Es ist neun Uhr abends, ich muss Eyal vom Bahnhof abholen, sein Zug fährt bestimmt gleich ein, während ich hier an einer grossen Kreuzung vom Rotlicht aufgehalten werde. Ich höre Musik und betrachte müde und in Gedanken versunken im Dunkeln die Autofahrer, die neben mir wartend in ihren Wagen sitzen.
Plötzlich huscht über das Armaturenbrett meines Wagens eine Riesen-Kakerlake! Sofort bin ich hellwach und in absoluter Panikstimmung: ein ekliges, widerliches braunes Ding von mindestens sechs oder sieben Zentimeter Länge! Hier, mit mir im Wagen! Alarmstufe 10, in meinem Kopf kreischen Sirenen, mein Puls steigt auf 180! Was nun? Ich kann kaum mehr klar denken, versuche aber trotzdem eiligst eine Lösung zu finden. Den Wagen mitten auf der Kreuzung verlassen? Kommt wohl kaum in Frage. Und sonst? Ich bin mit diesem Biest im Wagen eingeschlossen, ohne Fluchtmöglichkeit! Gleich wird es mich anspringen, oder unter meine Füsse hüpfen, um dann meine Beine hochzuklettern! Ich mache, was wohl jeder halbwegs vernünftige Mensch tun würde: ich kreische hysterisch und betätige den Schleudersitz – ach, das war nur die Hupe! Ich atme hechelnd, während das Tier vor mir nach Kakerlakenart mit haarigen Beinen in alle Richtungen rennt. Dann wechselt endlich die Ampel auf grün und ich schaffe es, schon fast ohnmächtig, den Wagen zur nächsten Bushaltestelle auf der anderen Seite der Kreuzung zu steuern. Dort verlasse ich nach einer reifenquitschenden Notbremsung fluchtartig den Wagen. Ich öffne alle Türen, damit die Ratten ungestört das sinkende Schiff verlassen können und nehme sicherheitshalber einen meiner Schuhe in die Hand, um bereit zu sein, falls das Ungetüm mich anspringen sollte.
Nun versuche ich, tief zu atmen und klar zu denken. Wie ich aus sicherer Entfernung sehen kann, scheint die Kakerlake die frische Luft nicht zu mögen und sucht sich – ganz entgegen meinem Plan - in meinem Wagen eine warme Ecke. Ich hingegen stehe nun frierend im Dunkeln. Während ich die Israelis sonst als sehr hilfreiches Volk gegenüber Menschen in Not kenne, scheint sich an diesem Abend niemand um eine Frau zu kümmern, die zu Tode erschrocken, mit einem Schuh in der Hand und mit den Armen fuchtelnd am Strassenrand steht, während ekelerregende Mächte aus der Unterwelt gerade ihr Auto in Besitz nehmen. Sogar eine Polizeistreife fährt vorbei, keiner hält an - was vielleicht auch besser ist, denn was sollte ich der Feuerwehr oder dem Pannendienst erklären? Dass ich eine Kakerlake im Auto habe? Dann doch besser auf das nächste Taxi oder den Bus warten. Ja, es war ein schöner Wagen, nur ein paar Monate alt, knappe 9000 Kilometer, aber beim Gedanken an die Kakerlakenfamilie, die nun vermutlich in den Röhren und Ritzen meines Wagens lebt, ergebe ich mich kampflos, wenn auch schweren Herzens.
Ach was, fasse ich dann Mut, denke an Eyal, der müde und hungrig am Bahnhof auf mich wartet und nähere mich mit dem Schuh in der erhobenen Hand dem Wagen. Da sitzt das Biest, in einer sicheren Ecke, es inspiziert seine neueste Errungenschaft, meinen geliebten Wagen, grinst mich schadenfreudig an und wackelt frech mit den langen Fühlern. Ich hebe meine Hand und…
Fortsetzung folgt …..
Der Blick aus dem Fenster erfolgt aus Israel, wo ich seit 1988 lebe. Geboren und aufgewachsen bin ich in der Schweiz. Aus meinem Fenster blicken auch Eyal, mein israelischer Mann und meine erwachsenen, sehr israelischen Kinder, Sivan, Itay und Lianne. Die Personen sind echt, unsere Namen aber frei erfunden.
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2 Kommentare:
Mein Horror und was für ein Cliffhanger! Ich muss unbedingt jetzt die Fortsetzung lesen!
(Lachen musste ich aber trotzdem)
Ich kann dir nur soviel verraten: es gibt eine Leiche...
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