Dienstag, 12. Januar 2021

Auf dem Gipfel

Mit zitternden Beinen erklimme ich den Gipfel. Um den Gipfel zu überklettern lege ich mich bäuchlings hin. Mein Oberkörper findet gerade knapp Platz auf dem Felsen, der den Gipfel ausmacht. Nun eröffnet sich vor mir tiefster Abgrund. Mir schaudert als ich nach unten blicke: Viele Hundert Meter steil abfallendes Gelände. Tief unten, in weiter Ferne ein Tal, ein friedlicher See. Da muss ich hinunterklettern, aber meine Füsse finden auf dem brüchigen Felsen auf keiner Seite Halt. Hinter mir, wo ich gerade herkomme, ebenso steil abfallendes Geröll. Hier liege ich nun auf diesem Gipfelfelsen und finde auch nicht den geringsten Vorsprung im Stein, auf welchen ich meinen Fuss setzen könnte. Ich schwitze Wasser und Blut. Hinter mir warten meine Wanderkolleginnen, die sich um mich sorgen, mir aber nicht helfen können. Warum wollte eigentlich ausgerechnet ich, die ich nicht besonders höhensicher bin, als Erste den Gipfel überqueren? Immer wieder suchen meine Füsse vorsichtig Halt, aber es ändert sich nichts an der Lage: Ich stecke fest. Es gibt kein Vor und kein Zurück. Vor mir der unermessliche Abgrund in ein verheissungsvolles aber beängstigendes Tal, hinter mir der beschwerliche und genauso steile Aufstieg, auf welchem es nun kein Zurück mehr gibt.

Drei Stunden stecke ich auf diesem Gipfel fest. Drei Stunden suchen meine Füsse Halt ohne ihn zu finden. Drei Stunden liege ich bäuchlings auf dem brüchigen Stein mit der Gewissheit, dass der geringste Fehltritt das Ende wäre. Es kommt keine Panik auf, aber es gibt auch kein Entrinnen. Kein Vorwärts und auch kein Zurück. Die Situation ist ermüdend und auswegslos.



Dann wache ich auf. Puh! Es war nur ein Traum! 

Ein Traum der mich noch lange beschäftigt. Ja, die bevorstehende Wanderung in die Eilater Berge mit ihren oft schroffen Abgründen macht mir etwas Angst. Aber – Angefangen hat der Traum kurz nach drei Uhr morgens, nachdem uns ein Anruf aus dem Schlaf gerissen hat und ich danach wieder eingedöst bin. Eyals Vater liegt schon wieder im Spital. Schon viele Monate ist es ein Hin und Her zwischen dem Krankenbett zuhause und jenem im Spital. Schon viel zu lange leidet er in schrecklichem Zustand. Verschiedene immer schlimmer werdende Krankheiten lähmen seinen Körper. Zuckerkrankheit in fortgeschrittenem Stadium verursacht nun auch im noch nicht amputierten Bein Nekrose. Wasser in der Lunge erschwert das Atmen. Meistens ist er intubiert. Immer wenn wir denken, dass es jetzt nicht mehr schlimmer werden kann, verschlechtert sich der Zustand ins bisher Unvorstellbare. In den letzten Wochen ist der Vater nur noch wenige Augenblicke am Tag wach und ansprechbar. In diesen Momenten wiederholt er vor allem sein Mantra: Ich will sterben. Und doch ist der Funken Leben in ihm immer noch stark. Er schafft es nicht, loszulassen. Schon mehrere Male stand er an der Schwelle zum Tod und immer wieder überwand er den Augenblick, sei es aus eigener Kraft, sei es aufgrund medizinischer Hilfe. So auch vor diesem Anruf um drei Uhr nachts. Wieder schien der Moment gekommen. Wieder entschwand er. 

Natürlich war nach dem Anruf nicht mehr die Rede von tiefem Schlaf. Im Halbschlaf dämmerte ich bis um sechs Uhr unruhig vor mich hin. Im Traum ahnte ich, dass der Übergang manchmal – nicht nur beim Wandern – unüberwindbar zu sein scheint.

Donnerstag, 7. Januar 2021

Lockdown - neue Version

Ab Donnerstagnacht wird in Israel ein erneuter verschärfter Lockdown in Kraft treten. 
Hallo? Habe ich etwas verpasst? Befinden wir uns nicht schon im Lockdown? Ja, stimmt, wir befinden uns. Aber dieser wird weder beachtet noch durchgesetzt. Ob wohl verschärfte Massnahmen die Lösung sind? Die Israelis sind Weltmeister darin, sich über Regelungen und Konventionen hinwegzusetzen. Die Diskrepanz zwischen den angeordneten Einschränkungen und dem, was tatsächlich auf der Strasse abläuft, ist einfach lächerlich. Niemand hat mehr Lust, Geduld und Kraft für ständig erneuerte Massnahmen. Die Stimmung der Israelis schwankt zwischen absurder Gleichgültigkeit und steigender Panik. Die Infektionsrate ist extrem hoch. Aber bei Sonnenschein und frühlingshaftem Wetter ist es einfach, den Kopf in den Sand zu stecken und das Leben zu geniessen, solange man selbst nicht betroffen ist.

Kein Wunder ist die Lage chaotisch, der allgemeine „Balagan“ eine Katastrophe. Daran ist aber nicht nur die undisziplinierte Bevölkerung schuld. Auch die Regierung, die Polizei und das Gesundheitswesen scheinen die Kontrolle über die Situation verloren zu haben! 

So stelle ich mir die Dateien im Rechner des Corona-Zuständigen im israelischen Gesundheitsministerium vor



Ein Paradebeispiel für die Absurdität, die die Lage in Israel erreicht hat, ist die unglaubliche Geschichte einer Massenhochzeiten der Ultrareligiösen mit Hunderten von Gästen. Die Hochzeit selbst, die entgegen aller Massnahmen abgehalten wird, ist aber nicht etwa der wahre Skandal. Noch viel irrwitziger ist die Tatsache, dass einige der eintreffenden Polizisten dabei gefilmt werden, wie sie sich vom religiösen Oberhaupt segnen lassen, anstatt den Anlass aufzulösen oder die Gäste konsequent zu büssen!

Immerhin habe ich schon die erste Impfung hinter mir. Aber auch die Impfstrategie wirft Fragen auf: Nur Alte und Risikogruppen sollen geimpft werden. Aber trotz Bibi’s gelungenem Coup, für Israel frühzeitig grosse Mengen Impfstoff zu sichern, scheinen gerade für diese Gruppen jetzt schon Impfmittel zu fehlen. Schon bald eineinhalb Millionen Israelis sind geimpft, aber viele Alte und Gefährdete stehen immer noch Schlange. Und auch die Auslieferung der nächsten Dosen, die notwendig ist, um das Impftempo zu halten, ist fraglich. Trotzdem wurden Eyal und ich am vergangenen Shabat aufgerufen, uns im Ärztehaus anzumelden und – zusammen mit Tausenden weiteren Impffreudigen – impfen zu lassen, obwohl wir nur 55 Jahre jung sind und keiner Risikogruppe angehören.

Staunend und kopfschüttelnd hat uns aber vor allem der Anruf unserer Tochter Lianne gestern Abend zurückgelassen. Sie ist vor zweieinhalb Wochen ins Militär rekrutiert worden und befindet sich in der Grundausbildung, welche vier Wochen dauern sollte. Nach einer Woche rannen schon einige Tränen, denn entgegen der ursprünglichen Ansagen durften die frischgebackenen Soldatinnen wegen der steigenden Infektionsraten über das Wochenende doch nicht nach Hause. Seit Bekanntwerden des neuen verschärften Lockdowns ab heute nacht zerbrach ich mir den Kopf, wie man wohl im Militär damit umgehen würde. Noch ein Wochenende ohne Urlaub? Aber der Lockdown sollte ja mindestens zwei Wochen dauern. Würden die Soldaten wirklich einen ganzen Monat lang nicht entlassen werden? Oder würden sie eventuell schon am Donnerstagabend, vor dem Inkrafttreten des Lockdowns nach Hause geschickt? Aber was wäre mit all den Neuangesteckten unter den Auszubildenden bis zum Sonntagmorgen? In der Tat keine einfache Problematik.

Der Beschluss ist so überraschend wie kreativ! Heute würden in einem Tag (Tagwache 4.00 Uhr morgens) alle abschliessenden Prüfungen der Grundausbildung stattfinden und die Soldatinnen dann für eine ganze Woche nach Hause entlassen – mit Weiterführung der Ausbildung per Zoom! Wie sich das genau abspielen soll, ist mir ein Rätsel. Wird nächste Woche eine Soldatin in Uniform durch meine Stube robben?! Ich bin gespannt!

Sonntag, 3. Januar 2021

Happy New Year!



Seit Sonntag befindet sich Israel im dritten Lockdown. Wir dürfen uns nicht weiter als einen Kilometer von unserem Wohnort entfernen, ausser zum Arbeiten oder Einkaufen. Aber schon wenige Tage nach Beginn der neuen wiederholten Einschränkungen ist jedermann klar: Ernst nimmt das jetzt niemand mehr. Auf dieser dritten Welle surfen wir schon wie die Weltmeister. 

Die Israelis wissen immer alles besser und lassen sich nicht gerne Vorschriften machen, schon gar nicht bei schönstem sonnigem Winterwetter. Und jetzt haben wir es wirklich alle leid. Schon wieder ein Lockdown! Irgendwann muss doch das Leben weitergehen. Ausserdem werden wir in aller Windeseile durchgeimpft, das trägt zur allgemein hoffnungsvollen Stimmung bei. Ein neues Jahr, neue Anfänge, neue Hoffnungen. 2021 wird endlich alles gut! 

Erwartungsgemäss schnellen die Krankenzahlen wieder in schwindelerregende Höhen. Die israelischen Obrigkeiten reden verzweifelt davon, die undisziplinierten Bürger im Zaum zu halten, aber in der Praxis merkt man davon nicht allzuviel. Lianne, die vor knapp zwei Wochen ins Militär eingezogen worden ist, darf nun über das Wochenende doch nicht nach Hause. Zu gross ist die Ansteckungsgefahr. Aber blutjunge Soldaten in Schach zu halten, ist keine grosse Kunst. Mit den zivilen Israelis, die ihre Freunde treffen und das Leben geniessen wollen, wird es schon schwieriger. Auch Sivan stellt nach einigen anfänglich vorsichtigen Fahrten von ihrer Wohnung im Nachbardorf zu uns und zurück fest, dass die Wächter wohl im Stehen eingeschlafen sind.

Und dann ist Silvester. Der Freund in Tel-Aviv. Es soll nur eine kleine Party werden, in beschränktem Rahmen. Ein schönes Essen kochen, um Mitternacht mit Freunden anstossen. Was soll daran schon so schlimm sein? Die Polizei versucht am letzten Tag des alten Jahres, die Bürger auf allen möglichen Kanälen abzuschrecken. Um Silvesterparties und grössere Menschenansammlungen zu verhindern, sollen Strassenblockaden aufgestellt werden. Ausgangssperre! Im Fernsehen geben die Uniformierten nachdrückliche und abschreckende Warnungen durch. Die Bürger werden dringlichst gebeten, zu Hause zu bleiben. Saftige Bussen werden angedroht. Eyal und ich bleiben ganz gerne zu Hause. Wir fläzen faul auf den Sofas und zappen von Sender zu Sender. Ob bei soviel Polizeipräsenz in den TV-Studios überhaupt noch jemand für die Strasse übrigbleibt? Als es eindunkelt erleuchtet unsere Stube im Blaulicht der Streifenwagen – aus dem Fernseher, wo sich die Hauptaktivität der Polizei abzuwickeln scheint. 

Ach, Lockdown – Schmockdown, sagt Sivan. Die Drohungen sind zwar schon etwas beängstigend, aber etwas Nervenkitzel macht die Silvesterfeier im Untergrund erst richtig spannend. Am Abend fährt sie ohne grosse Umstände nach Tel-Aviv, wo sie mit Freund im Dunkel der Nacht auf schnellen Elektro-Scooters zu Bekannten düst. Der Freund hat unverfrorenerweise sogar noch eine Schüssel Salat dabei. Und die Champagnerflasche, eingewickelt in mehrer Tücher, steckt tief in der Tasche. Wie sie das wohl der Polizei erklärt hätten? Aber die Sorgen waren umsonst. Die Feierlichkeiten gehen unentdeckt über die Bühne. In den frühen Morgenstunden sausen sie unbemerkt wieder zurück. Es ist alles wie gehabt, nur auf etwas kleinerer Flamme. Und einmal sogar ohne Story im Instagram, für den Fall der Fälle.

Sonntag, 20. Dezember 2020

Ein Spaziergang



Über den Shvil Israel, den nationalen israelischen Wanderweg, der Israel vom Norden bis in den südlichsten Zipfel durchzieht, habe ich früher schon einmal geschrieben. Obwohl ich gerne wandere konnte ich noch nie so recht verstehen, warum das Abwandern einer bestimmten Route ein abzuhakendes Ziel auf der Wunschliste der Lebensträume sein sollte. Ich brauche keine grosskotzigen Ziele, für mich reicht ein schöner Weg. Als eine liebe Freundin, die Reiseleiterin, aber corona-bedingt arbeitslos ist, eine siebentägige Shvil-Wanderung anbot, zögerte ich. Aber eine geplante Auslandsreise schien jeden Tag in weitere Ferne zu rücken. Und so sagte ich dann doch zu. Ich musste unbedingt aus meinem Heimbüro-Kämmerchen ausbrechen, wenn ich nicht wahnsinnig werden wollte. 



Nun liegt die Wanderung schon mehrere Wochen zurück. Am Wochenende sortiere ich die Fotos – und noch einmal meine Eindrücke. Meine drei Wanderkameradinnen und ich haben insgesamt etwa 70 Kilometer zurückgelegt, jeden Tag von sieben Uhr morgens bis spätnachmittags einen Fuss vor den anderen setzend. Wir haben an schattigen Plätzchen gerastet, unsere Notdurft hinter Sträuchern verrichtet, in Bächen die Hände gewaschen, Begeisterung über die schönsten Pflanzen und Aussichten geteilt, geplaudert, Witze gemacht, Geschichten erzählt und interessante Gespräche geführt. Die Wege führten oft über schwieriges Gelände, durch dorniges Gebüsch, steil bergauf oder gefährlich bergab, über Felsen und durch Bäche. 


 

Auf einer mehrtägigen Wanderung erkennt man, dass sich eindrückliche, herausfordernde, malerische oder sogar paradiesisch schöne Wegstücke immer wieder mit langweiligen, widrigen oder mühsamen Abschnitten abwechseln. Erst alles zusammen ergänzt sich zu einem grossen Ganzen – genau wie im Leben. 


Das stundenlange Gehen wirkt meditativ. Sich nur mit Gehen, Hören, Riechen, Sehen beschäftigen. Den Gedanken freien Raum lassen. Die Augen wandern lassen und sich am Reichtum der Natur sattsehen. Anstrengung, Schwitzen, Schmutz, Schmerzen – die Auseinandersetzung mit dem Körper trägt dazu bei, dass man ganz bei sich ist. Sich die Sonne auf das Haupt brennen und den Wind das Haar zerzausen lassen, sich im Bach waschen. Mit der Natur im Einklang sein. Sich auf das Wesentliche beschränken. Sich am Abend mit schmerzenden Füssen und berauscht von den Eindrücken des Tages ins Bett legen und in tiefen Schlaf fallen. Am nächsten Morgen erneut neugierig wieder aufbrechen. All das ergibt ein vollkommenes Pendant zu eingesessen Gewohnheiten, einen perfekten Ausbruch aus dem Alltag. 



Sehr abwechslungsreich sind auch die Begegnungen mit anderen Shvil-Wanderern, den „Shvilisten“. Wie die Israelis so sind, begrüsst man sich nicht nur, sondern ist sofort im Gespräch: Wo bist du losgelaufen? Welches Ziel hast du heute? Wo übernachtest du? Wie die Landschaften wechseln sich auch die Begegnungen immer wieder ab, oft nach einem kurzen Wortwechsel, manchmal nach längeren Gesprächen. Menschen kommen und gehen, man sieht sich auf immer anderen Teilstücken wieder. Besondere Beachtung gebührt auf dem Shvil jenen Wanderern, die im Gelände übernachten und ihre gesamte Ausrüstung mittragen. Wir bestaunen einen wandernden Hund mit eigenem, Hunde-gerechtem Rucksack (natürlich hat er auch einen menschlichen Begleiter dabei, der für ihn die Karten liest). Eine Gruppe Achtzehnjähriger, kurz vor dem Militärdienst, stolpert energiegeladen im Lauftempo bergauf und bergab. Ein junges Ehepaar erzählt uns, dass die Shvilwanderung, ohne Unterbruch bis nach Eilat, ihre Hochzeitsreise ist. Mit zwei Männern nehmen wir im Gehen ein Gespräch auf, welches sich schnell vertieft und erst einige Zeit und viele Kurven später stellen die beiden fest, dass sie ihre Frauen und Familien irgendwo zurückgelassen und vergessen haben. 


Die drei am Anfang nur oberflächlich bekannten Wanderpartnerinnen sind mir mit jedem Schritt vertrauter und schlussendlich zu lieben und geschätzten Kameradinnen geworden. Ich musste mich nach vier bereichernden Tagen leider verabschieden, ich wurde an der Arbeit zurückerwartet. Die Kolleginnen wanderten noch die Shvil-Abschnitte fünf und sechs weiter. Ich war in Gedanken bei ihnen während sich meine wunden Füsse unter dem Bürotisch erholten. Sobald die Blasen verheilt waren, suchte ich ein passendes Geschäft auf und gab für neue Wanderschuhe ein Vermögen aus. Bestimmt würde ich diese bald gebrauchen, wenn ich die weiteren Shvil-Abschnitte unter die Füsse nehmen werde.

Ein Grafitti am Weg: Corona hat uns nicht aufgehalten




Samstag, 24. Oktober 2020

Lichtblicke

Das vermaleidete Virus hat uns fest im Griff. Wie kleine Nussschalen werden wir auf einem stürmischen Meer der Unsicherheit erbarmunglos von Welle zu Welle geworfen. Es bleibt uns nur, uns festzukrallen und zu hoffen, nicht über Bord oder gleich mitsamt der Schale unter zu gehen – wenigstens bis der Sturm sich wieder legt.  

Die Stube - der Hauptschauplatz
In Israel haben wir gerade die zweite Welle hinter uns, das zweite Lockdown. Wieder habe ich fast einen Monat, davon viele Feiertage, zwischen Küche, Stube und Heimbüro verbracht. Wie klein meine Welt geworden ist, wurde mir erschreckend bewusst, als das Entsorgen des Altpapiers an der Sammelstelle nur wenige Meter von unserem Haus entfernt zum aufregenden Erlebnis wurde.


Nun sinken bei uns die Fallzahlen und wir dürfen uns wieder frei bewegen, was ich auch in kleinen vorsichtigen Raten tue. Schulen, Restaurants, Kinos und Läden (ausgenommen Lebensmittel) bleiben weiterhin geschlossen, aber auch ohne sie gibt es Möglichkeiten für kleine Ausbrüche aus den vier Wänden. Die kleinen Inseln der Normalität sind nun unendlich geschätzt. Ich finde in diesen Tagen kaum mehr Worte für irgendetwas, bestimmt nicht, um Blogbeiträge zu schreiben. Aber es gibt Lichtblicke, Momente der Ruhe, der Freude, der Schöhnheit.

Unsere Pergola zum Laubhüttenfest


"Cafe ve Yam" (Kaffee und Meer) im Navi eingeben und schon sind Sie da!


Le'Chaim! Prost!


Heute morgen beim SUP - die Stadt im Hintergrund versinkt nicht im Smog, sondern im herbstlichen Morgennebel




Sonntag, 9. August 2020

Tropf, tropf, tropf...


Ohne künstliche Bewässerungsanlagen geht in israelischen Pärken und Gärten überhaupt nichts. Die Sommermonate sind niederschlagsfrei und wer grünen Rasen und saftige Sträucher will, muss bewässern. Deshalb gibt es auch in unserem kleinen Gärtchen ein computergesteuertes System von Sprinklern und Tröpfchenschläuchen. Notgedrungen habe ich mir ein umfangreiches Fachwissen angeeignet, was Rasensprinkler und Bewässerungscomputer anbetrifft. Aber als mir eines Morgens das Eisenkraut und der Rosmarin welk und kraftlos entgegenblicken und ich trotz längerer Suche kein Leck finde, bin ich ratlos. Der Computer funktioniert erwartungsgemäss und der Garten auf der linken Seite ist saftig-feucht, aber auf der rechten Seite bleibt der Tröpfchenschlauch trocken. Natürlich bin ich Fachfrau genug um zu verstehen, dass irgendwo etwas auf den Schlauch drückt, aber die Problemstelle in dem komplizierten System zu finden, das zum grössten Teil unter Pflanzen und Sträuchern liegt, übersteigt mein Können.

Leider habe ich auch keine Zeit, den ganzen Sommer über jeden Tag den Garten mit dem Schlauch zu bewässern, also muss ein Fachmann her. Nun ist es mit den Fachleuten in Israel so eine Sache – weil sie sich nämlich nach Lust und Laune einfach selbst so benennen, auch wenn sie die grössten Scharlatane sind. Um dem Abhilfe zu schaffen, wurde das Portal „Midrag“ ins Leben gerufen. Auf Midrag, übersetzt Bewertung, kann man Fachleute auswählen, die von Kunden mit einem Punktesystem bewertet werden. Die Telefonnummern der Dienstanbieter sind nur einsichtlich, wenn man sich verpflichtet, später ebenfalls eine Bewertung abzugeben. Ich rufe die beiden am besten bewerteten Bewässerungsexperten an und warte auf ihren Besuch.

Yossi kommt drei Stunden nach meinem Anruf vorbei, schätzt das Problem ein und macht einen Kostenvoranschlag von 800 Schekeln für den halben Garten oder 1200, wenn ich sämtliche Schläuche erneuern möchte. Yossi macht einen seriösen Eindruck, aber leider weiss ich, dass auch ein Portal wie Midrag in dieser Welt von improvisierten Problemlösungen und überzogenen Fantasiepreisen kaum Ordnung schaffen kann, deshalb hole ich mir eine Zweitmeinung ein. 

Eli kommt zwanzig Minuten, bevor ich aus dem Haus muss. Er schreitet mit selbstsicheren Schritten und voller Tatendrang durch meinen Garten. Dann steht unerwarteterweise auch noch sein Partner auf dem Rasen, er trägt eine grosse Rolle Tröpfchenschlauf auf der Schulter. Die beiden fachsimpeln untereinander und reissen an den Schläuchen in meinem Garten. Ich sehe, dass Eli kaum zu bremsen ist und bitte ihn eindrücklich, nichts zu unternehmen, ohne mich vorab über die Kosten zu informieren. Kein Problem! versichert er, und schon erscheint in meinem Garten ein dritter Arbeitskollege mit einer grossen Schneidezange. Ich muss dringend weg, sage ich, bitte mach mir doch einfach einen Kostenvoranschlag. Mach dir keine Sorgen!, beteuert Eli mit einem charmanten Lächeln, wir prüfen nur, wo das Problem liegt. 

Dann geht es ruckzuck, der Kollege schneidet mit seiner Zange das komplizierte Schlauchsystem an mehreren Stellen durch, legt einige neue Stücke ein, verbindet hier mit da und schon fliesst das Wasser im Schlauch in starkem Strom auch im trockenen Teil des Gartens. Die Tröpfchen sprudeln, dass es eine Freude ist. Das Eisenkraut lacht mich erleichtert an, Eli sagt, das macht dreihundert Schekel und seine Kollegen packen die Zange und den Restschlauch wieder ein. Ich habe keine Ahnung, was da gerade passiert ist, aber die Bewässerung funktioniert einwandfrei und ich komme doch noch rechtzeitig zu meinem Termin. Einfach dreihundert Schekel ärmer. Wie ich diese  zweifellos zügige und professionelle  Überfallaktion auf dem Portal bewerten soll, muss ich mir noch überlegen.

Donnerstag, 6. August 2020

Fest der Liebe


Gestern war Tu B’Av, ein kleiner jüdischer Feiertag, der in der Nacht zwischen dem 14. und 15. Tag des Monats Av beginnt, einer Vollmondnacht. Tu B'Av gilt als Freudentag und wird im modernen Israel als Fest der Liebe gefeiert. Viele Paare begehen diesen Tag mit einem romantischen Essen oder man beschenkt sich mit Blumen oder kleinen Aufmerksamkeiten. Bei uns ging das Fest nach einem intensiven Arbeitstag ziemlich sang- und klanglos über die Bühne. Aber immerhin habe ich mir etwas Gedanken gemacht, während wir ganz unromantisch auf dem Sofa dahindösten. Dabei handelt es sich aber nicht etwa um eine Formel für langjährige Partnerschaften oder gar eine grosskotzige Definition für den wohl unumschreiblichen Begriff Liebe. Eher vage Gedanken. Worauf beruht Zuneigung? Was verbindet zwei Menschen, die oft total verschieden sind? Was hält gewisse Paare zusammen? Und warum trennen sich andere, die doch eigentlich zusammenpassen sollten?

Mit meinem Gatten und mir, zum Beispiel, verhält es sich wie mit der Hummel, die ja bekanntlich nach den Gesetzen der Aerodynamik nicht fliegen kann. Sie denkt aber einfach nicht zuviel darüber nach. Deshalb fliegt sie trotzdem.
Eyal und ich passen überhaupt nicht zusammen. Ein Verkuppler hätte bestimmt in jeder Hinsicht von dieser Verbindung abgeraten, die vor 35 Jahren ihren Anfang nahm. Mit welch verschiedenen Ansatzpunkten wir das Leben in Angriff nehmen, ist mir erst letztes Wochenende wieder aufgefallen:

Ach! Ich habe soviel zu tun, ich weiss gar nicht womit ich anfangen soll! Ich werde das ganze Wochenende arbeiten müssen! Ich weiss vor lauter Arbeit nicht wo mir der Kopf steht! – jammert ER schon kurz nach dem Aufstehen.
Dann geht er an den Strand, wo er mit seinen Männerfreunden den Morgen beim Baden und Plaudern verbringt. Wenn es gegen Mittag zu heiss wird, kommt er nach Hause und liest in der kühlen Stube drei verschiedene Zeitungen. Nach dem Mittagessen erholt er sich bei einem ausgiebigen Nickerchen von der Arbeit, die auf seinen Schultern lastet.

Ich hingegen stehe am Morgen auf, giesse mir einen ersten Kaffee ein und freue mich auf den Tag. Ach wie schön! Ein ganzes Wochenende liegt vor mir und ich habe überhaupt keine Verpflichtungen! Dann gehe ich noch vor dem Morgenessen eine längere Runde Joggen, erledige die Wäsche, räume den Geschirrspüler aus, giesse die Pflanzen im Garten, backe einen Zopf und einen Kuchen und bringe das Altpapier und das Altglas weg. Bis zum Nachmittag habe ich die Gartenmöbel abgefegt, das Badezimmer geputzt, die Wäsche verräumt, ein viergängiges Menu gekocht und die Küche wieder auf Vordermann gebracht. Zum Ausruhen stricke oder blogge ich eine halbe Stunde, dann reinige ich die Kaffeemaschine, mähe den Rasen und beziehe das Bett frisch.

Gegen Abend treffen wir uns auf dem Sofa, ich müde und zufrieden über ein Wochenende ohne besondere Verpflichtungen, er beim Patience legen und gelähmt von der Last der Arbeit, die immer schwerer auf sein Gewissen drückt.

Er und ich sind die unterschiedlichsten Persönlichkeiten, die man sich erdenken kann. Angenommen, ein Charakterprofil besteht aus 34,751 Punkten, dann habe ich auf dieser Erde die Person gefunden, die in jedem einzelnen der 34.751 Punkten mein extremstes Gegenstück ist.

In seiner Welt gibt es nur schwarz und weiss – ich sehe alles nicht nur in unzähligen Farben sondern auch aus einer 360 Grad Rundherumsicht.

Er ist zielorientiert – ich lebe im jetzt und heute.

Ich bin sinnlich, geniesse es zu riechen, zu fühlen, zu hören – für ihn zählen nur Zahlen und Fakten.

Ich esse und trinke gerne – ihm ist es egal womit er den Hunger stillt. Alkohol mag er gar nicht.

Er ist ein Spieler: Schach, Sudoku, Whist, Canasta, Backgammon – für mich sind Spiele eine unverständliche Qual.

Er sammelt jedes Stück Papier und hortet alles, das man irgendwann noch brauchen könnte – ich schmeisse alles weg.

Ich liebe Tiere: Katzen, Hunde, Vögel, interessante Insekten, alles was kreucht und fleucht – für ihn sind Tiere ärgerliches Ungeziefer, gleichzusetzen mit Ratten oder Kakerlaken.

Ich bin handwerklich begabt, kann malen, zeichnen, basteln, stricken, häkeln – er bringt keinen geraden Strich aufs Papier.

Er ist bei gesellschaftichen Anlässen der Mittelpunkt, der immer einen Witz und den richtigen Satz für jeden parat hat – ich bin gerne alleine. In Gesellschaft verstumme ich und wenn ich etwas sage, ist es meistens das Falsche.


Ich könnte diese Liste ins Unendliche fortführen. Wir sind Erde und Luft, Wasser und Feuer, Tag und Nacht, Südpol und Nordpol, Yin und Yang. Am besten denkt man wohl einfach nicht zuviel nach, weder über Aerodynamik noch über die Liebe. Sonst stürzt man ab.

Tu B’Av sameach! Ein schönes Fest der Liebe!