Wenn sie, liebe Leserin oder lieber Leser, bei mir zu Hause zu ersticken drohen, vom oberen in den unteren Stock stürzen, sich eine Hand abhacken, einen anaphylaktischen Schock oder einen Herzinfarkt erleiden, stehen die Chancen gut, zu überleben und umgehend vor Ort medizinisch richtig behandelt zu werden. Es gibt nämlich dreieinhalb gut ausgebildete Notfallsanitäter in meiner Familie.
Eyal absolvierte seinen vierjährigen Militärdienst vor vierzig Jahren als Ausbilder von Sanitätern. Nach dem Dienst leistete er viele Jahre Freiwilligenarbeit beim Magen David Adom (MDA, die israelische Organisation für medizinische Notfälle) und festigte so seine Erfahrung. Nicht immer waren diese Einsätze sehr dramatisch, ich kann mich jedoch noch gut erinnern, wie er einmal sehr aufgewühlt erzählte, sein Rettungsteam hätte ein Kleinkind vor dem Erstickungstod retten können.
Lianne ist das einzige unserer Kinder, welches die Familientradition, als Sanitäter/in in der IDF zu dienen, nicht weiterführen konnte. Obwohl sie schon vor dem Militärdienst einen Nothelferkurs für Jugendliche abgeschlossen hatte und auch schon etwas Freiwilligenarbeit als Nothelferin leistete, gab es zur Zeit ihrer Ausmusterung in der Armee einen wahren Ansturm auf die Rolle der Sanitäter. Daran war unter anderem die israelische Fernsehserie "Tagad" Schuld, welche in drei Staffeln die Handlungen der Militär-Notfallmediziner idealisierte und sehr populär machte. Lianne wurde also nicht Sanitäterin, wie sie es sich aus tiefster Seele gewünscht hätte, sondern, zu ihrer bodenlosen Enttäuschung, Späherin in der Marine. Eine Aufgabe, die, wie sie fand, weder ihren Fähigkeiten noch ihrem Charakter entsprach. Aber das Militär ist kein Wunschkonzert (ausser man hat sehr gute Beziehungen) und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Im zweiten Jahr ihres Dienstes versuchte sie, einer anderen Aufgabe zugeteilt zu werden, doch in diesem schwerfälligen System irgendetwas voranzutreiben, ist mühsam und dornenreich und oft gar unmöglich. Sie brachte ihre zwei Jahre zu Ende, jedoch mit einem sehr bitteren Nachgeschmack.
Itay diente drei Jahre als Soldat in einer Kampfeinheit, in welcher er nach entsprechender Ausbildung die Funktion des Sanitäters übernahm. Auch Itay verrichtete nach der Militärpflicht Freiwilligendienst im MDA. Die Einsätze waren vor allem Spitaltransporte auf Abruf und erste Hilfe für Drogensüchtige, Obdachlose oder andere soziale Randfiguren. Von diesen Einsätzen berichtete er oft Schockierendes.
In aktivem Krieg kam Itay nur knapp eine Woche zum Einsatz, bevor er freigestellt wurde. Einer seiner spektakulärsten Notfalleinsätze, in zivilem Rahmen, war die nächtliche Rettung eines jungen Betrunkenen aus dem See in Zürich.
Sivan, unsere Älteste, diente, wie ihr Vater, als Ausbilderin von Sanitätern. Dieser Job ist hoch spannend, herausfordernd und belohnend. Die Ausbilder erlangen in intensiven Kursen fast ein Jahr lang fundiertes Wissen. Sie müssen fähig sein, grössere Gruppen von Auszubildenden zu leiten. Dabei sind diese Auszubildenden nicht etwa eingeschüchterte Erstklässler, sondern oft ziemlich freche junge Kampfsoldaten, die die Grenzen ausloten und sich nicht so leicht etwas sagen lassen. Man muss als Ausbilderin durchsetzungsfähig sein, die Gruppe begeistern können, über Talent in Gruppendynamik verfügen und natürlich die Thematik beherrschen. Sivan blühte in dieser Aufgabe vollkommen auf. Sie hatte eine fantastische Zeit, kam oft an ihre Grenzen, fühlte aber eine grosse persönliche Genugtuung. Etwa 70 Soldaten und Soldatinnen sind von ihr während ihrem Pflichtdienst insgesamt zu Sanitätern ausgebildet worden und alle bewundern sie bis heute.
Sivan beherrscht die Notfallmedizin – in der Theorie – vorwärts und rückwärts. Im wirklichen Leben wurde ihr Wissen aber nur für einige Bagatellfälle in Anspruch genommen. Die Ausbildung in der IDF ist jedoch in höchstem Masse praxisbezogen. Ich habe die Ausbildungsräume, in welchen die Lärmkulisse, Lichtverhältnisse und sogar der Geruch der möglichen Szenarien simuliert werden, besuchen dürfen und war überwältigt, wie viel Aufwand in realitätsbezogene Ausbildung gesteckt wird. So kann man sich darauf verlassen, dass die Sanitäter auch in wirklichen Horrorsituationen nicht die Nerven verlieren.
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Sivan (links, mit Schirmmütze) bei einer Übung |
Im Oktober 2023 explodierte aufgrund einer Munitionsfehlfunktion auf einem Boot der Marine an der Grenze zum Libanon eine Granate in den Händen der Kampfsoldatin Kamay und Itays Freund Alon. Die erst neunzehnjährige Soldatin wurde getötet, Alon lebensgefährlich und weitere sieben Soldaten leicht verletzt. Der anwesende, knapp zwanzigjährige Sanitäter, der seinen Kurs erst vor Kurzem abgeschlossen hatte, reagierte hervorragend. In diesem völligen Chaos behielt er die Übersicht und erkannte, wer am dringendsten behandelt werden musste. Er unternahm lebensnotwendige medizinische Versorgungen, legte Alon an den vier schwerst verletzten Extremitäten in kürzester Zeit Stauschläuche an und rettete ihn so vor dem sicheren Verbluten. Alon und sein Lebensretter haben heute eine besondere und sehr enge Beziehung.
Sivan wurde nach der grossen Mobilmachung, die dem 7. Oktober-Massaker folgte, eingezogen. Sie diente vier Monate in Reserve, um die Ausbildung der aufgebotenen Reservesanitäter auf Vordermann zu bringen. Unter anderem bildet sie im Rahmen ihrer Aufgabe auch Ärzte aus, die natürlich medizinisches Wissen mitbringen, nicht aber unbedingt in Notfallmedizin bewandert sind.
Ja, ich bin stolz auf meine Familienmitglieder und ihre herausragenden Leistungen, gerade auf diesem Gebiet der Sorge und Hilfe für Mitmenschen. Und ich finde, sie dürfen stolz auf ihre Errungenschaften sein.
Noch wünschenswerter wäre es, wenn sie diese Leistungen nicht bewaffnet und im Rahmen einer Armee vollbringen müssten, sondern friedlich in verschiedenen zivilen Rahmen das Beste aus sich herausholen könnten. Leider lassen das aber die nicht abbrechenden kriegerischen Bedrohungen durch die vielen Feinde Israels nicht zu.
Und so hat Sivan auch schon ihren nächsten Notabruf-Einsatzbefehl erhalten. Kommende Woche geht es ab in den Norden.