Sonntag, 27. März 2022

Vier Frauen und ein roter Alfa Romeo (Tag 1)


 

Am ersten Wandertag treffen wir uns am Bahnhof von Modi’in. Wir haben vor, uns zwei Autos zu behelfen, um morgens von unserer Herberge zur Tageswanderetappe und abends zurückzugelangen.

Genau genommen steht uns aber heute nur EIN Auto zur Verfügung, denn Nina wird erst am Abend zu uns stoßen. Jana soll uns abholen und zum Anfang der ersten Etappe fahren. Jana ist die einzige von uns fünf Frauen, die als junge Frau nicht aus der Schweiz, sondern aus Südamerika nach Israel gekommen ist. Auf den bisher miteinander verbrachten etwa zwanzig Wandertagen lernen wir uns allmählich in unzähligen Gesprächen immer besser kennen. Zum Beispiel erfahre ich von Jana, dass sie es völlig nebensächlich findet, die weiblichen und männlichen Formen im Hebräischen zu verwechseln. Auf den Gebrauch des Begriffes Schoah anstelle von Holocaust legt sie hingegen grossen Wert.

Als Tochter eines Vaters, dessen erste Familie in der Schoah ermordet worden ist, wurde Jana mit einer gewichtigen Last geboren. Das Schicksal legte ihr noch viele weitere Hürden in den Weg, bis sie zu dem wurde, was sie heute ist: eine allein in Tel-Aviv lebende Psychologin, Mutter und Grossmutter, die aus Berufung immer noch arbeitet, obwohl sie schon einiges über siebzig ist. Eine Frau, die das Leben liebt und die Menschen – na ja, vielleicht nicht liebt, aber von ihnen fasziniert ist.

Jana ist eine Kämpfernatur mit sehr ausgeprägten, nonkonformistischen Ansichten. Sie ist nicht leicht kleinzukriegen und mit unbeugsamem Willen meistert sie auch die Israel-Trail-Wanderungen, trotz ihrer kurzen Beine. Und sie sieht, was nicht überrascht, genauso eigenwillig aus, wie sie ist. Eine Mähne von ungebändigtem weissen Haar umrandet ihr braungebranntes, von tiefen Falten geprägtes Gesicht.

Ich stelle mir vor, dass Jana ein unscheinbares altes Auto fährt, da sie weltlichen Dingen sicher keine Aufmerksamkeit schenkt. Oder vielleicht einen alten VW-Käfer – irgendetwas Unkonventionelles auf jeden Fall.

Dann fährt Jana mit etwas Verspätung in einem sportlichen, zweitürigen roten Alfa Romeo auf den Bahnhofplatz. Der winzige Kofferraum dieses Zwei-Personen-Autos ist mit Janas Tasche schon voll und ganz ausgenutzt. Also werden Silvia und Karin auf die knapp bemessenen hinteren Sitze verfrachtet und unter ihrem Gepäck begraben. Ich sitze vorne auf dem Beifahrersitz, auf meinen Knien reichen meine eigene grosse Tasche und der Rucksack bis zur Windschutzscheibe.


 

So zusammengequetscht fahren wir zum Glück nur wenige Minuten zum Anfang der ersten Route. Zwei Velofahrer, die sich auch gerade für ihre heutige Tour bereit machen, staunen nicht schlecht, als aus dem kleinen roten Auto mit den zwei Türen nach und nach vier Frauen mit Taschen und Koffern steigen. Mit unseren weissen Haaren (drei von uns), der Wandermontur – und dem roten Alfa Romeo – sind wir ein seltsames Bild, hier auf diesem leeren Parkplatz um acht Uhr morgens. “Was guckt ihr?“, fährt Jana die Velofahrer an, die vor Staunen die Kiefer nicht mehr hochkriegen.

„Wow, ihr seid einsame Klasse! Wir wünschen euch einen wundervollen Tag!“, strahlen die Männer. Mit diesem Gruss wandern wir am ersten Tag los.

Wandertage

Vor einigen Wochen habe ich mit einer Gruppe von fünf befreundeten Frauen einen weiteren Abschnitt unserer Israel-Trail-Wanderung unter die Füße genommen. In dieser vierten Etappe sind wir im Zentrum Israels angelangt und von Modi‘in bis nach Jerusalem gewandert. Es sind – wieder – vier Tage voller Erlebnisse. Tage des Staunens, der Unbekümmertheit, der Gelassenheit und der schmerzenden Füsse. Ein wunderbarer und höchst willkommener Ausgleich zum Alltag. Hier folgen vier Geschichten und ein paar Bilder von den vier Tagen.



Donnerstag, 17. Februar 2022

Ein Abend im Wunderland

Ich werde älter. Die Liste der Beweise für mein Älterwerden wird immer länger. Ich trage meine Haare jetzt grau, vorne sind sie sogar weiss. Meine Abende verbringe ich meistens strickend auf dem Sofa. Zwischen neun und zehn Uhr döse ich ein. Auch Eyal wird älter. Er wird immer müder und dicker und sieht kaum noch etwas, trotz Brille. Und ich – ich bin eine strickende alte Frau mit weissen Haaren und einem alten Mann.

Aber manchmal breche ich aus! (Wenn auch aus eher fragwürdigen Anlässen) An einem Abend dieser Woche verlasse ich das Büro etwas früher und fahre nach Tel-Aviv. Ich werde am Abend Eyal im Ichilov-Spital besuchen, wo er sich heute einer grauen Star-Operation hat unterziehen lassen.

Diese Gelegenheit verbinde ich mit einem Besuch bei unserer Tochter Sivan. Sie lebt schon ein halbes Jahr mit ihrem Freund in einer niedlichen kleinen (leider völlig überteuerten) Wohnung im pulsierenden Zentrum von Tel-Aviv. Ich schäme mich fast zu sagen, dass ich in dieser ganzen Zeit nur etwa zweimal bei ihr gewesen bin. Meistens fehlt mir abends nach der Arbeit die Energie für weitere Aktivitäten und das Sofa und die Strickerei rufen (siehe oben)…

Dabei liebe ich Tel-Aviv. Ich bin bei jedem Besuch von neuem von dieser lebensfrohen Stadt begeistert. Begeistert von den jungen Leuten mit ihrem unbekümmerten Lebensstil, von der frechen individuellen Mode, von den unzähligen kleinen Cafés und originellen Läden. Begeistert von diesem pulsierenden Leben, das nie ruht, auch nicht in den kleinsten Stunden der Nacht.

Natürlich ist in Tel-Aviv längst nicht alles rosig. Zum Beispiel gibt es k-e-i-n-e Parkplätze. Deshalb fährt Sivan auf einem E-Scooter die Nachbarschaft ab bevor ich ankomme, um nach einem freien Parkplätzchen Ausschau zu halten. So machen sie und ihr Freund das immer, wenn einer von ihnen mit dem Auto – das unterdessen zu einem lästigen und überflüssigen Anhängsel geworden ist – nach Hause kommt. Bald schickt mir Sivan eine Meldung, dass sie in der Sirkinstrasse fündig geworden ist. Leider stellt sich aber heraus, dass das Plätzchen einen halben Meter zu kurz ist und so fahre ich schliesslich ins nächste Parkhaus.

Bei Sivan angekommen werde ich zuerst, wie befürchtet, für eine kleine Putzaktion eingespannt. Nach einer kurzen Diskussion über verschiedene Erwartungen darf ich dann nach draussen und wir flanieren in Richtung des naheliegenden Strandes. Ich bestaune die meist recht heruntergekommenen, dicht beieinanderstehenden Häuser, die kleinen interessanten Hinterhöfe und ergattere mir durch die Fenster intime Einblicke in fremde Stuben. Auf der breiten Flaniermeile, die sich dem Strand entlang kilometerweise bis ins südlich gelegene Yafo zieht, tummeln sich Spaziergänger, Jogger und eilige Velofahrer. Unterdessen ist es schon dunkel, die Beach-Volleyballfelder sind hell beleuchtet und sportliche junge Leute vertreiben sich den Abend bei einem Spielchen.

Ich fühle mich wie Alice im Wunderland und damit das Erlebnis kein Ende nehme, beschliessen wir zu Fuss ins Ichilov-Spital weiterzugehen. Laut Google Maps sollte das in etwa 35 Minuten zu bewältigen sein. In einem kleinen Café setzten wir uns für ein Päuschen an eines der Tischchen auf dem Gehsteig. Auf den drei Stühlen am Tisch neben uns sitzen ein junges Paar und ein hübscher Hund mit blauen Augen. Immer wieder halten Leute inne, um den Hund zu streicheln und sich mit dem Pärchen zu unterhalten. Es ist, als ob alle sich kennen würden. Das liegt vielleicht auch an den Joints, die sie rauchen, als wären es Zigaretten.

Google Maps scheint heute etwas verwirrt zu sein – als wir weitergehen, hat sich die Distanz auf 40 Minuten erhöht, obwohl wir gefühlt schon die halbe Stadt durchquert haben.

Warum fahren wir nicht mit einem Scooter? Fragt Sivan. Na klar! Warum nicht?! Wenn ich Fahrrad-, Ski- und Rollerskater fahren kann, kann ich bestimmt auch E-Scooter fahren, denke ich ohne zu Zögern. Wir halten für mich nach einem gelben Modell Ausschau (diese sollen etwas langsamer sein als die Grauen), dabei verlässt mich ein wenig der Mut. Aber schon gibt es kein Zurück! Schnell haben wir ein passendes Fahrzeug gefunden und dann geht es los. Die technische Handhabung ist, wie erwartet, kein grosses Problem, trotz des leichten Knieschlotterns. Als schwieriger erweist sich das Umfahren der anderen Verkehrsteilnehmer auf dem stark frequentierten Scooter- und Velofahrstreifen. Fahrräder, Scooters und auch Fussgänger scheinen hinter, neben und vor mir recht unvorhersehbar in alle Richtungen unterwegs zu sein. Die Fahrbahn ist nicht immer eben und ich muss mich recht konzentrieren. Sivan saust locker und unbekümmert vor mir her und ich ziehe ihr – anfangs ein wenig versteift und angespannt, dann immer sicherer und mutiger – nach. Bald düse ich im flotten Slalom durch die Stadt. Das macht Spass! Passanten, Autos, Busse und Häuser sausen an mir vorbei. Ich schüttle mein weisses Haar im kühlen Fahrtwind. Natürlich habe ich – in meinem jugendlichen Leichtsinn – keinen Helm aufgesetzt. „Ich bin siebenundfünfzig und das Leben macht Spass!“, ruft mein Herz übermütig den vorbeifliegenden Passanten zu. Nach kurzer rasanter Fahrt haben wir Google Maps überlistet und kommen im Spital an.

Im verdunkelten Spitalzimmer lege ich mich zu Eyal auf das Bett. Er sieht, mit dem verdeckten Auge und müde nach der Operation, noch älter aus als sonst. Ich hingegen bin heute zum ersten Mal E-Scooter gefahren und bin voll guten Mutes, dass es in unseren Leben noch viele „zum ersten Mal“ geben wird.

Es ist schon recht spät geworden, deshalb fahren wir mit einem AutoTel-Wagen zu Sivan’s Wohnung zurück. Das sind öffentlich bereitstehende Autos, in die man sich einfach setzen und wegfahren und sie dann auf eigens für sie reservierten Parkplätzen wieder abstellen kann.

Im Parkhaus steige ich nach Bezahlen einer saftigen Parkgebühr in mein eigenes altvertrautes Fahrzeug. Auf der Fahrt von der Stadt, die niemals schläft in mein gemächliches Dorf, das niemals aufwacht spiele ich mit dem Gedanken, unser zu gross gewordenes Haus gegen eine Wohnung in Tel-Aviv zu tauschen. Schliesslich habe ich noch viele Jahre voller aufregender Erlebnisse vor mir.



„Ich habe immer gedacht, die Zeit wäre ein Dieb, die mir alles stiehlt, was ich liebe. Aber jetzt weiß ich, dass sie uns gegeben, bevor sie uns genommen wird und jeder Tag ist ein Geschenk. Jede Stunde. Jede Minute. Jede Sekunde.“ Zitat aus Alice im Wunderland

Dienstag, 25. Januar 2022

Ein Morgen



Nachts regnet es. 
Davon bekomme ich schlafend nicht allzu viel mit, aber die Strassen sind nass, als ich mich im Dunkeln aus dem Haus stehle. Am noch nächtlich grauen Morgenhimmel fegt der Wind gerade die letzten Wolken weg. Nach zehn Minuten Fahrt ins Nachbardorf ist es hell und ich beginne zu laufen. 

Das Laufen ist wie immer, auch nach mehr als zehn Jahren, eine Herausforderung. Der Körper verlangt auf jedem der mehreren Tausend Schritten nachdrücklich nach seinem natürlichen Ruhezustand. Der Kampf ist immer da. Die Kunst ist es, die Gedanken daran nicht überhand nehmen zu lassen. Meine Sinne sind damit beschäftigt, die frische feuchte Luft, den wolkigen blauen Himmel, die regennassen Bäume und Sträucher und den Morgendunst sehend, riechend und hörend in mich aufzunehmen. Ich freue mich über die aufgehende Sonne, die sich in den Pfützen spiegelt und über die Kraft und Lebendigkeit meines Körpers an diesem Morgen. 

Dann, schweissnass trotz der kühlen Morgentemperaturen, fahre ich weiter ins Büro zum Duschen. Während der kurzen Fahrt bemitleide ich all jene Fahrer, die aus dem muffigen Bett noch halb schlafend zur Arbeit fahren, ohne eine Runde an der frischen Luft gedreht zu haben. 

Als ich etwas später die Duschräume verlasse, ist der Himmel wieder grau verhangen. Auf den wenigen Metern Fussweg ins Büro tropft schon leichter Regen auf mein frisch gewaschenes Haar. Es wird ein nasser Tag werden. Die trockene Stunde war ein Geschenk des Himmels an die Morgenläufer.


Mittwoch, 12. Januar 2022

Ein Heim für Pinguine

In den Wintermonaten fallen die Temperaturen in unserem Haus auf arktische Verhältnisse. Nächtliche Aussentemperaturen um 9 bis 12 Grad, schlechte Bauqualität, fehlende Isolation und Unterkellerung und ein luftdurchlässiges Ziegeldach führen dazu, dass im Winter in unserer Stube ideale Bedingungen für Pinguine herrschen. Wir diskutieren seit Jahren über Anschaffung eines Gasofens, heizen aber weiterhin  nur in wirklich prekären Stunden  mit Klimaanlage, deren Wärme in Sekundenschnelle wieder verpufft und ausserdem die Luft austrocknet. Ende Dezember, als es einige Tage nacheinander grau, kalt und regnerisch war, zeigte das Thermometer in der Stube 16.7 Grad Celsius. Bis es im Frühling wieder wärmer wird, bekämpfen wir die Kälte indem wir uns warm anziehen und möglichst aktiv sind (Putzen, Kochen, Treppenlaufen, Seilspringen, Hampelmänner, usw.). Abends sitzen wir mit warmen Decken in der Stube und trinken literweise heissen Tee. Nachts wappnen wir uns mit einer wunderbaren Daunendecke gegen die eisigen Lüfte im Schlafzimmer. 

Natürlich liegt die Innentemperatur nicht immer bei 16.7 Grad, aber über 18 oder 19 Grad sind es zwischen Dezember bis Ende Februar selten.

Der menschliche Körper scheint sich an Temperaturen zu gewöhnen. Unterdessen komme ich mit den Kältegraden ganz gut zu recht. Die 20 bis 25 Grad in den Häusern meiner Familie und Bekannten in der Schweiz empfinde ich als schon fast unerträglich.

Wie die meisten Israeli ziehe ich unterdessen den Winter dem Sommer vor. Die zahlreichen Sonnentage sind ein Segen. Diese vermögen zwar unser Haus bis im März kaum zu erwärmen, spenden aber viele Stunden erfreuliches Sonnenlicht und täglich einige Stunden angenehme Wärme (draussen, wohlgemerkt, nicht drinnen). Auch jetzt im Januar wird es auf unserem Sitzplatz unter dem Vordach gerne bis 25 Grad warm, so dass man sich der warmen Socken und Fliesjacken für kurze Zeit entledigen kann und sich sogar vor Sonnenbrand schützen muss. So wird die Vitamin-C- and -D-Pause am späten Vormittag zum puren Genuss.



Montag, 3. Januar 2022

Kein bisschen Chaos

Gemäss den aktuellen Corona-Regelungen muss ich mich nach Rückkehr aus einem Land, das auf Israels roter Liste steht (Schweiz), zwei Wochen in Quarantäne begeben. Mit einem negativen PCR-Test kann ich die Quarantäne auf Wunsch nach sieben Tagen verkürzen. Auch nach der Ankunft am Flughafen Tel-Aviv musste ich mir schon für einen Test in der Nase bohren lassen. Ich war überrascht, wie flott die Ankommenden durch die verschiedenen Stationen (Passkontrolle, PCR-Test, Gepäckabgabe) katapultiert wurden. Nach knapp 15 Minuten konnte ich den Flughafen verlassen, nach Durchführen des PCR-Tests, mit dem Koffer in der Hand und der Verpflichtung, für meine Heimisolation zu sorgen.

Von diesem Moment an trafen während einer Woche mehrmals täglich SMS-Nachrichten der Covid-Polizei ein, um meine Quarantäne zu überwachen. Vor dem Flug hatte ich dem elektronischen Ortungsverfahren zugestimmt und meine Quarantäneadresse angegeben. Wer sich nicht elektronisch orten lassen möchte, muss sich einfach ab und zu auf einen Besuch der Polizei in persona gefasst machen. Ich bevorzugte die elektronische Variante und deshalb durfte nun die Polizei über Satellitenortung jederzeit überprüfen, ob ich auf dem Bürostuhl im Zimmer oder auf dem Sofa in der Stube sass.

Die Isolation empfand ich als höchst willkommene Einrichtung um mich von der seelischen Aufgewühltheit, den Strapazen und Eindrücken der Reise zu erholen. Ich konnte schlafen bis ich ohne Wecker aufwachte, im Heimbüro arbeiten und mir über Mittag im Garten die Wintersonne auf den Pelz brennen lassen. Ausserdem trug ich eine Woche lang dieselben alten Kleider, wusch meine Haare nicht, liess mein Fitnesstraining sausen und mir die Einkäufe vom Supermarkt nach Hause liefern. Die israelische Covid-Polizei konnte stolz auf mich sein, ich war unbestreitbar die Klassenstreberin in diesem Verein der zu Überwachenden. Ich verspürte nicht die geringste Versuchung, aus dem Gefängnis auszubrechen. Mit gutem Gewissen und in sekundenschnelle verschickte ich per Fingerdruck eine Woche lang Standortmeldungen aus der angegebenen Wohnadresse.

Mit einem weinenden Auge beschloss ich aber doch, nach einer Woche den zweiten PCR-Test zu machen, um die Quarantäne zu verkürzen.

Die nächste Drive-in-Teststation ist nur wenige Autominuten von unserem Wohnort entfernt. Mit der geschätzt mehrere hundert Autos langen Warteschlange hatte ich jedoch nicht gerechnet. Die Krankenzahlen schnellen in diesen Tagen wieder in die Höhe und sowohl Reiserückkehrer als auch Personen, die aufgrund von Kontakt mit Corona-Kranken in Quarantäne sind, müssen den Test über sich ergehen lassen.

Es ist Schabbat, ich habe gerade nichts anderes zu tun und wie es aussieht, bewegt sich die Autoschlange ziemlich schnell voran. Also reihe ich mich ein und dann staune ich nur noch über dieses Beispiel musterhafter Organisation. Da können sich andere Länder  auch solche, die sich für Meister der Ordnung halten  getrost eine Scheibe von uns abschneiden. Eine grosse Anzahl junger Leute, wahrscheinlich Studenten, frischen temporär mit den Test-Aktivitäten ihr Taschengeld auf. Die Tests sind von der israelischen Heimatfront organisiert und gratis. Das nun folgende Szenario dauert etwa 40 Minuten und verläuft wie folgt: Schon ziemlich am Anfang wird der Verkehr auf der langen Strasse vor der Teststation in zwei Reihen auf beide Seiten der Fahrbahn geschleust. Flugblätter mit einem einzulesenden Code werden verteilt. Mit dem Code öffnet sich ein elektronisches Formular auf dem Handy, mit welchem ich mich für den Test anmelde (ich tippe fahrend am Steuer, wohlgemerkt). Man kann aus etwa fünf verschiedenen Gründen für den PCR-Test wählen. Für mich relevant ist die letzte: Verkürzung der Quarantäne. Das Ausfüllen des Formulars wird mit Erhalt eines Strichcodes bestätigt. Jetzt bin ich registriert. Dann fahre ich im Schritttempo weiter und als ich mich endlich der Teststation, einem grossen Plastikzelt nähere, geht es weiter mit der Registrierung: Ein Angestellter liest meinen Strichcode ein und übergibt mir zwei Klebeetiketten, die er einem kleinen handgehaltenen Drucker entnimmt. Nach den zwei Autos vor mir bin ich an der Reihe: Ich übergebe meine Kleber einer der jungen Frauen im Schutzanzug. Sie entnimmt flink die Proben aus meinem Rachen und Nase, ohne dass ich das Auto verlassen muss. Der Test dauert zwanzig Sekunden, dann bin ich entlassen und darf nach Hause fahren.




Weil aufgrund des grossen Ansturms Verzögerungen beim Erhalt der Resultate entstehen könnten, mache ich mich auf mindestens zwei weitere Tage in Quarantäne gefasst. Aber schon nachts um zwei, während ich schlafe, senden mir die fleissigen Mitarbeiter des Testlabors eine Mitteilung, dass die Testresultate negativ sind. Zwei Stunden später, um 4:06, folgen die Mitteilungen des Gesundheitsministeriums und der israelischen Covid-Polizei, dass ich das Quarantänegefängnis ab 2.1.2022 um 04:04 verlassen darf. Um 8:01 hinkt meine Krankenkasse mit derselben Nachricht hinterher. Somit sind nun sämtliche Systeme synchronisiert, die mich, mein Leben und jeden meiner Schritte in engmaschiger elektronischer Überwachung unter Kontrolle haben.

Für die israelische Covid-Polizeit bedeutet das Ende meiner Quarantäne der Verlust der geflissentlichsten Kontrollandin. Für mich bedeutet es: Zurück in den Alltag.

Donnerstag, 30. Dezember 2021

Die Weihnachtsbaumfrage

Seit ich vor 33 Jahren in Israel hängen geblieben bin, habe ich, was Feiertage und Traditionen anbetrifft, verschiedene Phasen durchlebt. Obwohl ich mich im lebensfreudigen quirlig-chaotischen Israel auf Anhieb zuhause fühlte, litt ich in den ersten Jahren an den christlichen Feiertagen an schrecklichem Heimweh. Das plötzlich stillschweigende Ausbleiben von Ostern und Weihnachten in meinem Leben schmerzte mich so sehr, dass ich an diesen Tagen immer entweder furchtbar bedrückt war oder – ganz einfach in die Schweiz reiste.

Später gewöhnte ich mich daran, dass da, wo ich nun lebte, andere Feste gefeiert wurden. Aber Traditionen zu übernehmen, die uns nicht schon in der Kindheit mitgegeben worden sind, ist nicht selbstverständlich. Vor allem, da ich als nicht religiöser und nicht gläubiger Mensch mit Bräuchen und Ritualen im Allgemeinen nicht gerade viel am Hut habe.

Unsere Kinder wuchsen mit religiösen Festen in verschiedenen Rahmen auf, aber obwohl ich zum Judentum konvertiert habe, konnte ich keinen der Feiertage überzeugt vorleben. Die Kinder durften bei den traditionell-religiösen Schwiegereltern alle Feiertage immer sehr intensiv miterleben. Ab und zu feierten wir mit der Familie in der Schweiz Weihnachten. Obwohl ich heute das Judentum zutiefst schätze und ich eine immense Hochachtung und Liebe für das jüdische Volk empfinde, feiern wir bei uns zuhause keine religiösen Feste.
  
An Weihnachten ist mir Chanukka besonders wichtig


Auch wenn mir die jüdischen Feiertage nicht in die Wiege gelegt worden sind, habe ich unterdessen so meine Vorlieben. Yom Kippur mag ich wegen seiner Ruhe und weil das absolute Innehalten aller Aktivitäten so grandios eindrücklich ist. Am meisten schätze ich Chanukka, gerade wegen seiner – im Vergleich zu Weihnachten – Bescheidenheit. Pessach habe ich noch nie gemocht, die vielen Speisevorschriften sind mir ein Graus. Das Lesen der Haggada (Erzählung und Handlungsanweisung für die Zeremonie am Vorabend von Pessach) stehen wir trotzdem bei den Schwägern oder Schwiegereltern jedes Jahr mit der notwendigen Portion Humor bravurös durch.

Im ersten Corona-Jahr (wann war das schon wieder?) bewegte mich die Weltuntergangsstimmung im Lockdown zum ersten mal dazu, Pessach feiern zu wollen. Der Gedanke, dass das Fest hier und heute sang- und klanglos vorbeigehen sollte, während die Juden in der Shoah in den Ghettos und KZs unter infernalen Umständen alles unternahmen, um jüdische Traditionen aufrecht zu erhalten, liess mich nicht in Ruhe. Mann und Kinder verstanden nicht, was in mich gefahren war, aber ich insistierte. So kam es, dass wir uns gerade jetzt, da wir nirgendwo hinfahren und niemanden einladen konnten, zum ersten mal im familiären Rahmen um den Tisch versammelten und nur für uns die ganze Haggada lasen. Die traditionellen Speisen improvisierte ich, denn deren gebräuchliche Zubereitung war mir doch zu umständlich. Ich hatte auch wie immer keine Matzen gekauft, deshalb gab es ganz unkoscher Pittabrot.

Traditionen einfach zu leben, ohne sie zu hinterfragen, so wie es wohl die meisten Menschen tun, die dort leben, wo sie sich mit ihren Vorfahren verbunden fühlen, ist für mich heute keine Option.

Deshalb werde ich während meiner Weihnachtsreise in die Schweiz, von der ich soeben zurückgekehrt bin, die Fragen nicht los. Lichter, Kränze, Weihnachtsbäume, Weihnachtsmärkte, dekorierte Vorgärten und Häuserfassaden, geschmückte Krippen. Die Lichter in der Züricher Bahnhofstrasse, der riesige Weihnachtsbaum im Basler Rathaus. Die Dekorationen verzaubern.
 


Die funkelnden Häuser, Bäume und Strassen sind an den langen dunklen Abenden wunderschön anzusehen. Über Weihnachtsmärkte zu schlendern, Glühwein zu trinken und würziges Gebäck zu essen ohne Fragen zu stellen, fällt leicht. Aber ich werde den fragenden Blick „von aussen“ nicht los. Was bedeutet uns eigentlich die weihnachtliche Lichterpracht? Ist es mehr als nur ein Fest des Konsums? Hat diese gewaltige Inszenierung noch irgendetwas mit christlichen Traditionen zu tun? Dann muss, dem enormen Aufwand und der eminenten Lichterpracht entsprechend, ein Grossteil der Menschen den christlichen Werten zutiefst verbunden sein. Sind die Menschen hier so religiös?

Ich stürze mich in das vorweihnachtliche Menschengetummel. Die Warenhäuser locken mit Kerzen, Kränzen, Zimtduft und luxuriösen Dingen, die niemand braucht. Bei Einbruch der Dunkelheit staunen wir über die prächtig erleuchteten Strassen in der Innenstadt und reihen uns in die Menschenschlange am Eingang zum Weihnachtsmarkt. Später am Abend lese ich beim Weihnachtsguetzliessen in der Zeitung, dass heute im Mittelmeer (wieder) 56 Flüchtlinge ertrunken sind. Weitere mehr als Hundert werden noch vermisst. Ich blättere weiter. Das Mittelmeer ist weit entfernt.

Stille Nacht, heilige Nacht, singen am Weihnachtsabend zuerst die Eltern und Geschwister, dann, stimmungsvoller und selbstbewusster, Mahalia Jackson. Ich kenne die Worte nicht mehr und bewege nur die Lippen. Dieses Lichterfest zu feiern ist mir heute so fremd wie es mir immer noch ist, im September (zum jüdischen neuen Jahr) ein gutes neues Jahr zu wünschen.
 
Die heilige Familie - und ich

Was feiern wir hier, unter diesem Baum, bei dieser Krippe? Weiss das noch jemand? Die Geburt Jesu? Die Entstehung des Christentums? Und diejenigen, die es wissen – glauben sie daran? Haben die christlichen Werte, für die dieses Fest steht, eine Bedeutung für sie? Oder ist es doch nur ein oberflächliches Lichter- und Geschenkeritual? Mir scheint, je weniger religiös und gläubig die West-Europäer werden, je leerer die Kirchen, desto festlicher und üppiger sind die Strassen geschmückt.

Ich will kein Moralapostel sein. Aber in mir bringt dieses gedankenlose Mitschwimmen im Strom etwas zum Brodeln. Wie wäre es, wenn ich in der Schweiz leben würde (und nicht konvertiert hätte): Hätte das Fest für mich einen tieferen Sinn? Etwas, das mehr ist als einige Jahrzehnte Gewohnheit? Stände in meiner Stube ein Weihnachtsbaum? Gar eine Krippe darunter? Würden wir uns beschenken? Nur ein klitzekleines bisschen, wenigstens für die Kinder?

Nach sechs Tagen Weihnachslichtern, -Guetzli und -Liedern hüpfe ich wieder zurück in meinen israelischen Alltag. Hier freue ich mich nicht nur über wärmeres Wetter und Sonnenschein, sondern auch, dass ich mir die Weihnachtsbaumfrage nicht stellen muss.