Wie eine neueste Zählung kürzlich ergeben hat, weist das Dorf, in dem ich lebe, etwa 5600 Einwohner auf. Das ist eine gute Grösse, man kennt sich und alles fühlt sich sehr familiär an. Es gibt eine Grundschule, einen Supermarkt, zwei „Tante Emma“-Läden, ein öffentliches Schwimmbad, eine Bibliothek, alles gut zu Fuss erreichbar. Für ein Einkaufszentrum, ein Kino, oder auch ein Restaurant muss man aber ausser Ort fahren. Auch das Schulhaus der Mittel- und Oberstufe befindet sich in etwa sieben Kilometer Entfernung und die Schulkinder werden mit Schulbussen hin- und wieder zurücktransportiert. Nun wäre das alles schön und gut – gäbe es funktionierenden öffentlichen Verkehr. Leider sind aber Busverbindungen in die umliegenden Dörfer oder Städte spärlich, schlecht organisiert oder gar nicht vorhanden. Der nächste Bahnhof ist fast nur mit Privatwagen zu erreichen und die zehn Kilometer Entfernung dorthin bedeuten im Morgenverkehr oft mehr als eine ärgerliche halbe Stunde stockende Fahrt. Wenn die Schulkinder der Oberstufe am Morgen den Schulbus verpassen (was bei Jugendlichen ja gerne vorkommt), wäre der Schultag vorbei, wenn sie sich auf den öffentlichen Verkehr verlassen würden um zur Schule zu fahren. Zum Glück dreht der alte pensionierte Gemeindepräsident immer noch allmorgendlich seine Runden und sammelt die Jugendlichen ein, die verschlafen zu spät an den Bussammelstellen eintrudeln, und fährt sie zur Schule. Er hat aber nur Platz für vier Personen und die Nachfrage übersteigt fast immer das Angebot. Leider bedeuten die fehlenden Busverbindungen auch, dass Eltern viel zu oft als Taxidienst hinhalten müssen, wenn die Kinder ins Kino, zu Freunden oder irgendwelchen Besorgungen ausserhalb des Dorfes gelangen möchten. Viele Familien mit schon älteren Kindern sind im Besitz mehrerer Privatwagen, so auch wir. Das wiederum hat hohe Kosten und Umweltverschmutzung zur Folge und auch Streit mit den Nachbarn um die heissbegehrten Parkplätze in der Strasse ist an der Tagesordnung.
Nun soll eine neue WhatsApp-Gruppe das Verkehrsproblem mindern. Hunderte Einwohner sind schon Mitglieder und die Gruppe verbreitet sich wie ein Lauffeuer im Dorf. Die einzige Aufnahmebedingung ist, im Dorf zu wohnen. Jeder der irgendwohin muss und kein Auto hat, kann sich melden. Müssen sie zu einer bestimmten Zeit am Flughafen sein? Am Bahnhof? Möchten sie ins nächste Einkaufzentrum? Dann können sie einfach Ziel und Uhrzeit angeben und abwarten. Die Chancen sind gross, dass sich eine Mitfahrgelegenheit findet.
Ich finde diese Gruppe eine geniale gemeinnützige Einrichtung, in welcher ich auf jeden Fall aktiv tätig sein werde. Für das vermehrte WhatsApp-Gepiepse morgens kurz nach acht (habe mich verschlafen, fährt jemand zufällig in Richtung Schule) oder Meldungen in den frühen Morgenstunden (bin im Ausgang versumpft, fährt jemand gerade nach Hause?) gibt es zum Glück die Möglichkeit, die Gruppe stumm zu schalten.
Der Blick aus dem Fenster erfolgt aus Israel, wo ich seit 1988 lebe. Geboren und aufgewachsen bin ich in der Schweiz. Aus meinem Fenster blicken auch Eyal, mein israelischer Mann und meine erwachsenen, sehr israelischen Kinder, Sivan, Itay und Lianne. Die Personen sind echt, unsere Namen aber frei erfunden.
Dienstag, 28. November 2017
Samstag, 11. November 2017
Zwillinge
In unserer Familie gibt es Nachwuchs. In der erweiterten Familie, wohlvermerkt, bei uns selbst ist dieses Kapitel ja abgeschlossen (die Älteren) oder noch nicht aktuell (die Jüngeren). Mein Schwager aber ist zum ersten Mal Grossvater geworden. Die Freude ist gross und da es sich um Zwillinge handelt, sogar doppelt. Vor einigen Tagen stattete ich den beiden Würmchen, die nach 40 Tagen in der Frühchenstation endlich nach Hause durften, einen ersten Besuch ab. Die Beiden sind zehn Wochen zu früh geboren, aber ich bin trotzdem erstaunt, wie klitzeklein und unfertig sie auch jetzt noch sind.
An die ersten Wochen nach meinen eigenen Geburten kann ich mich nur noch diffus erinnern, ich war wohl jeweils reichlich verwirrt. Bis ich mich einigermassen von den Strapazen der Geburt, der hormonellen Umstellung und dem Durcheinander mit der neuen Familienkonstellation erholt hatte, kraxelten mir schon drei ausgewachsene Kleinkinder um die Beine. Vielleicht versetzt mich nun deshalb die Winzigkeit und Unfertigkeit der kleinen neugeborenen Menschlein ins Staunen. Aber wenn ich mich auch nicht mehr genau erinnere, weiss ich doch, dass jedes einzelne meiner Kinder bei der Geburt fast ein Kilogramm mehr auf die Waage brachte als die Zwillinge zusammen!
Ich darf beim Stillen zusehen. Als die zwei Winzlinge – stereofon! – an den prallen Brüsten hängen, drängt sich mir unweigerlich der Vergleich mit einem Wurf Kätzchen auf. Mit blinden Augen suchen sie die Warze und saugen sich voll. Dabei verschlucken sie sich ab und zu und müssen ein wenig geschüttelt und dann wieder angesetzt werden. Dann, kurz bevor sie wie betrunken in den Schlaf fallen, bekommen sie je eine frische Windel in Puppengrösse verpasst.
Das Leben der Beiden lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen: Vor dem Essen quengeln sie, weil sie ein Hüngerchen verspüren, nach dem Essen jammern sie, weil ein Gäschen in ihren zarten Gedärmen rumort. Dazwischen schlummern sie ein wenig, weil das Nuckeln, Verdauen und das Zellteilen im Turboverfahren sie erschöpft.
Zwei wehrlose Bündelchen Mensch, denen das Leben zugeworfen wurde. Die Winzigkeit und das totale Ausgeliefertsein dieser Geschöpfe führt mir vor Augen: Wir kommen aus dem Nichts. Wir sind nichts und am Schluss kehren wir ins Nichts zurück. Noch erstaunlicher finde ich: Eben noch ein Nichts, werden wir aus wehrlosen Würmchen – ein bisschen Muttermilch trinkend, ein paar Müskelchen dehnend, ein paar Schläfchen haltend – flugs zu strammen jungen Menschen, die glauben, das Zentrum des Universums zu sein und die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben.
Ich darf beim Stillen zusehen. Als die zwei Winzlinge – stereofon! – an den prallen Brüsten hängen, drängt sich mir unweigerlich der Vergleich mit einem Wurf Kätzchen auf. Mit blinden Augen suchen sie die Warze und saugen sich voll. Dabei verschlucken sie sich ab und zu und müssen ein wenig geschüttelt und dann wieder angesetzt werden. Dann, kurz bevor sie wie betrunken in den Schlaf fallen, bekommen sie je eine frische Windel in Puppengrösse verpasst.
Das Leben der Beiden lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen: Vor dem Essen quengeln sie, weil sie ein Hüngerchen verspüren, nach dem Essen jammern sie, weil ein Gäschen in ihren zarten Gedärmen rumort. Dazwischen schlummern sie ein wenig, weil das Nuckeln, Verdauen und das Zellteilen im Turboverfahren sie erschöpft.
Zwei wehrlose Bündelchen Mensch, denen das Leben zugeworfen wurde. Die Winzigkeit und das totale Ausgeliefertsein dieser Geschöpfe führt mir vor Augen: Wir kommen aus dem Nichts. Wir sind nichts und am Schluss kehren wir ins Nichts zurück. Noch erstaunlicher finde ich: Eben noch ein Nichts, werden wir aus wehrlosen Würmchen – ein bisschen Muttermilch trinkend, ein paar Müskelchen dehnend, ein paar Schläfchen haltend – flugs zu strammen jungen Menschen, die glauben, das Zentrum des Universums zu sein und die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben.
Ich verlasse die junge Familie mit guten Wünschen, aber auch staunend und nachdenklich. Was für eine eindrückliche Begegnung. Das Bild der zwei nuckelnden Menschenbabies wird mir noch lange im Gedächtnis haften bleiben!
Sonntag, 5. November 2017
Gefährliche Begegnung
Nächsten Monat werden es schon sechs Jahre sein, seit ich meinem Laufhobby fröne. Dabei ist eine der Herausforderungen beim Laufen das Erkunden von immer neuen Routen, denn jahrelang dieselbe Runde zu drehen wäre todlangweilig. Nun bin ich leider nicht mit einem sehr ausgeprägten Orientierungssinn gesegnet und muss deshalb die Strecken jeweils gut voraus planen, damit sie meinen Anforderungen entsprechen. Das ist gar nicht so einfach, denn es sollte möglichst eine Rundstrecke sein, sie muss von der geplanten Entfernung her ungefähr passen und ausserdem laufe ich nicht gerne in bewohnten Gebieten und auf asphaltierten Strassen. Querfeldein finden sich aber auch so einige Hindernisse: Viele Feldwege werden im israelischen Sommer zu Sanddünen, während ich im Winter manchmal plötzlich vor einem undurchquerbaren Tümpel stehe, der am Vortag noch gar nicht da war. Für weitere Gefahren habe ich jeweils einen Pfefferspray dabei, den ich hoffentlich nie werde gebrauchen müssen, denn die Chancen sind gross, dass ich ihn im Eifer des Gefechts mir selbst in die Augen sprayen würde.
Diese Woche hatte ich beim Erkunden einer neue Route eine sehr unangenehme Begegnung mit einem Rudel streunender Hunde. Leider sind Begegnungen dieser Art für Jogger in Israel keine Seltenheit, aber bisher waren die Hunde noch immer mit einem autoritären „Nach Hause!“-Ruf zu beeindrucken und die Kombination mit einem strengen Blick liess sie jeweils das Weite suchen.
Leider nicht so an diesem Morgen: ich nahm die drei Hunde auf dem Feld aus einigen hundert Metern Entfernung wahr. Zum Glück kam mir auch noch ein landwirtschaftlicher Traktor entgegen, so entschied ich mich mutig, nicht umzukehren sondern weiter zu laufen. Bald sprangen die Hunde auf mich zu und während zwei sich tatsächlich aus dem Staub machten, als ich ihnen energisch einen Befehl zurief, kam der dritte - ein deutscher Schäferhund! - zähnefletschend auf mich zu! Er schien mit seinem Hundespürsinn sofort gewittert zu haben, dass es mit meinem autoritären Durchsetzungsvermögen nicht allzu weit her ist und er knurrte mich an, zeigte mir die Zähne und wartete nur auf den richtigen Moment, mich anzuspringen und zu zerfleischen! Wie ich richtig berechnet hatte, kreuzte nun aber gerade der Traktor meinen Weg und während ich noch eine Zehntelsekunde überlegte, ob ich lieber von einem deutschen Schäferhund zerfleischt oder von einem unbekannten thailändischen Traktorfahrer vergewaltigt werden möchte (wer weiss: #metoo!), sprang ich dem Lebensretter aufs Trittbrett und schon fuhren wir dem Rudel mit dem Traktor davon. Etwa einen Kilometer weiter stieg ich unbehelligt wieder ab und lief dann mit klopfendem Herzen und etwas schneller als gewöhnlich meine Runde zu Ende.
Fazit: Lieber auf den gewohnten Strecken laufen! Zum Beispiel dem Alexanderfluss entlang, hier ist es ziemlich sicher, es gibt jederzeit viele Läufer und Radfahrer und wenn auch die Strecke immer dieselbe ist, sind doch die Sonnenaufgänge jeden Tag anders (siehe Foto)!
Dienstag, 10. Oktober 2017
Der erste Regen
Heute morgen überrascht mich, noch während ich den Wagen parke, ein kräftiger Wolkenbruch: der erste Regen! Es giesst in Strömen! Obwohl das Bürogebäude nur wenige Meter entfernt ist, bin ich nach einem Sprint in die Lobby klitschnass. Hier treffe ich auf mehrere durchnässte Mitarbeiter, die sich aufgeregt und fröhlich lachend die Tropfen von den Kleidern schütteln.
Man kann sich vorstellen, dass der erste Herbstregen – nach der langen Trockenzeit des Sommers heiss herbeigesehnt – in Israel eine aussergewöhnliche Bedeutung hat. Deswegen verdient er auf Hebräisch sogar einen eigenen Namen: HaYoré. Und bei mir verdient er einen eigenen Blogbeitrag.
Die Schweiz, wo ich aufgewachsen bin, ist meines Erachtens eindeutig mit zu viel Regen gesegnet. Wenn ich heute an die zwei Jahrzehnte zurückdenke, die ich in der Schweiz verbracht habe, erinnere ich mich vor allem an ein einziges endloses Warten auf ein paar sonnige Tage, die – kaum waren sie einmal da – schon wieder vorbei waren. Ich kann mich erinnern, dass ich einmal in Basel unter blauem Himmel in einem Strassencafé sass und mal schnell auf die Toilette musste. Als ich zurückkam, waren die Sitzplätze im Freien leergefegt, es war grau und kalt und es goss wie aus Kübeln. Im Sommer, wohlgemerkt. So schnell schlägt das Wetter in diesen Breitengraden um.
In Israel hingegen wundere ich mich immer wieder, dass man im Radio und Fernsehen in den Sommermonaten überhaupt Sendezeit für die Wetterprognose vergeudet. Diese lautet nämlich von ungefähr Mai bis etwa Oktober immer gleich: sonnig und heiss. Manchmal sehr heiss. Ausserordentlich heiss. Aber abgesehen von Temperaturschwankungen von höchstens zwei bis drei Grad gibt es nichts zu berichten. Das einzige, das sich jeden Tag minimal ändert, ist der schwangere Bauch der Moderatorin. Doch während sie immer dicker wird und dann nach einigen Monaten wieder schlank ist, verläuft die Temperaturkurve monatelang unverändert horizontal ohne nach oben oder unten auszuschlagen.
Natürlich freuen sich die Israelis über die ersten Niederschläge, die jedes Jahr mit ziemlicher Sicherheit zum Laubhüttenfest eintreffen: Endlich ist der lange stickigheisse Sommer vorbei, die Temperaturen werden angenehmer, man kann sich im Freien aufhalten, ohne gleich von der Hitze erschlagen zu werden, wenn man nur vor die Türe tritt. Für die Kinder ist der Regen ein aufregendes Abenteuer. Ich kann mich erinnern, als vor einigen Jahren (Jahrzehnten?) meine Drei unbedingt den ersten Wolkenguss draussen erleben wollten. Was für eine Enttäuschung, dass der Spuk schon wieder vorbei war, bis wir für alle drei die Stiefel und Schirme vom letzten Winter hervorgesucht hatten!
Keine Frage, Regen ist ein Segen, aber in Israel bedeutet das auch:
- Die Israelis ziehen die dicken Jacken und die geschlossenen Schuhe aus den Schränken. Dabei lassen sich die Frierenden im Grossen und Ganzen in drei Gruppen unterteilen. Diejenigen, die sich nicht um die Mode kümmern, tragen auch mit 55 noch den olivgrünen dickgefütterten Anorak, den sie im Militärdienst mit 20 Jahren ergattert haben. Die zweite Gruppe fühlt sich mit der Daunenjacke, die sie für das Wochenende in Prag im November 1986 gekauft hat, immer noch sehr modebewusst, trotz Mottenmief. Die meist jüngeren Fashonistas hingegen tragen modische Jacken in allen Farben und Versionen, die aber meistens weder in der Dicke noch in Stil oder Stoff zum Wetter passen.
- Und dann die Schuhe...!
- Die jüngeren Kinder werden frühmorgens warm verpackt in zwei bis drei gefütterten Kleiderschichten und Stiefeln in die Schule geschickt und kommen mittags in kurzärmeligen T-Shirts nach Hause, weil das Thermometer wieder über 25 Grad geklettert ist. Dass die restlichen Kleiderschichten in den langen Schulfluren auf unergründliche Art und Weise verschwinden und auf immer verschollen bleiben, muss wohl kaum erwähnt werden.
- Trotz der warmen Kleidung werden die Kinder beim Erscheinen von mehr als drei grauen Wolken am Himmel von den Eltern in die Schule gefahren, auch wenn diese nur zwei Strassen weiter liegt. Die lieben Kleinen könnten ja nass werden.
- Auf den Strassen herrscht das Chaos. Die Fahrt ins Büro dauert plötzlich 45 anstatt 15 Minuten, weil alle im Schneckentempo dahinschleichen. Die nassen Strassen könnten ja schleuderglatt sein. Ich mag gar nicht daran denken, wie sich israelische Fahrer auf Glatteis verhalten würden.
- In mehreren Städten sorgen hüfttiefe Seen an den Hauptverkehrskreuzungen (an den immer gleichen Stellen!) für den totalen Verkehrszusammenbruch.
- Einige Autofahrer fahren tagsüber mit angeschalteten Nebelscheinwerfern, schliesslich ist jetzt offiziell Winter!
P.S. Der erste Regen ist vorbei, die Strassen trocken, der Himmel blau, das Thermometer zeigte auch heute über Mittag 28 Grad. Die Wettermoderatorin ist schon wieder schwanger. Alles beim Alten.
Samstag, 30. September 2017
Yom Kippur
Am 10. Tag des hebräischen Monats Tischrei, der dieses Jahr auf diesen Samstag fällt, feiern die Juden Yom Kippur, den „Tag der Sühne“, der mit Fasten und Beten begangen wird. Bereits am Vorabend, am 9. Tischrei, kommt alles Leben in Israel zum Stillstand. Niemand arbeitet, der private sowie auch der öffentliche Verkehr liegen lahm. Die streng religiösen Juden benützen keine elektrischen Geräte und zünden kein Licht an. Sobald es dunkel wird (drei Sterne müssen am Himmel sichtbar sein) ergattert jeder rechtzeitig einen sicheren Parkplatz, der Verkehr hält ein und dann findet sich bis am nächsten Abend kein motorisiertes Fahrzeug mehr auf der Strasse. Die Übertragungen im Fernsehen und Radio werden eingestellt. Kinder erobern mit Rädern oder Rollschuhen die autoleeren Fahrwege. Dann trifft man sich in Scharen auf der Strasse und in oder vor der Synagoge. Da man nicht arbeiten soll/darf, nicht kochen, anrichten, wegräumen muss und man nirgendwo hinfahren kann, hat plötzlich jedermann unendlich viel Zeit zum Herumstehen und Plaudern. Die Jugendlichen aller Jahrgänge treffen sich spätabends im Dorfzentrum und verbringen dort die Nacht mit Gesprächen und Gesellschaftsspielen.
Mir ist Yom Kippur der liebste Feiertag von allen. Der jüdische Versöhnungstag hat einen ganz besonders faszinierenden Zauber. Obwohl ich selber säkular bin, färbt die spirituelle Stimmung an diesem Tag, an welchem die Juden ihre Sünden bereuen und um Vergebung bitten, sogar auf mich ab.
Unser Haus ist nicht religiös und unsere Kinder und ihre Freunde wiederspiegeln die religiöse Vielfalt der israelischen Gesellschaft: Lianne, die Sechzehnjährige, ist noch nicht gefestigt und probiert Verschiedenes aus. Während sie sich sonst sehr säkular gibt und über die religiöse Gehirnwäsche an ihrer Schule wettert, unterliegt sie am Versöhnungstag dem gesellschaftlichen Zwang ihrer Freundinnen und fastet. Dabei sind für sie aber nicht etwa 24 Stunden ohne Essen und Trinken die grosse Herausforderung, sondern – unglaublich und sensationell – sie rührt aus freier Wahl ihr Handy 24 Stunden nicht an.
Kaum ist der Feiertag angebrochen, versammeln sich die Kinder, die sich sonst tagelang mit Fernsehen und Handies in ihren Zimmern verschanzen, in der Stube. Lianne und der Gatte spielen Backgammon, ich lese und höre Musik (heute verboten, deshalb „leise“, bittet Lianne, „die Nachbarn hören mit“) und geniesse die TV-lose Zeit mit der Familie. Itay hingegen hält nicht viel vom Fasten, schliesslich ist er Soldat und möchte an seinem Urlaubswochenende Kräfte tanken, denn er muss am Sonntag wieder für 14 Tage einrücken. Er trinkt schon das zweite Bier und isst einen Hamburger mit Fleisch und Käse (erst recht verboten). Dann trudelt Sivan mit zwei Freundinnen ein, von denen die eine die religiösen Gesetze einhält, weswegen ich die Musik ausschalte, während die andere Hunger hat und ebenfalls einen Hamburger bekommt. Aus Rücksicht auf die Freundin isst sie diesen aber in der hintersten Küchenecke. Sivan selbst nimmt die religiöse Diversität ihrer Freundinnen locker und hat sich auch mehr als eine Stunde nach Einbruch des Fastentags noch nicht entschlossen, ob sie heute fasten will. Sie lässt es wohl darauf ankommen, was ihr an Essbarem bis am nächsten Abend angeboten wird.
Als Lianne am Abend aufbricht, um ihre Freunde im Dorfzentrum zu treffen macht sie eine ganz neue Erfahrung: Wie, wann und wo trifft man Freunde, wenn man kein Handy zur Verfügung hat? „Geh einfach und mach dir keine Sorgen“, sage ich zu ihr, „du wirst schon sehen, an Yom Kippur geschehen Wunder“.
Mir ist Yom Kippur der liebste Feiertag von allen. Der jüdische Versöhnungstag hat einen ganz besonders faszinierenden Zauber. Obwohl ich selber säkular bin, färbt die spirituelle Stimmung an diesem Tag, an welchem die Juden ihre Sünden bereuen und um Vergebung bitten, sogar auf mich ab.
Unser Haus ist nicht religiös und unsere Kinder und ihre Freunde wiederspiegeln die religiöse Vielfalt der israelischen Gesellschaft: Lianne, die Sechzehnjährige, ist noch nicht gefestigt und probiert Verschiedenes aus. Während sie sich sonst sehr säkular gibt und über die religiöse Gehirnwäsche an ihrer Schule wettert, unterliegt sie am Versöhnungstag dem gesellschaftlichen Zwang ihrer Freundinnen und fastet. Dabei sind für sie aber nicht etwa 24 Stunden ohne Essen und Trinken die grosse Herausforderung, sondern – unglaublich und sensationell – sie rührt aus freier Wahl ihr Handy 24 Stunden nicht an.
Kaum ist der Feiertag angebrochen, versammeln sich die Kinder, die sich sonst tagelang mit Fernsehen und Handies in ihren Zimmern verschanzen, in der Stube. Lianne und der Gatte spielen Backgammon, ich lese und höre Musik (heute verboten, deshalb „leise“, bittet Lianne, „die Nachbarn hören mit“) und geniesse die TV-lose Zeit mit der Familie. Itay hingegen hält nicht viel vom Fasten, schliesslich ist er Soldat und möchte an seinem Urlaubswochenende Kräfte tanken, denn er muss am Sonntag wieder für 14 Tage einrücken. Er trinkt schon das zweite Bier und isst einen Hamburger mit Fleisch und Käse (erst recht verboten). Dann trudelt Sivan mit zwei Freundinnen ein, von denen die eine die religiösen Gesetze einhält, weswegen ich die Musik ausschalte, während die andere Hunger hat und ebenfalls einen Hamburger bekommt. Aus Rücksicht auf die Freundin isst sie diesen aber in der hintersten Küchenecke. Sivan selbst nimmt die religiöse Diversität ihrer Freundinnen locker und hat sich auch mehr als eine Stunde nach Einbruch des Fastentags noch nicht entschlossen, ob sie heute fasten will. Sie lässt es wohl darauf ankommen, was ihr an Essbarem bis am nächsten Abend angeboten wird.
Als Lianne am Abend aufbricht, um ihre Freunde im Dorfzentrum zu treffen macht sie eine ganz neue Erfahrung: Wie, wann und wo trifft man Freunde, wenn man kein Handy zur Verfügung hat? „Geh einfach und mach dir keine Sorgen“, sage ich zu ihr, „du wirst schon sehen, an Yom Kippur geschehen Wunder“.
Freitag, 22. September 2017
Strandlilien

Sonntag, 17. September 2017
Soldatenwäsche
Wochenende. Ausruhen. Pause machen. Getriebe herunterfahren. Entschleunigen. Ein bisschen aufräumen, ein bisschen kochen. Zu Hause sein. Auf dem Sofa liegen. Lesen. Musik hören. Zeit für Gespräche. Aufatmen. Energie tanken. Die Mädchen sind irgendwo. Itay der Soldat hat keinen Urlaub.
Es ist Freitagnachmittag, Eyal und ich hängen auf den Sofas herum. Ruhe im Haus. Eyal versucht beim Zeitung lesen die Augen offen zu halten, ich lese ein Buch.
„Vielleicht gehen wir ein bisschen ans Meer?“ schlägt Eyal vor.
„Ja, gute Idee“, sage ich „Oder mit den Mädchen ins Kino“.
„Wir könnten Freunde zum Nachtessen einladen. Einige haben wir schon lange nicht mehr getroffen.“ sinniert Eyal.
Ja, wir sollten irgendetwas tun, ständig sitzen wir nur hier herum. Sogar die Yoga-Stunde heute morgen habe ich geschwänzt.
„Komm, fahren wir nach Tel-Aviv, zum alten Hafen“, spintisiert Eyal weiter und wird in seiner Fantasie immer übermütiger, aber nur solange er sich nicht vom Sofa erheben muss.
Lauter gute Ideen. Aber man müsste aufstehen. Etwas Anständiges anziehen. Draussen brütet die Sonne bei 30 Grad. Hier drin, mit Klimaanlage, ist es hingegen sehr angenehm. Ich lese weiter. Nur noch 50 Seiten von den 600, dann habe ich das Buch geschafft. Eyal fallen die Augen zu, er schlummert ein, sein Ideenarsenal hat sich wohl erschöpft.
Das Telefon klingelt. Endlich meldet sich Itay, zu dem wir wie immer die ganze Woche keinen Kontakt gehabt haben. Er hat nur eine Stunde frei, bis 18 Uhr.
Eyal und ich springen wie von Wespen gestochen von den Sofas. Kaum sind fünf Minuten vergangen und schon sitzen wir angezogen, frisch und munter im Wagen, unterwegs zu der Basis. Soldatenwäsche abholen, die wir morgen wieder sauber zurückbringen werden! Auch eine Tätigkeit.
Es ist Freitagnachmittag, Eyal und ich hängen auf den Sofas herum. Ruhe im Haus. Eyal versucht beim Zeitung lesen die Augen offen zu halten, ich lese ein Buch.
„Vielleicht gehen wir ein bisschen ans Meer?“ schlägt Eyal vor.
„Ja, gute Idee“, sage ich „Oder mit den Mädchen ins Kino“.
„Wir könnten Freunde zum Nachtessen einladen. Einige haben wir schon lange nicht mehr getroffen.“ sinniert Eyal.
Ja, wir sollten irgendetwas tun, ständig sitzen wir nur hier herum. Sogar die Yoga-Stunde heute morgen habe ich geschwänzt.
„Komm, fahren wir nach Tel-Aviv, zum alten Hafen“, spintisiert Eyal weiter und wird in seiner Fantasie immer übermütiger, aber nur solange er sich nicht vom Sofa erheben muss.
Lauter gute Ideen. Aber man müsste aufstehen. Etwas Anständiges anziehen. Draussen brütet die Sonne bei 30 Grad. Hier drin, mit Klimaanlage, ist es hingegen sehr angenehm. Ich lese weiter. Nur noch 50 Seiten von den 600, dann habe ich das Buch geschafft. Eyal fallen die Augen zu, er schlummert ein, sein Ideenarsenal hat sich wohl erschöpft.
Das Telefon klingelt. Endlich meldet sich Itay, zu dem wir wie immer die ganze Woche keinen Kontakt gehabt haben. Er hat nur eine Stunde frei, bis 18 Uhr.
Eyal und ich springen wie von Wespen gestochen von den Sofas. Kaum sind fünf Minuten vergangen und schon sitzen wir angezogen, frisch und munter im Wagen, unterwegs zu der Basis. Soldatenwäsche abholen, die wir morgen wieder sauber zurückbringen werden! Auch eine Tätigkeit.
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