Samstag, 30. März 2024

Wenn die Gedanken woanders sind

Ich weiss nicht so recht, warum ich mir das antue, aber ich befinde mich schon wieder im Paralleluniversum Schweiz. Vielleicht ist es ein Versuch zu flüchten, obwohl ich es doch unterdessen besser wissen sollte.

Auch am Ende des vierten Tages bin ich zwar da, aber noch nicht angekommen. Ich kann einfach nicht aufhören, über diese komplett entgegengesetzte Realität zu staunen. Mir scheint, ich wandle in einer bizarren Fiktion. Wie unbekümmert und arglos die Menschen leben, während anderswo die Welt zusammenbricht. Wie friedlich, während sich anderswo alles nur noch um Terror, Trauer und Trauma dreht. 

Die Schweiz erscheint mir ein Wunderland, Disneyland, ein Märchenland. Diese unerträgliche Leichtigkeit, ich kann es nicht fassen. Die Schweiz ist ein Honigtöpfchen. Israel zurzeit ein Eimer brodelnder Scheiße.

Heute unternehmen wir eine wunderbare Wanderung. Die Augen – staunen über das Grün, die Hügel, die blühenden Bäume, die grasenden Kühe und die Berge am Horizont. Die Gedanken – sind bei den Ermordeten, den Verletzten und bei den Geiseln. Schritt auf Tritt denke ich an Daniela Gilboa, die in diesen Tagen 20 Jahre alt geworden ist. 

Daniela Gilboa wurde am 7. Oktober von palästinensischen Terroristen nach Gaza entführt und wird dort seither festgehalten.
Am 27. M
ärz war ihr 20. Geburtstag. Niemand weiss, wie es ihr geht
 


Es ist eine tolle Wanderung, aber ich kann es nicht genießen. Wie könnte ich? Bitte kommen Sie mit mir auf die Reise.

Liebe Leser, denken Sie sich die Namen der besten Schulkameraden ihrer Kinder aus. Wirklich gute Freunde, die bei Ihnen zu Hause ein und aus gegangen sind. Denken Sie an die Freunde und nennen Sie einige Namen. Vielleicht Luca, Joel und Noah? Laura, Julia und Melanie?

Jetzt stellen Sie sich vor, dass einige dieser Freunde von Terroristen verfolgt worden sind, als sie an einer Party feierten und tanzten. Einer von ihnen ist mit einer Schusswunde davongekommen. Ein anderer wird als Geisel von denselben Terroristen festgehalten, schon ein halbes Jahr, ohne ein Lebenszeichen. Denken Sie an das Mädchen in der Strasse hinter Ihrem Haus, das sich an der Fasnacht vor einigen Jahren gemeinsam mit Ihrer Tochter als Barbie verkleidet hat. Auch sie ist an der Party von den Terroristen gejagt und auf schrecklichste Weise ermordet worden.

Stellen Sie sich vor, dass Ihre Tochter an der Beerdigung der ermordeten Freundin teilnimmt und die gesamte Trauergemeinde sich mit dem Sarg zu Boden werfen muss, um während dem Raketenalarm Schutz zu suchen.

Wie heisst der beste Freund ihres Kindes? Nennen Sie seinen Namen. Stellen Sie sich vor, dass er im Militär-Reservedienst eine Hand, einen Arm und ein Bein verloren hat. Jeden Tag denken Sie daran, wie Sie ihm begegnen und wie Sie die Fassung bewahren sollen, wenn Sie ihn wiedersehen werden.

Bestimmt ist ihre Vorstellungskraft jetzt schon arg strapaziert, aber es geht noch weiter.

Stellen Sie sich vor, dass 240 Kinder, Mütter, Väter und Freunde ihrer Bekannten, ihrer Nachbarn, ihrer Mitarbeiter, unter katastrophalen, jegliches Menschenrecht verachtenden Umständen von Terroristen verschleppt worden sind und teilweise verletzt und aufs schwerste misshandelt in Geiselhaft gehalten wurden. 130 davon immer noch gehalten werden. Ohne ein Lebenszeichen, bald ein halbes Jahr.

Haben Sie einen Vater? Stellen Sie sich ihren Vater mit 87 Jahren vor. Seit einem halben Jahr in Geiselhaft von Terroristen.

Denken Sie an weitere Bekannte, die mit Ihren Kindern die Schulbank gedrückt, nachmittags Fussball gespielt, Partys und Geburtstage gefeiert haben. Stellen Sie sich vor, dass diese nun in der Armee gegen diese Terroristen kämpfen und im Inferno ihr Leben riskieren. Jeden Tag können ihre Namen in den Nachrichten erscheinen, unter den täglichen Gefallenen. Wenn sie wieder einige Wochen dem grausamen russischen Roulette entkommen sind, treffen sie sich am Urlaubswochenende mit Ihren Kindern bei Ihnen in der Stube. Dann rücken sie wieder ein.

Und jetzt nur noch etwas Kleines, aber auch nicht zu Verachtendes: Stellen Sie sich vor, dass die ganze Welt über Sie herzieht, weil fast jeder Durchschnittseuropäer und -Amerikaner ganz genau und auf jeden Fall besser als Sie weiß, wie Sie sich zu verhalten und was Sie jetzt zu tun haben.

Und jetzt genießen Sie die Wanderung.





3 Kommentare:

Schreibschaukel hat gesagt…

Das Bild dieses Mädchens hat sich mir auch eingebrannt und oft, wenn ich nachts aufwache, schweifen meine Gedanken zu ihr und den anderen Geiseln. Wie geht es ihnen - während ich in meinem warmen Bett liege?
Und - wie kann die Welt vergessen und wegsehen?

Imas Tochter hat gesagt…

Was dir bleibt ist der nächste Schritt - mal durch Honig, mal durch Schaise. Und dann wieder einer. Das Leben erhalten. Aber was sage ich privilegierte Schweizerin, die wir alles haben und alleine wegen der Vorstellung weinen. Sei geschützt liebste Wanderin. Meine Gedanken sind bei euch, Tag und Nacht.

Yael Levy hat gesagt…

Danke für die Anteilnahme! Ja wir gehen weiter, Schritt für Schritt, es gibt keine andere Möglichkeit.