Mittwoch, 15. Mai 2024

Siamesische Zwillinge

Der Gedenktag für die gefallenen Soldaten und die Opfer von Terrorismus (Yom Hazikaron) und der Unabhängigkeitstag (Yom Haatzmaut) sind in Israel unweigerlich miteinander verbunden. Wie siamesische Zwillinge sind die zwei Tage, die wir diese Woche begangen und gefeiert haben, miteinander verwachsen: Eigentlich zwei separate Einheiten, doch schicksalshaft miteinander verkuppelt und nichtig, wären sie allein stehend. Ohne die gefallenen Soldaten gäbe es leider keinen israelischen Staat. Der israelische Staat wird wohl für immer mit Opfern von Terror verbunden sein. Der Unabhängigkeitstag wird erst gefeiert, nachdem die Bürger Israels vierundzwanzig Stunden lang der tiefsten Trauer ins Antlitz geblickt und die Gefallenen und die Opfer geehrt haben, die die Existenz des Staates überhaupt ermöglichen.

Beide Tage dauern von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang. Um 20 Uhr des Vorabends steht alles still. Zu Beginn tönen eine Minute lang nur die Sirenen in einem markdurchdringenden Dauerton. Menschen halten inne, Autos bleiben stehen, Maschinen werden abgeschaltet. Der Gedenktag, Yom HaZikaron beginnt, die Israelis beweinen ihre Toten. In unserem relativ kleinen Dorf mit knapp 7500 Einwohnern wird der Gedenktag mit einem feierlichen Anlass im offenen Amphitheater eröffnet. Die Fahne Israels wird auf Halbmast gesetzt, die Stimmung ist gedämpft und ernst, zwischen den Vorträgen wird kein Applaus geklatscht. Zu den vierzehn in früheren Attentaten und den Kriegen Israels Gefallenen reihen sich dieses Jahr in unserem Dorf vier Opfer des Hamas-Gemetzels vom 7. Oktober. Vier junge Menschen, zwischen 26 und 28 Jahre alt, die das Nova-Musikfestival besuchten, zwei von ihnen sind ehemalige Klassenkameraden meiner Kinder. Jedes der achtzehn Opfer ist mit einem grossen Bild vertreten, die Namen werden verlesen und für jedes wird ein Kranz niedergelegt. Die Schwester der ermordeten Nitzan trägt auf der Bühne ein Lied vor. Viele der zahlreichen Anwesenden, die aufmerksam den offiziellen Ansprachen, den traurigen Liedern und den Gebeten lauschen, sind uns bekannt, wir haben in diesem Dorf in den vergangenen zwanzig Jahren unsere Kinder gemeinsam grossgezogen. Alt und Jung sitzen auf den Stühlen oder im Gras, lauschen andächtig und wischen sich die Tränen weg. Diese Erinnerungskultur gehört hier schon vom Kindesalter selbstverständlich dazu und ich finde die moralischen Werte, die an diesem Tag zum Ausdruck kommen, in höchstem Grad eindrucksvoll und bewundernswert.

Am darauffolgenden Morgen finden auf allen Friedhöfen des Landes Gedenkfeiern statt und Abertausende begleiten die Angehörigen der Opfer in diesen schweren Stunden. Auch wir finden uns auf dem kleinen Friedhof unseres Dorfes ein. Es wird gebetet, Kränze werden niedergelegt. Der Vater von Nitzan spricht, stellvertretend für die Familien der Opfer und Gefallenen, mit gebrochener Stimme das Yizkor (Erinnerungs-) Gebet.

Nach dem Anlass treffe ich zum ersten Mal seit seiner Verletzung auf Alon. Obwohl Alon im Mittelpunkt des Lebens meiner Familie steht, bei einigen von uns nur in Gedanken, bei anderen im täglichen Leben, habe ich mich auf dieser Plattform nur selten über sein Schicksal geäussert (ausser kurz hier und hier). Ich weiss nicht, ob ich je mehr Worte dafür finden werde. Erst seit einigen Wochen kann Alon das Rehazentrum ab und zu verlassen und die Wochenenden wieder mit seiner Familie in ihrem Haus hier im Dorf verbringen. Den Friedhof besucht Alon im Rollstuhl, denn mit der Prothese gehen zu lernen ist ein langwieriges Unterfangen. Wie immer ist Alon von mindestens zwei seiner besten Freunde begleitet, sie haben ihn zum Friedhof gebracht, sie karren den Rollstuhl um die Gräber herum und stützen Alon beim Singen der Hatikva, der israelischen Nationalhymne, denn er lässt es sich nicht nehmen, auf einem Bein stehend seinem Land die Ehre zu erbringen. Nach der Feier gehen wir zu ihm, er winkt uns mit seinem rechten Armstumpf zu, als wäre noch eine Hand dran, wir begrüssen und umarmen ihn. Ich sage ihm, dass ich froh bin, dass er hier ist. Man weiss nicht, was man sagen soll, niemand findet Worte. Auch meine Töchter umarmen ihn und können dabei ihre Tränen nicht zurückhalten. Es ist bestimmt äusserst verdriesslich für Alon, auf seine Mitmenschen und seine Bekannten so schockierend zu wirken, aber das wird nun Teil seines langwierigen und sehr komplexen Heilungsprozesses sein. Auch für mich, für uns alle, ist es ein schwieriger Weg. 
Gerade heute startet auch die Werbekampagne, die Alon mit einer namhaften israelischen Bekleidungsfirma ins Leben gerufen hat, um das Bewusstsein für Menschen wie ihn in der Bevölkerung zu verstärken. Er und weitere Amputierte präsentieren in Zusammenarbeit mit einigen der bekanntesten israelischen Models die Mode des Labels und sie werden bald im Netz und auf allen Werbetafeln des Landes in der Öffentlichkeit zu sehen sein. Ich weiss, dass dieses Sich-Entblössen Alon alles andere als leicht fällt. Ich persönlich bin mir über meine eigenen Gefühle noch nicht im Klaren und ich versuche seit unserem Treffen am Morgen vor allem die Kraft zu finden, mich mit all diesen tief greifenden Änderungen überhaupt auseinanderzusetzen.

Nach der Zeremonie auf dem Friedhof besuchen wir die Familie von Nitzan. Sivan und Lianne verbringen den Rest des traurigen Tages dort, mit vielen weiteren Besuchern.



Erst nach diesen zutiefst traurigen und schwer ertragbaren Stunden geht der Tag am Abend in die Feierlichkeiten des Unabhängigkeitstages über. Wir rappeln uns auf, um das Entstehen und die Existenz des Staates Israel zu feiern. Sivan stellt uns vor die Tatsache, dass sie für den Abend ihre Freunde zu uns zum Barbecue eingeladen hat. Deshalb unternehmen wir kurzfristig einen Wohnungstausch: Wir bekommen für eine Nacht eine Wohnung im Herzen Tel-Avivs, sie bekommt unser Haus mit Garten und Grill.

Nach einer Nacht im fremden Bett brechen Eyal und ich früh am Morgen wieder auf, in der Hoffnung, dass unser Haus von den jungen Leuten nicht abgefackelt worden ist. Nach einem schnellen Kaffee am Dizengoff-Square setzten wir uns ins Auto, denn auch wir erwarten am Mittag Gäste zum obligaten Barbecue. Doch, schlechtes Timing: kaum haben wir den Parkplatz verlassen, versperrt uns das Reinigungsmobil der Stadt Tel-Aviv die Weiterfahrt in der engen einspurigen Strasse. Wir manövrieren unser Auto wieder in die Einfahrt eines Hauses, um das Fahrzeug vorbeizulassen. Immer zu einem Spass bereit, bedeutet Eyal dem Reinigungsmann, der das Putzfahrzeug mit dem angeschlossenen Hochdruckwasserspritzer zu Fuss begleitet, doch auch noch gleich unser Auto zu säubern. Das macht der putzfreudige Mann offensichtlich gerne, er verpasst uns spontan und gratis eine intensive Rundum-Hochdruckreinigung, auf Kosten der Tel-Aviver Stadtverwaltung. Wir verabschieden uns lachend und dankend und machen uns mit blankgeputztem Auto in der noch nassen Strasse auf nach Hause. Was für eine Stadt! Was für ein wunderbares Land! In den nächsten Stunden werden wir die Unabhängigkeit Israels feiern, sofern das in Anbetracht der Ereignisse der letzten Monate möglich ist.

Mir wird an diesen zwei Tagen mehr denn je bewusst, wie kultiviert, wertvoll und von Herzen gut die Menschen dieses Landes sind und ich bin stolz, ein Teil dieses Volkes sein zu dürfen.



Das Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen (OCHA) hat die Zahl der getöteten Frauen und Kinder während des seit dem 7. Oktober 2023 andauernden Krieges zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen um fast die Hälfte reduziert (Hamas manipuliert Zahl der Kriegstoten). Es mag makaber tönen, aber ich glaube nicht, dass da überhaupt jemand zählt. Wer in den Videos vom 7. Oktober gesehen hat, wie die Hamas-Terroristen den Opfern auf ihrer eigenen Seite einfach die Waffen abnehmen, über sie hinwegsteigen und sie schwerstverletzt oder tot im Feld liegen lassen, versteht, mit Kreaturen welcher Art wir zu tun haben.

Jedes unschuldige Opfer ist eines zu viel, aber die krass schwankenden Opferzahlen machen vor allem einmal mehr klar, dass alles, was die Hamas in die Öffentlichkeit posaunt, erlogene Propaganda ist. Mögen die Menschen in Europa glauben, was sie wollen: Siedler-, Zionisten-, Landraub- und Genozid-Gefasel. Ich weiss aus tiefster Überzeugung, dass keiner der 30,134 Israelis, deren wir uns an diesem Gedenktag erinnern und keines der Opfer unserer Kriegsgegner gefallen wäre, wenn es an den Israelis läge.


4 Kommentare:

Schreibschaukel hat gesagt…

Du verstehst es wie immer so gut, deine Gefühle den Lesern nahe zu bringen! Ich wäre an diesen beiden Tage auch gerne in Israel gewesen. Unser Herz war es aber.

Yael Levy hat gesagt…

Danke liebe Schreibschaukel. Mit allem Leid, es ist wirklich etwas besonderes, das Land, das Dabeisein.

Anonym hat gesagt…

Danke für diesen berührenden Text.
Er könnte sehr dazu beitragen, die Leute in Deutschland zu einer besseren Einsicht über das Leid und über die moralische Stärke und Substanz der Israelis zu bringen. Ich werde ihn weitergeben - an Freunde und Familie und auch als Link in meinem Blog.
Aus persönlichen Gründen habe ich mich vor 2 oder 3 Jahren aus facebook zurückgezogen, da würde man vermutlich eine größere Reichweite haben als bei "himmel und erde". Aber vielleicht findet sich ja ein Weg.
Alles erdenkliche Gute wünscht Rika

Yael Levy hat gesagt…

Danke für's Weiterleiten liebe Rika! Was die Einsicht der Menschen im deutschsprachigen Raum anbetrifft, bin ich ziemlich desillusioniert. Ich schreibe trotzdem weiter...