüllt war. Sie erlag der süssen Versuchung und legte sich ein Paradestück auf einen Teller. Zurück am Tisch erwähnten einige unverfrorene Mitarbeiter die Thematik des nicht mehr ganz zeitgemässen Namens für das Schoko/Schaum-Gebäck. Und während Jacintha nun die Ausdrücke Negerkuss und Mohrenkopf mit starkem amerikanischem Akzent spielerisch auf der Zunge rollte, verzehrte sie genüsslich den Schaumkopf – mit Messer und Gabel! Diese lustige Szene ist mir wieder in den Sinn gekommen, als ich entdeckte, dass das Thema in den letzten Tagen in der Schweiz die (Mohren-) Köpfe heisslaufen lässt.

Worum geht es? Der Grossverteiler Migros hat beschlossen, in einigen Filialen die Dubler-Mohrenköpfe aus dem Sortiment zu nehmen, weil der traditionelle Namen von einigen Bevölkerungsgruppen als diskriminierend empfunden wird, die Firma Dubler sich aber weigert, ihre Markenware umzubenennen.

Seit dem Entschluss der Migros, die anstössigen Schaumköpfe aus dem Regal zu nehmen, ist die Debatte über das M-Wort zu einem der wichtigsten Tagesthemen geworden. Unzählige Artikel und Glossen darüber füllen die Zeitungen. Die Kommentarspalten in den sozialen Netzen quellen über. Während Amerika brennt über der Rassimus-Debatte, streiten Herr und Frau Schweizer über den Namen einer Süssigkeit. Bei dem ganzen „Gschiss“ darf natürlich auch meine Meinung nicht fehlen.

Schon etwas länger als die Meinungsverschiedenheiten über den Namen Mohrenkopf – genauer genommen seit den verschiedenen Einwanderungswellen der Juden aus allen Himmelsrichtungen Anfang des letzten Jahrhunderts – gibt es in Israel eine Debatte über die Benachteiligung bestimmter Ethnien. Obwohl die Kluft zwischen Mizrahim (Juden aus östlichen Ländern und Spanien) und Ashkenazim (Juden aus westeuropäischen Ländern) in den vergangenen Jahren bestimmt geringer geworden ist, sind viele Israelis überzeugt, dass die Mizrahim immer noch diskriminiert werden. Auch für meinen Mann Eyal, Sohn irakischer Juden, ist es offensichtlich, dass Mizrahim heute noch in allen Sektoren des öffentlichen Lebens, der Akademie, dem Justizwesen, sowie auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden. Schon öfters habe ich ihn erbittert Beispiele von ungerechter Verteilung von Ämtern oder Stellen aufzählen hören. Er ist leidenschaftlich davon überzeugt, dass die Ashkenazim nach allen Möglichkeiten an einer gesellschaftlichen Elitestellung festhalten und dass den Mizrahim in Israel nicht die gleichen Chancen gewährt werden.

Gerade weil ich weiss, was Eyal und seine Familie zu dem Thema denken, ist mir eine Diskussion an meinem Arbeitsplatz unvergesslich in Erinnerung. Das Thema ethnische Benachteiligung war gerade wegen irgendeinem Fall in den Medien und wurde nun in der Kaffeeküche diskutiert. Meine vier – wohlgemerkt ashkenazischen! – Mitarbeiterinnen kamen nach kurzer Erläuterung des Themas einstimmig zum Schluss, dass es heute in Israel keine ethnische Benachteiligung mehr gibt. Sie selbst waren noch nie bewusst damit konfrontiert worden und somit war für sie klar, dass das Problem nicht existierte. Die Runde von vier Ashkenaziot, die übereinstimmend beschloss, dass es in Israel keine ethnische Diskriminierung gibt, wurde für mich zum Schlüsselerlebnis. Ich verstand, dass Rassismus, vor allem wenn er ganz subtil daherkommt, von Nicht-Betroffenen oft nicht wahrgenommen wird und dass wir den Betroffenen das Recht darauf einräumen müssen, selbst zu bestimmen, was sie als rassistisch empfinden.*
So viel zum Argument „der Name Mohrenkopf ist nicht rassistisch gemeint“.

„Aber es war doch schon immer so“, rufen Viele – und merken nicht, dass dies überhaupt ein Gegenargument ist. Eine Aussage, die sich in ihrer Dummheit selbst widerlegt. Würden wir nichts ändern, dann lebten wir heute noch in Höhlen und Frauen wären das rechtlose Eigentum der Männer.

„Man kann es nicht allen recht machen“. Nein, kann man nicht. Aber wenn man das Herz auf dem rechten Fleck hat, kann man versuchen, Rücksicht auf die Gefühle einiger Wenigen zu nehmen, anstatt rechthaberisch auf seiner Meinung zu verharren. Damit macht man es vielleicht nicht allen recht, aber es ist doch ein Babyschritt auf besseres mitmenschliches Verständnis zu.

Mit dem Festhalten an der Bezeichnung Mohrenkopf setzt die Firma Dubler meines Erachtens ein Zeichen für rückständiges Festhalten an veralteten Traditionen, während sie mit einem Namenswechsel ein Zeichen setzen könnte für Rücksichtnahme und Fortschrittlichkeit. Ja, die Aussage Herrn Dublers, man solle sich lieber um faire Bezahlung der Kakao-Lieferanten kümmern, ist ernst zu nehmen. Das schliesst aber Modernisierung der Sprache und Erneuerung von veralteten Ausdrücken nicht aus. Leider habe ich beim Anhören eines Gesprächs mit Herrn Dubler auf „tag-täglich“ aber den Eindruck bekommen, dass dieser zwar ein unbesiegbares Schaumkuss-Rezept in der Tasche, mit kreativer Innovativität aber nicht gerade viel am Hut hat.

Schaumküsse gibt es übrigens auch in Israel. Sie sind lange nicht so schmackhaft wie die der Firma Dubler und sie werden Crembo genannt. Das hebräische Crembo bedeutet frei übersetzt „es hat Schaum drin“ und ich finde, dieser gefällige und unkomplizierte Ausdruck könnte auch in der Schweiz ein echter Markthit werden. Ausserdem könnte man mit diesem hebräischen Namen nicht nur ein Zeichen gegen Rassismus, sondern auch für Israel setzen und würde somit gleich zwei Treffer mit einem Schuss landen.



*Die Chancengleichheit für israelische Araber spreche ich hier hier absichtlich nicht an, das ist ein weiteres, noch viel komplexeres Thema, welches separat diskutiert werden müsste.

Samstag, 13. Juni 2020

Bald, aber nicht heute

Die Corona-Regelungen sind in den vergangenen Tagen so weit gelockert worden, dass wir wieder unserem geregelten Alltag nachgehen können. Auch ich sollte mich so langsam vom Heimbüro verabschieden. Den firmeneigenen Bildschirm und die Dockingstation habe ich letzte Woche schon zurück ins Büro gezügelt. Das war einfach. Mich selbst wieder regelmässiger dorthin zu bringen, ist schwieriger. Dabei spricht im Grunde genommen nichts dagegen. Die zwei Tage, die ich letzte Woche im Büro gearbeitet habe, brachten sogar etwas angenehme Abwechslung in den neuen Alltag zu Hause. Und doch kann ich mich jeden Tag von neuem kaum dazu aufraffen, morgens das Haus zu verlassen, um erst am Abend wiederzukommen.

Bevor wir vom Corona-Virus zur Entschleunigung gezwungen worden sind, war mein Alltag minutiös durchgeplant. Alles war fast bis ins letzte Detail geordnet, aufgeteilt und verplant. Ich sprang rund um die Uhr zackig von einer Tätigkeit zur nächsten und das lief wie geschmiert. Wie sonst hätte ich all die vielen Aufgaben erledigen können, die ich mit den Jahren übernommen hatte? Ein Fehltritt hätte das rund laufende Hamsterrad aus dem Takt gebracht.

Unterdessen habe ich zweieinhalb Monate Zeit gehabt, um andere und etwas lockerere Gewohnheiten anzunehmen. Von Tag zu Tag wurde kaum merklich alles etwas langsamer und immer öfter liess ich einfach einmal etwas sausen.

Jetzt gerade kann ich gar nicht mehr so recht begreifen, wie ich das übervolle Pensum von einst überhaupt je schaffen konnte. Nebst Vollzeit-Bürojob einen grossen Haushalt (mit Garten!) alleine zu schmeissen. Und dann noch fast jeden Tag frühmorgens zu trainieren. In aller Herrgottsfrühe aufzustehen, dann Lauf- oder Crossfittraining. Danach Dusche in der Firma und Frühstück, während der Rechner hochfährt. So war ich jeweils um acht Uhr frisch und energiegeladen bereit, um den Arbeitstag in Angriff zu nehmen. Ich mochte diesen Ausgleich an der frischen Luft zu den langen Stunden im muffigen Büro.

Aber diese ganze Maschinerie jetzt wieder hochzufahren...? Dabei habe ich mich gerade erst daran gewöhnt, mich kurz vor sieben von den ersten Sonnenstrahlen wach kitzeln zu lassen. Und jetzt wieder fast noch in der Nacht Hopp-aus-dem-Bett-in-die-Schuhe-springen-und-loslaufen? Irgendwie klappt das gerade nicht mehr so richtig.

Dabei ist das Laufen nicht etwa das Problem. Aber die ganzen Vorbereitungen. Um am frühen Morgen in nur zwanzig Minuten aus dem Bett zu hüpfen und loszufahren, muss am Vorabend alles fertig parat gelegt und eingepackt werden.

Nun denn, ich mache mich ans Packen. Weil ich es nicht mehr gewöhnt bin und damit ich nichts vergesse, schreibe ich eine Liste: Sporttasche packen. Kleider und Schuhe fürs Büro. Unterwäsche nicht vergessen! Duschzeug. Schminksachen. Joggingkleider und Schuhe bereitlegen. Die Laufuhr. Eine Flasche Wasser. Etwas für das Frühstück. Einige Snacks für zwischendurch im langen Bürotag. Dann probiere ich einige Kleider an, denn nach zehn Wochen im Trainingsanzug weiss ich nicht mehr, was ich an Büro-tauglichen Outfits noch habe. Schliesslich ist alles parat. Die Laufschuhe stelle ich unten an der Treppe bereit, damit ich am Morgen nur noch hineinschlüpfen muss.

Morgens um fünf reissen mich ungewohnte Klingeltöne aus dem Schlaf. Ich brauche einige Sekunden bis ich mich erinnere, dass das mein Wecker ist. Es ist noch stockdunkle Nacht.

Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, warum ich so früh aufstehen wollte. Also drehe ich mich auf die andere Seite und schlafe noch fast zwei Stunden. Dann stehe ich gut erholt auf. Unterwegs in die Küche stolpere ich fluchend über ein Paar Laufschuhe, die jemand auf der Treppe hat stehen lassen. Schliesslich frühstücke ich gemütlich. Das Training und das Büro werden noch einen weiteren Tag auf mich warten müssen.

Samstag, 16. Mai 2020

Alles beim Alten

Die Corona-Restriktionen werden gelockert, was das Zeug hält. Fast alles ist wieder geöffnet, ab morgen auch die Schulen für alle Altersstufen. Nur die Restaurants, Kultur- und Vergnügungsstätten und die Strände bleiben noch geschlossen. Die Verkehrsstaus zu Stosszeiten sind schon wieder da. Die Bahn fährt noch nicht. Busverkehr gibt es schon länger, aber bei der israelischen Bahn stand der Kundendienst noch nie im Vordergrund und es erstaunt nicht, dass die Corona-Situation ausgenutzt wird, bis der private Verkehr unter der Belastung zusammenbricht.

Ich kann die Bahnangestellten gut verstehen. Auch ich werde ab nächster Woche wieder tageweise im Büro erwartet, kann mich aber noch nicht dazu aufraffen. Gestern habe ich erfahren, dass mein Vorgesetzter die Firma verlässt. Er ist ein wunderbarer Mensch, einen besseren Vorgesetzten hätte ich mir nicht wünschen können. Überhaupt erwarten uns in der Abteilung wieder einmal einschneidende Änderungen, nachdem mehrere Mitarbeiter in Führungspositionen gekündigt haben. Für mich locken Aussichten auf eine weitere Beförderung. Das lässt mich auf neue und verheissungsvolle Möglichkeiten hoffen. Aber ich sehe den Veränderungen mit gemischten Gefühlen entgegen. Es war angenehm, einen Chef zu haben, der kompetent ist und der mich immer in allen Belangen bedingungslos unterstützt. Bis anhin war meine Arbeit sehr gemütlich bis langweilig. Nun werde ich mehr Verantwortung übernehmen, öfter selbständig Lösungen finden und mehr Präsenz zu US-Arbeitszeiten zeigen müssen.

Dabei habe ich mich doch gerade so schön an mein Hausmütterchen-Dasein gewöhnt. Ich habe so lange von einem Sabbatical geträumt, die zwei Monate Corona waren für mich ein Geschenk vom Himmel. Dass ich gerade vor dem Lockdown noch eine Lohnerhöhung erhalten habe, war fast zu gut, um wahr zu sein.

Ich fühle mich so ausgeruht wie schon lange nicht mehr, obwohl ich jeden morgen um sechs Uhr aufstehe. Die Schmerzen in der Schulter sind verschwunden, ohne dass die geplanten Physiotherapietermine stattgefunden hätten. Sportlich fühle ich mich in Topform. Es ist ein Riesenvorteil, wenn man sich seine Tage, die Zeit und die Trainings nach eigenem Gutdünken einteilen kann. Der Garten ist so perfekt zurechtgemacht wie schon lange nicht mehr. Das Haus ist mehr oder weniger sauber. Ich stelle fest, dass ich etwas Schmutz oder Unordnung viel besser ertragen kann, wenn ich nicht wegen Tausend anderer Dinge im Stress bin. Der Gerümpelschrank in der Kammer ist immer noch nicht aufgeräumt und ich finde mich damit ab, dass es wohl auf ewig so bleiben wird. Dafür habe ich meine Koch- und Backkünste perfektioniert, ich finde ich verdiene fast einen Michelin-Stern für meine Kreationen. Oder immerhin den Nobelpreis, seufzte meine Tochter gestern, als sie noch ein Stück des Schokoladen-Fudge-Kuchens mit Mürbeteig-Boden verschlang.

Es geht mir wirklich nur gut im Moment. Ich werde es locker nehmen mit der Rückkehr zum gehabten Alltag und Stress.

Seit gestern zieht die erste Hitzewelle über das Land. Für die ganze Woche werden Temperaturen über 30 Grad erwartet, am Dienstag sogar bis 37. Beim Wäscheaufhängen an der prallen Sonne am frühen Morgen kann ich das erste Stück schon beinahe trocken wieder abnehmen, als das letzte hängt. Dann schliesse ich schon um neun Uhr morgens alle Fenster, um die Hitze zu verbannen. Kein Wunder sehen die Strände trotz Verbot aus wie eine einzige grosse fröhliche Corona-Afterparty: Menschengetümmel, soweit das Auge reicht. Wie ich in den Nachrichten sehe, findet man kaum ein Plätzchen, um ein Badetuch auf den Boden zu legen.

All diejenigen, die zu Beginn der Corona-Krise noch leicht schockiert gedacht haben, dass sich etwas ändern würde auf unserem Planeten, dass wir unsere Werte und Gewohnheiten überdenken würden – sie alle schütteln gerade noch ein wenig die vom Zuhausebleiben steifen Glieder und verfallen umgehend wieder in den alten Trott. Demnächst werden wir auch erneut wie die Wahnsinnigen hierhin und dorthin fliegen, sobald die Fluggesellschaften aus ihrem aufgedrängten Winterschlaf erwachen. Auch ich selbst fiebere meinem Flug im Juli entgegen. Es ist also fast alles beim Alten. Wir werden dasselbe Theaterstück weiterspielen, nur bis auf Weiteres mit Mundschutz-Masken und Fiebermessen.

Heute Vormittag möchte ich noch etwas Gnocchi zubereiten und diese dann einfrieren. Musik zu hören und Gnocchi über die Gabel zu rollen ist für mich die vollkommene Beschäftigungstherapie. Bestimmt werden wir die Vorräte zu schätzen wissen, wenn ich wieder im Hamsterrad vor mich hin spurten und für nichts mehr Zeit haben werde.

Sonntag, 26. April 2020

500 Meter

Die Tage rasen dahin. Ein etwas anderer Alltag hat sich breit gemacht und wir alle haben uns irgendwie damit arrangiert, jedes Familienmitglied gemäss seinen eigenen Bedürfnissen. Ich persönlich verbringe den frühen Morgen mit Sport, Dusche, Frühstück und etwas Hausarbeit und oft erst gegen Mittag arbeite ich einige Stunden im „Homeoffice“. Dafür arbeite ich manchmal in den späten Abend hinein und kann so die Arbeitszeit meinen amerikanischen Teamkollegen anpassen.

Natürlich gibt es mit den drei jungen Damen, die jetzt umständehalber hier wohnen, auch einige Reibereien. Manchmal werden Stimmen laut, Türen werden geschletzt. Was die Küche anbetrifft, habe ich ein Notstandgesetz erlassen müssen, demzufolge zwischen 13 und 16 Uhr keiner ausser mir diesen Raum betreten darf. Nur so kann ich am Mittag in Ruhe kochen, essen und die Küche aufräumen, ohne dass jemand anders genau zum Zeitpunkt, als ich vier Pfannen auf dem Herd jongliere, Frühstückseier braten will.

Schlimme Zeiten im Corona-Lockdown I
Überhaupt scheint sich nun unser Leben hauptsächlich in der Küche abzuspielen. Wir kochen, backen und essen ununterbrochen. Das reflektiert sich auch in unserem Familienbudget, in welchem die Ausgaben für Reisen, Ausflüge, Vergnügen, Kultur, Restaurants und Kleider auf null geschrumpft sind, während die Ausgaben für Esswaren in astronomische Höhen schnellen. 

Das Zuhause sein ist ganz gemütlich, aber es fehlen die Unterbrüche, seien diese nun erfreulicher oder auch weniger geschätzter Art. Ab und zu ein Treffen mit Freundinnen, die Laufgruppe, irgendwelche Termine – und sei es nur beim Zahnarzt! Ohne etwas Abwechslung werden die Tage zu einer undefinierbaren Einheitsmasse. Erstaunlicherweise scheint die Zeit immer schneller zu vergehen, je weniger im Alltag los ist. Erst noch Montag ist es schon wieder Samstag. Und welcher Tag ist eigentlich heute? Montag, Dienstag, -tag, -tag, -tag. So fliegen die Wochen dahin, während ich immer noch in der Küche stehe oder auf dem Sofa sitze. Nun sehne ich mich danach, abends die Haustüre zu öffnen, einzutreten, nach Hause zu kommen. Zu fühlen, dass ich den Tag hindurch verschiedenes erlebt habe. Auch wenn es vor Corona meistens etwas zu viel war. 

Ab heute dürfen alle Läden, die sich nicht in gedeckten Einkaufzentren befinden, wieder öffnen. Auch die Coiffeure und Kosmetikstudios empfangen wieder Kunden. Ich finde das recht verwirrend, denn andererseits dürfen wir uns immer noch nicht weiter als 500 Meter von unserer Wohnung entfernen. Wie bitte ist das zu vereinbaren? Was genau darf ich denn eigentlich ausserhalb des 500-Meter-Radius nicht, wenn die Läden doch dort liegen? Grössere Läden, die über eine bestimmte Mindestfläche verfügen, sind sogar schon einige Tage wieder geöffnet, zum Beispiel die Ikea Filialen. Darüber wird in den Medien viel diskutiert und gespottet, denn gemäss Regelung dürfte ich in der Ikea mit Hunderten anderen Kunden durch die Gänge spazieren, alleine über die Felder laufen aber weiterhin nicht. Prompt stellt ein  israelischer Komiker ein Foto von sich ins Netz, auf welchem er mit Surfboard unverkennbar an den gemäss Regelungen abgesperrten Strand fährt – während als Bildunterschrift zu lesen ist „Unterwegs zu Ikea“.

Beim Laufen heute Morgen staune ich über einen Polizisten, der auf seinem Motorrad auf dem Rad- und Fussgängerweg langsam an den überraschten Freizeitsportlern vorbeifährt. Auch heute sind auf dem jeweils stark frequentierten Weg trotz Corona-Regelungen mehrere Radfahrer und Jogger unterwegs. Was sucht der Polizist hier? Will er Bussen austeilen? Nur für Abschreckung sorgen? Ich beobachte die Szene von meinem hoffentlich sicheren Waldweg aus. Auf dem Wegabschnitt, den ich sehen kann, hält der Polizist niemanden an. Vielleicht verwirren die widersprüchlichen Regelungen sogar ihn? Oder weiss er bei der Überzahl an Sportlern gar nicht, wen er zuerst bestrafen soll? Ich jedenfalls bin auch heute wieder einmal ohne Busse oder Verwarnung davongekommen, obwohl ich viele Kilometer mehr zurückgelegt habe als erlaubt – und unterwegs erst noch einige Erdbeeren von den Feldern gestohlen habe...

Für die Feiertage dieser Woche, den Gedenktag für die Gefallenen und den Unabhängigkeitstag, ist noch einmal totales Lockdown angesagt. Was den Unabhängigkeitstag anbetrifft, habe ich dafür Verständnis. Dieses Fest lockt jeweils sogar eingefleischte Stubenhocker aus ihren Wohnungen. Ganz Israel wird zu einer einzigen grossen Grillparty. Sogar auf Verkehrsinseln werden Einweggrillgeräte und Campingmöbel aufgeklappt, weil die Parkanlagen, die Wäldchen, ja jedes Fleckchen Grün schon belegt sind und überall Platzmangel herrscht.

Was den Gedenktag für die gefallenen Soldaten und die Terroropfer anbetrifft, ist die Regelung zum Lockdown ein schwer zu akzeptierender Beschluss. Es werden nur virtuelle Gedenkfeiern stattfinden und Angehörigen wird untersagt sein, die Gräber ihrer Liebsten aufzusuchen. Dieser Tag ist einer der traurigsten und schwersten in Israel und die Tatsache, dass man sich zu Hunderten zum Möbel kaufen in der Ikea treffen darf, es aber untersagt ist, den Friedhof aufzusuchen, wirft schon einige Fragen auf. Der Autor Meir Shalev malt sich in einem aktuellen Medienartikel absurde Situationen aus, in denen die Angehörigen der Gefallenen und der Terroropfer, die zum Friedhof fahren wollen, von einer Polizeikontrolle zum Umkehren angehalten werden, während Ikeabesucher die Kontrolle passieren dürfen.

Die Zeiten sind verwirrend und alles wird hinterfragt. Kein Wunder sehnt man sich wieder nach etwas Normalität. Diese scheint aber gerade nirgendwo zu finden sein. Auch wenn man endlich für etwas so Alltägliches wie Einkaufen für kurze Zeit aus der Enge des Hauses ausbricht, trifft man nicht auf Mitmenschen, die grüssen und zu einem Schwatz verweilen, sondern auf seltsame Wesen, die sich merkwürdig verhalten und mit Mundschutz und Plastikhandschuhen durch die Gänge eilen.

Schlimme Zeiten im Corona-Lockdown II