Sonntag, 26. April 2020

500 Meter

Die Tage rasen dahin. Ein etwas anderer Alltag hat sich breit gemacht und wir alle haben uns irgendwie damit arrangiert, jedes Familienmitglied gemäss seinen eigenen Bedürfnissen. Ich persönlich verbringe den frühen Morgen mit Sport, Dusche, Frühstück und etwas Hausarbeit und oft erst gegen Mittag arbeite ich einige Stunden im „Homeoffice“. Dafür arbeite ich manchmal in den späten Abend hinein und kann so die Arbeitszeit meinen amerikanischen Teamkollegen anpassen.

Natürlich gibt es mit den drei jungen Damen, die jetzt umständehalber hier wohnen, auch einige Reibereien. Manchmal werden Stimmen laut, Türen werden geschletzt. Was die Küche anbetrifft, habe ich ein Notstandgesetz erlassen müssen, demzufolge zwischen 13 und 16 Uhr keiner ausser mir diesen Raum betreten darf. Nur so kann ich am Mittag in Ruhe kochen, essen und die Küche aufräumen, ohne dass jemand anders genau zum Zeitpunkt, als ich vier Pfannen auf dem Herd jongliere, Frühstückseier braten will.

Schlimme Zeiten im Corona-Lockdown I
Überhaupt scheint sich nun unser Leben hauptsächlich in der Küche abzuspielen. Wir kochen, backen und essen ununterbrochen. Das reflektiert sich auch in unserem Familienbudget, in welchem die Ausgaben für Reisen, Ausflüge, Vergnügen, Kultur, Restaurants und Kleider auf null geschrumpft sind, während die Ausgaben für Esswaren in astronomische Höhen schnellen. 

Das Zuhause sein ist ganz gemütlich, aber es fehlen die Unterbrüche, seien diese nun erfreulicher oder auch weniger geschätzter Art. Ab und zu ein Treffen mit Freundinnen, die Laufgruppe, irgendwelche Termine – und sei es nur beim Zahnarzt! Ohne etwas Abwechslung werden die Tage zu einer undefinierbaren Einheitsmasse. Erstaunlicherweise scheint die Zeit immer schneller zu vergehen, je weniger im Alltag los ist. Erst noch Montag ist es schon wieder Samstag. Und welcher Tag ist eigentlich heute? Montag, Dienstag, -tag, -tag, -tag. So fliegen die Wochen dahin, während ich immer noch in der Küche stehe oder auf dem Sofa sitze. Nun sehne ich mich danach, abends die Haustüre zu öffnen, einzutreten, nach Hause zu kommen. Zu fühlen, dass ich den Tag hindurch verschiedenes erlebt habe. Auch wenn es vor Corona meistens etwas zu viel war. 

Ab heute dürfen alle Läden, die sich nicht in gedeckten Einkaufzentren befinden, wieder öffnen. Auch die Coiffeure und Kosmetikstudios empfangen wieder Kunden. Ich finde das recht verwirrend, denn andererseits dürfen wir uns immer noch nicht weiter als 500 Meter von unserer Wohnung entfernen. Wie bitte ist das zu vereinbaren? Was genau darf ich denn eigentlich ausserhalb des 500-Meter-Radius nicht, wenn die Läden doch dort liegen? Grössere Läden, die über eine bestimmte Mindestfläche verfügen, sind sogar schon einige Tage wieder geöffnet, zum Beispiel die Ikea Filialen. Darüber wird in den Medien viel diskutiert und gespottet, denn gemäss Regelung dürfte ich in der Ikea mit Hunderten anderen Kunden durch die Gänge spazieren, alleine über die Felder laufen aber weiterhin nicht. Prompt stellt ein  israelischer Komiker ein Foto von sich ins Netz, auf welchem er mit Surfboard unverkennbar an den gemäss Regelungen abgesperrten Strand fährt – während als Bildunterschrift zu lesen ist „Unterwegs zu Ikea“.

Beim Laufen heute Morgen staune ich über einen Polizisten, der auf seinem Motorrad auf dem Rad- und Fussgängerweg langsam an den überraschten Freizeitsportlern vorbeifährt. Auch heute sind auf dem jeweils stark frequentierten Weg trotz Corona-Regelungen mehrere Radfahrer und Jogger unterwegs. Was sucht der Polizist hier? Will er Bussen austeilen? Nur für Abschreckung sorgen? Ich beobachte die Szene von meinem hoffentlich sicheren Waldweg aus. Auf dem Wegabschnitt, den ich sehen kann, hält der Polizist niemanden an. Vielleicht verwirren die widersprüchlichen Regelungen sogar ihn? Oder weiss er bei der Überzahl an Sportlern gar nicht, wen er zuerst bestrafen soll? Ich jedenfalls bin auch heute wieder einmal ohne Busse oder Verwarnung davongekommen, obwohl ich viele Kilometer mehr zurückgelegt habe als erlaubt – und unterwegs erst noch einige Erdbeeren von den Feldern gestohlen habe...

Für die Feiertage dieser Woche, den Gedenktag für die Gefallenen und den Unabhängigkeitstag, ist noch einmal totales Lockdown angesagt. Was den Unabhängigkeitstag anbetrifft, habe ich dafür Verständnis. Dieses Fest lockt jeweils sogar eingefleischte Stubenhocker aus ihren Wohnungen. Ganz Israel wird zu einer einzigen grossen Grillparty. Sogar auf Verkehrsinseln werden Einweggrillgeräte und Campingmöbel aufgeklappt, weil die Parkanlagen, die Wäldchen, ja jedes Fleckchen Grün schon belegt sind und überall Platzmangel herrscht.

Was den Gedenktag für die gefallenen Soldaten und die Terroropfer anbetrifft, ist die Regelung zum Lockdown ein schwer zu akzeptierender Beschluss. Es werden nur virtuelle Gedenkfeiern stattfinden und Angehörigen wird untersagt sein, die Gräber ihrer Liebsten aufzusuchen. Dieser Tag ist einer der traurigsten und schwersten in Israel und die Tatsache, dass man sich zu Hunderten zum Möbel kaufen in der Ikea treffen darf, es aber untersagt ist, den Friedhof aufzusuchen, wirft schon einige Fragen auf. Der Autor Meir Shalev malt sich in einem aktuellen Medienartikel absurde Situationen aus, in denen die Angehörigen der Gefallenen und der Terroropfer, die zum Friedhof fahren wollen, von einer Polizeikontrolle zum Umkehren angehalten werden, während Ikeabesucher die Kontrolle passieren dürfen.

Die Zeiten sind verwirrend und alles wird hinterfragt. Kein Wunder sehnt man sich wieder nach etwas Normalität. Diese scheint aber gerade nirgendwo zu finden sein. Auch wenn man endlich für etwas so Alltägliches wie Einkaufen für kurze Zeit aus der Enge des Hauses ausbricht, trifft man nicht auf Mitmenschen, die grüssen und zu einem Schwatz verweilen, sondern auf seltsame Wesen, die sich merkwürdig verhalten und mit Mundschutz und Plastikhandschuhen durch die Gänge eilen.

Schlimme Zeiten im Corona-Lockdown II

Dienstag, 14. April 2020

Jogginghosen und ein Corona-Geburtstagsfest

Ab heute Abend, für das zweite Pessachfest, gilt bei uns wieder für eineinhalb Tage absolutes Ausgangsverbot. Also kremple ich meinen Trainingsplan wieder einmal um und ziehe meine Laufrunde auf heute Morgen vor, bevor ich morgen nicht mehr vor die Türe treten darf. Natürlich ist Sport im Freien auch jetzt schon verboten, aber morgen früh wird es noch verbotener sein.
Danach gehe ich vor dem Lockdown noch zwei, drei Sachen einkaufen. Wir haben jetzt Maskenpflicht. Die Maske schränkt mein Sichtfeld ein und erschwert das Atmen, aber immerhin kann man sich den Lippenstift sparen. Schade eigentlich, denn etwas Farbe könnte in diesem öden Alltag nicht schaden. Besonders verführerisch sind all die maskierten und ungeschminkten Gesichter jedenfalls nicht. Was mich persönlich anbetrifft, würde ich die Maske gerade lieber über meinen grauen Haaransatz ziehen, als meinen Mund zu verstecken. Neu ist auch, dass es jetzt salonfähig geworden ist, im Homedress oder Trainingsanzug unter die Leute zu gehen. Wer macht sich überhaupt noch die Mühe, sich anständig anzuziehen? Karl Lagerfeld behauptete einst etwas überspitzt, dass jemand, der eine Jogginghose trägt, die Kontrolle über sein Leben verloren hat. Wie recht er damit hatte! Was würde er über eine Menschheit sagen, die in Jogginghosen, ungefärbten Haaren und hässlichen Masken einkaufen geht? Corona regiert! Wir haben tatsächlich keine Kontrolle über unser Leben mehr. Aber hatten wir das vor Corona? Die ganze Herumraserei und Herumfliegerei – das war uns schon etwas ausser Kontrolle geraten. Mit oder ohne Jogginghose.


Schon zwei von Lianne’s Freundinnen haben in dieser Zeit, in der alles anders ist, ihren 18. Geburtstag gefeiert. Nun ist ein 18. Geburtstag nicht irgendein Geburtstag, sondern ein bedeutungsvoller Schritt in die offizielle Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Im Januar feierte Lianne ihre Volljährigkeit mit einer feuchtfröhlichen Party, denn nebst den vielen Pflichten, mit denen der Übertritt in die Erwachsenenwelt verbunden ist, bringt er ja auch einige erfreuliche Rechte mit sich.
Aber wie feiert man jetzt, in Zeiten des social distancing, des Ausgehverbots und der Maskenpflicht Geburtstag? Es gelten neue Werte und Gesetze. Was darf man denn heute eigentlich genau? Die Vorschriften ändern sich ja täglich. Und was erlauben die Eltern, die trotz Volljährigkeit doch noch etwas zu sagen haben? Wie genau hält jede einzelne Familie die Vorschriften ein? Nach vielen Diskussionen, Vorschlägen und verworfenen Ideen fällt die Wahl der Jugendlichen, die erstaunlich flexibel im Umdenken sind, auf eine Autokolonne. Die feiernden Freunde und Freundinnen schmücken ihre Autos (in den meisten Fällen die der Eltern) und hängen farbig beschriftete Banner an die Antennen und Autofenster, dann fahren sie in einer langen Kolonne beim Geburtstagskind vor. Die Gratulantin wird mit Gehupe und lauter Musik nach draussen gerufen. Jetzt hält jedes einzelne Auto kurz bei ihr an und die fahrenden Freunde überreichen ihr einer nach dem anderen irgendeine Kleinigkeit, einen Luftballon, einen Kuchen, eine Glückwunschkarte. Natürlich alles ohne die Autos zu verlassen, aus gebührlicher Distanz und mit Maske. Weil sich jedermann nach Feiern und Freude sehnt, lockt der Lärm bald auch die Nachbarn an die Fenster und in die Gärten und auch sie rufen dem Geburtstagskind gute Wünsche zu. Ob der ganzen Fröhlichkeit kann man fast vergessen, wie traurig die Situation eigentlich ist. Auf dem Videofilmchen, das natürlich gedreht werden muss und das ich mir später ansehen darf, sind ein zu Tränen gerührtes Geburtstagskind und viele begeisterte Nachbarn und Freunde zu sehen. Laut Lianne war es fantastisch und die beste Geburtstagsfeier seit langem. Vielen Dank, Corona!

Donnerstag, 2. April 2020

Ich habe Zeit

Nachdem ich in den ersten Tagen Ausgangssperre und Homeoffice vom neuen Zustand fast euphorisch begeistert – oder vielleicht einfach im Schockzustand – war, geht mir nun langsam die Puste aus und ich lande auf dem harten Boden der unliebsamen Realität. Ja, es ist wunderbar, den ganzen Tag die Familie um sich und mehr Zeit für alles zu haben, nirgendwo hinrennen zu müssen, jeden Tag gemeinsam zu essen, aber… In unserer Stube wird es eng, sie muss zurzeit als Heimbüro, Meetingraum, Klassenzimmer, Fitnesszentrum, Spielzimmer, Hobbyraum und Heimkino für mehrere Personen herhalten. Und so langsam gehen mir nicht nur die Rezept-Ideen, sondern vor allem die Lust und die Initiative aus. Ich bin gerne zuhause, aber was da draussen los ist, ist unfassbar: Dieser surreale und apokalyptische Zustand, in dem einfach nichts mehr beim Alten ist – das bringt den grössten Stubenhocker in Verdruss. Ich hätte jetzt doch gerne mein altes Leben zurück, oder wenigstens Teile davon.

Am meisten bedrückt mich das Wissen um die vielen Menschen, die leiden: Meine Töchter, deren Leben mit Vollbremsung lahmgelegt worden ist. Die Schwiegereltern, die krank und zu Hause eingesperrt sind. Die Eltern in der Ferne, von denen ich nicht so recht weiss, wie sie mit dem neuen Alltag zurechtkommen, mit dem sie sich nun im Alter noch auseinandersetzen müssen. Die unzähligen Arbeitslosen. Die Aussicht auf den wirtschaftlichen Kollaps. Die Ahnung, dass das alles vielleicht noch ewig dauern wird. Die Angst, dass es noch viel schlimmer kommen könnte. Ich versuche, nicht zu viel zu grübeln, aber man kann der Realität nicht entkommen, sie lauert überall.

Sivan und Lianne sind verwirrt und frustriert, weil ihre Leben ohne Vorwarnung zunichtegemacht und aufs Abstellgleis gefahren worden sind. Sogar der Fernunterricht pausiert, wegen Pessachferien. Wer braucht denn jetzt Ferien? Ferien von was? Vom Nichts? Nach zwölf Jahren Schule sind Liannes Abschlussprüfungen bis in die ferne Zukunft aufgeschoben. Das ist wie Marathonlaufen und Aufgeben bei Kilometer 41. Die Schulreise ist widerrufen, Pfadfinder-Aktivitäten abgesagt, Schulabschlussfeier storniert, Ferienpläne eingefroren, Armeeeintritt ungewiss – und vor allem – Freunde treffen verboten! Arme Jugendliche, die Abend für Abend mit den Eltern in der Stube sitzen müssen, anstatt sich mit Gleichaltrigen zu treffen und das Leben auszukosten.

Ausblick im Homeoffice
Am Nachmittag nehme ich insgesamt drei Stunden an zwei Meetings teil. Zur Einleitung beschreiben Arbeitskollegen aus aller Welt ihre individuelle Corona-Situation. Persönliche Schicksale sind um vieles ergreifender als alle noch so hohen Zahlen in den Nachrichten. Jemand berichtet aus New York, wo man lieber gar nicht einkaufen geht, sondern nur zuhause bleibt und alles daran setzt, gesund zu bleiben, auch wenn das Essen langsam ausgeht. Eine Frau spricht aus ihrer Wohnung in Mailand, die sie schon fünf Wochen nicht mehr verlassen hat. Später wird das Meeting langweiliger und ich döse ein. Ein Nickerchen im Homeoffice, mit Kopfhörern in den Ohren und einem Vorgesetzen, der irgendwo in den USA etwas erklärt, dem ich beim besten Willen nicht folgen kann. Als die Besprechung zu Ende ist, entdecke ich, dass die Chefin vor zehn Minuten einen privaten Facebookpost hochgeladen hat. Sie ist wohl auch nicht so recht bei der Sache.






Mein Strickprojekt ist erfolgreich zu Ende gekommen. Jetzt arbeite ich an einem Puzzle mit 1000 Teilen. Es ist kompliziert, ich lege jeden Tag im Durchschnitt etwa fünf Teile. Macht nichts, ich habe Zeit!

Andere besinnen sich auf bodenständiges, einfaches aber zeitaufwendiges Kochen, zum Beispiel meine Verwandte Sara, die in Quarantäne hausgemachte Teigwaren und anderes kocht und dabei in Gedanken bei ihrer Nonna ist.