Mittwoch, 9. Juli 2025

Vorfreude mit Schatten

Auf diesem neu veröffentlichten Foto ist der 12-jährige Yagil Yaakov in Unterwäsche zu sehen, brutal von Terroristen misshandelt, unmittelbar nach seiner Entführung aus dem Haus der Familie im Kibbuz Nir Oz am 7. Oktober 2023. 
Sein Vater Yair war gerade ermordet worden, seine Leiche wurde nach Gaza verschleppt. 
Yagil musste 52 schreckliche Tage in Gefangenschaft ertragen, bevor er schliesslich im Rahmen eines Geiselaustauschs freikam. 
Der Leichnam seines Vaters Yair wurde erst vor wenigen Wochen gefunden und nach Israel zuruckgebracht.





Meine Sommerferien in der Schweiz rücken näher! Noch zwei Wochen! Ich freue mich, zähle die Tage. Ich sehne mich danach, meine Familie wiederzusehen, durch Schweizer Städte zu bummeln, zu Wandern – und vor allem: endlich für einige Tage die Last der Gedanken ablegen zu können, die sich in Israel rund um die Uhr um die elende Sicherheitslage drehen. Natürlich wird der Krieg in Israel nicht innehalten, nur weil ich nicht vor Ort bin. Doch die Leichtigkeit der Schweiz ist ansteckend. Nach einigen Tagen gelingt es mir meist, abzuschalten und einfach die Schweizer "Normalität" zu geniessen.

Leider überschattet ein nagendes Unbehagen meine Vorfreude. Ich weiss, dass ich in Europa etwas begegnen werde, das mir Angst macht. Pro-Palästina-Demos und steigender Antisemitismus sind das eine, von ihnen werde ich mich hoffentlich fernhalten können. Doch das ist nur die Oberfläche. Das eigentliche Problem sitzt tiefer. Es sind die harmlos klingenden Floskeln, die mich fassungslos machen.

"Ach, weisst du, Politik interessiert mich nicht. Ich verstehe diese ganzen Kriege wirklich nicht, der Nahost-Konflikt ist ja auch sooo komplex."

Fast immer stecken dahinter weiterführende Gedanken:

Der Konflikt ist komplex –
  • aber was sollen die Palästinenser tun, wenn ihnen immer mehr Land weggenommen wird?
  • die Hamas mögen Terroristen sein, aber die jüdischen Siedler sind auch militant.
  • aber der Krieg dort unten dauert schon Jahrzehnte. Die Gewaltspirale muss endlich durchbrochen und es müssen Verhandlungen auf Augenhöhe geführt werden.
  • aber der 7. Oktober ist jetzt 21 Monate her, das muss doch mal ein Ende haben.
  • aber Vierzigtausend ermordete palästinensische Kinder — ist das wirklich noch verhältnismässig?
  • aber man muss doch wohl Israel kritisieren dürfen, ohne gleich Antisemit zu sein.
  • aber hätten ausgerechnet die Juden nicht aus der Vergangenheit lernen sollen?

Meist hüten sich die höflichen Schweizer, mir gegenüber so etwas auszusprechen. Und wenn sie es manchmal doch tun – was kann man solchen Plattitüden entgegnen? Sie zeugen von totalem Unverständnis und Gehirnwäsche.

Ich weiss, wie die relativierenden Gedanken und ihre Steigerungsform, der Israelhass, zustande kommen: Jeder Schweizer Bürger bekommt seit Jahren ein feines stetiges Tröpfchen Anti-Israel-Propaganda verabreicht. Es reicht, hin und wieder eine Zeitung aufzuschlagen oder beim Autofahren das Radio oder zu Hause den Fernseher laufen zu lassen. Seit dem 7. Oktober 2023 ist die Tröpfchen-Dosis noch beachtlich aufgedreht worden. Für Involvierte ist die offensichtliche Desinformation empörend, doch auf alle Anderen wirkt die Meinungsmache unaufhaltsam. Sie schafft einen moralischen Nebel, in dem Täter und Opfer, Angreifer und Verteidiger unkenntlich werden.

Aber ich lebe in diesem Land, das im Mittelpunkt aller Newsticker steht. Ich lebe in diesem Land, das im Nahen Osten seit Jahrzehnten um sein Überleben ringt und sich dabei noch rechtfertigen muss. Ich höre die Sirenen, ich lese täglich die Namen der Toten, ich kenne unzählige Menschen, deren Leben in Trümmern liegt. Ich weiss ein oder zwei Dinge über die Hintergründe. Und mir bangt und graut davor, wie die Realität in Europa ignoriert, verdreht, nicht verstanden oder nicht geglaubt wird.

Die Ausmasse der gegenwärtigen Anti-Israel-Propaganda lassen sich mit der antisemitischen Hetze im dritten Reich durchaus vergleichen. Wir sind (noch) nicht so weit, dass Juden wieder versteckt werden müssen – doch wir sind so weit, dass sich Juden in Europa nicht mehr sicher fühlen. Genauso wie die Menschen damals irgendwann glaubten, Juden seien "Ungeziefer", glauben viele heute, Israel sei an allem Übel im Nahen Osten schuld, oder bedienen das nicht weniger schlimme "Beide-Seiten"-Narrativ.
Es braucht nur ein tägliches, kaum merkliches Tröpfchen Propaganda – damals wie heute.

Übertreibe ich? Ich glaube nicht. Mein Leben in Israel, der Krieg, die ständige Bedrohung, all das beschäftigt mich Tag und Nacht. Ich kann nicht behaupten, dass ich dafür kein Verständnis bekomme, doch ich verzichte gerne auf das Mitgefühl, wenn mein Volk – und damit ich – im gleichen Atemzug mit völkermörderischen Milizen und Terroristen in einen Topf geworfen wird. Neutralität mag schön und gut sein, ist aber oft nur ein Deckmantel für Gleichgültigkeit und Ignoranz.

Doch damals wie heute gibt es in dieser Zeit des moralischen Zusammenbruchs eine kleine Minderheit, die unbeirrt weiss, was richtig ist. Einige wenige, die verstehen, dass Israel dieselben freiheitlichen und demokratischen Ideale verkörpert, die auch ihre eigene Gesellschaft tragen. Menschen, die sich mit Israel solidarisch fühlen, weil sie wissen, dass Israel für den Westen den Krieg gegen die Barbarei ausfechtet. Die wissen, dass uns freiheitliche Werte nicht in den Schoss fallen, sondern dass sie seit Jahrhunderten erkämpft worden sind und dass man weiterhin für sie einstehen muss. Menschen, die die Geschichte gut genug kennen, um zu wissen, dass das Judentum die Wurzel des Christentums ist – und dass ein Baum ohne Wurzeln nicht bestehen kann.

Kann ich es jemandem zum Vorwurf machen, nicht zu wissen, worum es geht? Wie bewahrt man sich eine eigene, unabhängige Sicht trotz Manipulation?
Es sind nur wenige, die sich nicht beirren lassen. Unter meinen Bekannten in Europa kann ich sie an einer Hand abzählen. Woher nehmen sie ihre Überzeugung? Was ist anders an ihrem moralischen Leitsatz im Vergleich zu dem der Relativierer und der Mitläufer? Ich weiss es ehrlich gesagt nicht.

Und was ist mit mir? Lebte ich in der Schweiz, zu welcher Seite würde ich gehören?

 

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Hier sind zwei Artikel zum Thema "Nahost", die aufschlussreiche Einsichten vermitteln. Sie sind beide schon etwas älter, aber immer noch sehr aktuell.






Montag, 30. Juni 2025

Ein wunderbarer Montag!





Liebe Leserinnen und Leser,

Hatten Sie heute Morgen das Verlangen, Ihren Wecker an die Wand zu schleudern? Haben Sie sich beim Gedanken an die beginnende Arbeitswoche die Decke über den Kopf gezogen? Schien Ihnen die kommende Woche aus der Perspektive des Montagmorgens wie ein unüberwindbarer Berg? Konnten Sie sich kaum aufraffen, überhaupt zur Arbeit aufzubrechen? Fühlten Sie sich erdrückt von der Last der wartenden Aufgaben und Projekte? Hatten Sie einen waschechten Montagmorgen-Blues?

Dann habe ich einen kleinen Geheimtipp für Sie:

Stellen Sie sich vor, Sie wären zwei Wochen lang – aufgrund von Zivilschutzvorschriften – ans Haus gefesselt gewesen. Sie dürften weder ins Büro noch irgendwo sonst hingehen oder fahren. Stellen Sie sich vor, Sie hätten all Ihre erwachsenen Kinder, deren Partner, vielleicht auch Enkelkinder und weitere Angehörige bei sich beherbergen müssen. Tag und Nacht. Zwei volle Wochen.

Denken Sie sich, dass Sie rund um die Uhr am Aufräumen, Waschen und Putzen wären, während Sie gleichzeitig im Homeoffice arbeiten müssten, stets mit dem Bemühen, den Eindruck völliger Normalität zu wahren. Stellen Sie sich vor, in jeder Ecke ihres Hauses sässe jemand mit Laptop, auf der verzweifelten Suche nach Ruhe und Konzentration.

Stellen Sie sich vor, Sie müssten jeden Tag eine reichhaltige Mahlzeit für fünf bis zwanzig Personen auf den Tisch zaubern –, ohne dass Ihr Vorgesetzter merkt, wie sehr Sie jonglieren.

Und jetzt stellen Sie sich vor, dass Sie zu allen möglichen Nachtstunden aus dem Schlaf gerissen würden, um sich dann mit gereizten Menschen in unvorteilhafter Kleidung in einem luftdicht geschlossenen kleinen Schutzraum zusammenzudrängen. Dass Sie auch tagsüber alle paar Stunden ohne Vorwarnung alles stehen und liegen lassen und in den selben Raum rennen müssen. Dass Sie dort eine halbe Stunde ausharren müssen, in den Ohren ein unbestimmbares, fürchterliches Grollen und gewaltige Einschläge, die bis ins Mark erschüttern.

Nach jedem Alarm dürfen Sie sich nur kurz schütteln, um dann, möglichst unbeirrt, mit Ihren täglichen Verrichtungen fortzufahren – obwohl wenige Kilometer entfernt ganze Wohnviertel in Schutt und Asche gelegt worden sind. Sie verdrängen die Gedanken an diejenigen, die dieses Mal nicht überlebt haben. Sie blenden die Angst aus, dass es beim nächsten Mal Sie selbst treffen könnte, um weiter funktionieren zu können.

Ja, ich weiss, es waren "nur" zwei Wochen. Anderswo leben Menschen Monate oder gar Jahre unter solchen Bedingungen. Aber mir hat es gereicht, um meine Prioritäten zurechtzurücken.

Ich empfand es heute Morgen, nach zwei Wochen zu Hause, im Krieg, geradezu wunderbar, ins Büro zu fahren. Willkommen, schöner Montagmorgen! Wie aufregend, eine volle Arbeitswoche im Büro vor mir zu haben, was immer sie bringen würde! Was für ein wohltuend lebendiger Montagmorgenverkehr! Was für ein komfortables, klimatisiertes, ruhiges Büro! Wie aufregend, den Computer hochzufahren und die Software zu begrüssen! Was für eine fantastische Kaffeemaschine! Freundliche, gut gelaunte Kolleginnen und Kollegen! Und dann erst das Mittagessen in der Kantine! Einfach köstlich, ohne dass ich auch nur einen Finger hätte rühren müssen!

Was für ein großartiger Wochenanfang!
Was für ein wunderbarer Montag!




Sonntag, 29. Juni 2025

Freitag nach dem Krieg




Meine Schwiegermutter überrascht uns mit einem leuchtend roten Haarschopf! Die radikale Änderung ist auf ein missglücktes Experiment zurückzuführen. Bis vor Kurzem noch dezent in blond-grau, wirkt die neue Haarfarbe wie ein Feueralarm.

Am Freitag treffen wir uns bei der quirligen 85-Jährigen zum gemeinsamen Essen. Auch Eyals Brüder, meine Schwägerin sowie mehrere Enkelkinder sind da. Alle amüsieren sich über das Missgeschick und vor allem über die schockierten Gesichter der Gäste, die ihre Überraschung kaum verbergen können.
Ich selbst muss beim ersten Anblick kurz schlucken. Dann versichere ich jedoch höflich, dass ihr die neue Farbe eigentlich ganz gut steht. Nur meine Schwägerin nimmt wie immer kein Blatt vor den Mund. "Bist du verrückt? So kannst du unmöglich auf die Strasse gehen!" Alle lachen über die gnadenlose, doch gut gemeinte Ehrlichkeit. Und wir schmunzeln über die "verrückte alte Frau", die auch vor den roten Haaren schon als etwas meschugge galt. Und sie? Sie freut sich über die vielen Gäste, sorgt dafür, dass niemand hungrig bleibt, kümmert sich einen Dreck um ihr Aussehen und was ihre Angehörigen darüber denken — und lacht mit.
Überhaupt lachen wir viel an diesem Freitag.

Dieses Essen hätte vor zwei Wochen stattfinden sollen. Doch dann kam der Krieg mit dem Iran — ein unerwartetes, plötzlich losbrechendes Inferno. Eine Steigerung der eh schon kaum erträglichen, andauernden Kriegssituation. Meine Schwiegermutter wurde für zwölf Tage zu meinem Schwager gebracht, wo sie vielleicht nicht sicherer, doch wenigstens nicht alleine war. 

Jetzt, zwei Wochen, mehrere Tausend Sirenenalarme (verteilt über das ganze Land), etwa 25 Einschläge, 28 israelische Todesopfer, Hunderte Verletzte, unzählige Obdachlose und immense Zerstörung später, ist diese Phase des Krieges vorbei.
Der Krieg endete am Dienstagmorgen in einem bedrohlichen Crescendo von Raketensalven, die uns dreimal innerhalb einer Stunde in die Schutzräume trieben.
Danach wurde es ruhig.

Schon am selben Abend verkündete der israelische Zivilschutz die Rückkehr zur Normalität: Die Schulkinder durften wenige Tage vor Beginn der Sommerferien wieder zur Schule gehen, wir kehrten zurück an die Arbeit, öffentliche Veranstaltungen waren wieder ohne Einschränkung erlaubt.

Auch ich könnte seither wieder ins Büro fahren, doch ich brauche noch Zeit, um den Schrecken abzuschütteln und vom Überlebensmodus ins bewusste Leben zurückzufinden. Die Raketen aus dem Iran, mit ihren mehrere Hundert Kilogramm schweren Sprengköpfen, die ausschliesslich auf israelische Zivilisten abgefeuert wurden, sind eine Bedrohung völlig anderer Dimension als die "gewohnten" Raketen aus Gaza, dem Jemen oder dem Libanon. 
Erst nach Inkrafttreten der Waffenruhe wird mir bewusst, wie angespannt ich in diesen zwölf Tagen war. Jedes Zuschlagen einer Tür, jedes aufheulende Motorrad lässt mich zusammenzucken. Doch auch das Ausbleiben der Alarme, die plötzliche Stille, ist unheimlich. Lianne läuft seit Tagen murmelnd durchs Haus: "Kein Alarm — ich kann es nicht glauben — kein Alarm."

Ich lese fieberhaft Nachrichten, Analysen, Kommentare. Millionen frischgebackene Nahost-Experten und wilde Spekulanten überfluten die Medien. Wie stark ist das iranische Atomprogramm getroffen? Welche Auswirkungen wird Israels Präventivschlag auf die Weltordnung haben? Welche geopolitischen Folgen zeichnen sich ab? Vielleicht stehen historische Veränderungen bevor. Vielleicht auch nicht. 
Ich suche nach einem letzten Strohhalm, der mir die quälende Frage erleichtern könnte, ob mein Dasein in dieser niemals zur Ruhe kommenden Kriegsregion noch erträglich und zu meistern ist. 
Doch ich werde nicht klüger. Die Meinungen klaffen tief auseinander, die Analysen widersprechen sich stündlich. Die Lage ist unüberschaubar. Nichts vermag zu trösten.

Im Gegenteil. Schmerzlich bestätigt sich: Die Welt ist von Israel besessen — und nicht etwa im Guten. Eine Art kollektive Obsession herrscht in der westlichen Welt. Totaler Realitätsverlust und Ignoranz gegenüber der realen Bedrohung bilden den Boden für einen düsteren Anti-Israel-Rausch. Je mehr ich lese, desto tiefer öffnet sich der Abgrund der Ungeheuerlichkeiten.

Ich nehme mir also wieder einmal vor, mich nur auf mich selbst und meine Familie zu konzentrieren. Die wenigen Dinge aufzuspüren, die ich beeinflussen kann. Alles andere macht mich nur wahnsinnig. Alles andere muss gehen.


Schließlich holen wir am Freitag, mit zweiwöchiger Verspätung, das gemeinsame Essen nach. Niemand spricht vom Krieg. Alle wirken erleichtert: Wir leben. Wir haben ein Dach über dem Kopf. Wir lachen. Schon lange habe ich diese Familie nicht mehr so locker und fröhlich erlebt. Sogar das T-Shirt meines Schwiegersohnes wird zum Gegenstand einer heiteren Debatte: Ist es nun violett? Braun? Oder doch auberginefarben? Oder sind wir alle farbenblind?

Nur etwas ist gewiss: Die Haare meiner Schwiegermutter sind knallrot.




Donnerstag, 19. Juni 2025

Im Keim erstickter Optimismus

Der Wecker weckt mich nach fast sieben Stunden ununterbrochenem, süssem Schlaf. So viel und gut schlafen oft nicht einmal Menschen in friedlicheren Regionen. Der Tipp, nachts das Handy auf Flugmodus zu stellen, ist Gold wert. So schweigt mein Telefon auch während den Vorwarnungen nach Mitternacht, auf welche in unserem Dorf prompt kein Sirenenalarm folgt. Die Alarme in den Nachbardörfern höre ich dank des geschlossenen Fensters auch nicht.

Gestern war es tagsüber relativ ruhig und schon stellt sich bei mir heute Morgen ein vorsichtiger Optimismus ein. Die Anweisungen des israelischen Zivilschutz-Kommandos sind leicht gelockert worden, Zusammenkünfte von bis 30 Personen sind wieder erlaubt, die Schulen bleiben jedoch weiterhin geschlossen.

Nach einigen Tagen Pause vom Sport fahre ich kurz nach 6 Uhr dreissig zum CrossFit-Training im Nachbardorf. Die Sonne ist schon vor einer Stunde aufgegangen, aber der Horizont präsentiert sich noch in leuchtendem Rosa und Hellblau. Das Radio spielt ein mitreissendes israelisches Lied, ich drehe die Lautstärke auf und singe mit. Es ist das erste Mal seit Tagen, dass ich unser Dorf verlasse. Ich bin in bester Stimmung und fast bereit, die Aussage betreffend meiner Liebe zu Israel aus meinem letzten Blogbeitrag zurückzunehmen. Wenn das alles war, denke ich schon fast übermütig und vielleicht ein bisschen naiv, war es auszuhalten.

Um Punkt 7 Uhr beginnt der CrossFit-Trainer das heutige Training zu erklären. Um 7:02 schrillen in wunderbarer Koordination alle zur Seite gelegten Handys: Vorwarnung! Wir müssen uns in die Nähe eines Schutzraumes begeben. Der nächste Bunker liegt zwei Strassen entfernt. Wir sind zwar sportlich, aber jetzt gerade hat keiner der Trainierenden Lust auf einen 700-Meter-Sprint. So fahren wir mit den Autos zum öffentlichen Schutzraum des Quartiers. Die Hartnäckigen unter uns führen auf dem Rasen vor dem Bunkereingang unbeirrt das Aufwärmprogramm fort: Hampelmänner, Kniebeugen, Rumpfbeugen. Die Alarmsirenen erlösen uns, jetzt ist es Zeit, in den unterirdischen Bunkerraum hinunterzusteigen.

Etwa dreissig Menschen drängen sich zu dieser frühen Stunde in den 30 Quadratmeter grossen fensterlosen Raum. Jemand hat vorgesorgt, Matten liegen auf dem Boden, es gibt wenige Sitzmöglichkeiten, Wasserflaschen, einen Ventilator. Das Quartier am Dorfrand ist bei Joggern beliebt und so stossen weitere schwitzende Menschen in Sportkleidung zu uns. Den Bewohnern des Quartiers scheint die Abwechslung willkommen zu sein, sie mustern uns aufmerksam. Nur eine religiöse Frau hebt ihre Augen keinen Augenblick von ihrem Gebetbuch. Ein älteres Paar sitzt in einer Ecke auf ihren mitgebrachten Campingstühlen. Sie schwelgen mit geschlossenen Augen in Erinnerungen an bessere Zeiten. Man sieht den Schutzsuchenden an, dass sie aus dem Schlaf gerissen worden sind. Ein sehr umsorgter Junge liegt in einem Liegestuhl und wird von den Eltern sorgfältig zugedeckt, um den ungerechten Schlafunterbruch so angenehm wie möglich zu gestalten. Zwei arabische Gartenarbeiter fühlen sich vielleicht etwas deplatziert, aber keiner beachtet sie. Einige Hunde drücken sich beunruhigt an ihre Besitzer. Ein gutgelauntes Baby freut sich über den unerwarteten Ausflug mit seinem Vater, es lacht uns alle an. Ich setzte mich auf den Boden. Von draussen sind starke Booms vernehmbar.

Eine Viertelstunde später steigen wir nach oben und fahren zurück zum Trainingsraum. Wir schütteln die verwirrenden apokalyptischen Gefühle von uns ab und einigen uns auf ein verkürztes Training für die verbleibende halbe Stunde. Die Nachrichtenjunkies unter uns gucken jedoch zuerst in ihre Handys. 

Einige der Raketen trafen zivile Ziele, andere verfehlten oder konnten abgeschossen werden. Die eingeschlagenen Raketen haben große Zerstörungen zufolge. Es gab Einschläge in Wohn- und Geschäftsvierteln in Holon und Ramat Gan und vor allem wurde das Soroka-Krankenhaus in Berscheba direkt getroffen. Mindestens 60 Menschen wurden verletzt, das Krankenhaus muss evakuiert werden. 




Erst später, im Laufe des Tages, merke ich, wie sehr mir der Schrecken dieses Morgens in den Gliedern sitzt. Ich versuche zu arbeiten, bin aber vollkommen unkoordiniert und vergesslich. Nur Schmerztabletten verschaffen mir etwas Linderung gegen die verspannten Glieder.

In dem ganzen Chaos gibt es auch einige erfreuliche Nachrichten: Eine Freundin konnte mit ihren zwei Kindern Plätze auf einem Passagierschiff nach Israel ergattern. Wegen der Flugsperre ist die Familie vor einer Woche in Rumänien stecken geblieben und dann nach Zypern geflogen. Sie befinden sich in diesen Stunden auf der Heimreise.

Ach Israel! Wo sonst noch lassen sich Tausende auf Wartelisten setzen, um mit Rettungsflügen und -Schiffen in ein Land gebracht zu werden, in welchem mehrmals täglich lebensbedrohliche Raketen einschlagen? 



Dienstag, 17. Juni 2025

Hundert Sorgen weniger



Auf Instagram stosse ich auf ein Video von Menschen beim Rheinschwimmen im sommerlichen Basel. Dutzende, die sich treiben lassen. Ihre Köpfe erscheinen nur als kleine farbige Punkte, doch ich weiss, dass die Schwimmenden in diesem Moment glücklich sind. Eine weiss eingeblendete Zahl zählt rückwärts von 100 bis 0 und suggeriert, wie sich in dem zauberhaften Nass hundert Sorgen im Nichts auflösen, bis die Badenden sorgenfrei bei der nächsten Rheinbrücke aus dem Wasser steigen.

Nachts um halb eins nähert sich Israel eine weitere Raketensalve aus dem Iran. Die Vorwarnungen auf dem Handy wecken mich erneut aus dem Tiefschlaf, doch die Sirenen in unserem Dorf bleiben ruhig. Ich habe das jetzt kapiert: Keine Sirene bedeutet – kein Rennen in den Schutzraum. Man muss die Handywarnungen einfach ignorieren. Doch ich bin, etwa eine Stunde nachdem ich mich schlafen gelegt habe, hellwach. 
Drehe mich schlaflos im Bett.

Denke an die Badenden in Basel. Die Bilder haben mich in meinem verwundbarsten Inneren getroffen. Ich sehne mich so sehr danach, mich in einem kühlen Schweizer Fluss treiben und dabei alle Sorgen und Ängste wegspülen zu lassen. Erfrischt und grenzenlos erleichtert aus dem Wasser zu steigen.

Tut mir leid, einst geliebtes Land Israel: Es ist aus zwischen uns. Ich habe mich entliebt. Ich bezweifle, dass wir uns einst eine Partnerschaft bis zum Tod versprochen haben. Mag sein, dass es feige ist, sich in schlechten Zeiten abzuwenden. Doch ich bin erschöpft, ich kann nicht mehr. Ich muss weg, nach Basel.

Aber der Flugverkehr ist gesperrt, so bleibt mir das Dilemma Gehen oder Bleiben erspart. 
Es gibt keinen Ausweg, ich muss da durch. 

So bleibe ich da, mit einer immensen, schmerzlichen Sehnsucht nach einer anderen, einer sorgenfreien Welt.





Montag, 16. Juni 2025

Kleinkram

Schon wieder sitzen wir nachts um halb drei Uhr im Schutzraum, obwohl es gar nicht nötig wäre. Wenn man schläft, sind die Warnnachrichten auf dem Handy wirklich verwirrend. Vorwarnungen, Warnungen der Regionen der persönlichen Wahl, Echtzeit-Warnungen vor Ort. Das Handy zirpt alle paar Minuten wie wild, ich schrecke auf und steuere noch schlafend in Richtung Schutzraum. Vor lauter Gezirpe merke ich gar nicht, dass ich keine Sirenen gehört habe. Wer besteht schon morgens um halb drei im Tiefschlaf einen Intelligenztest? Aber nicht nur ich bin verwirrt. Mitglieder der Gruppe unseres Wohnortes diskutieren am Morgen danach auf Facebook lebhaft, ob die Sirenen bei uns wirklich geheult haben oder nicht, denn wir hören auch die Sirenen der Nachbardörfer.

Alle paar Stunden heulen die Sirenen aber auch bei uns tatsächlich, vor allem nachts. Nur etwa neunzig Prozent der Raketen aus dem Iran werden abgefangen. Die eintreffenden Geschosse richten oft grossen Schaden an. Fast jeden Morgen wachen wir jetzt zu Nachrichten über Tote und Verletzte auf.

Viele Geschäfte sind geschlossen.
Im Supermarkt gibt es keine Eier mehr.

Die Hochzeit des Sohnes unserer guten Freunde wird auf unbekannte Zeit verschoben. Die Anzüge und festlichen Kleider hängen wartend im Schrank.

Zehntausende Israelis stecken wegen der Flugunterbrechung im Ausland fest und umgekehrt können ausländische Reisende nicht wegfliegen. Viele sammeln sich in Zypern oder Griechenland, in der Hoffnung, dass es dort Rettungsflüge oder andere Möglichkeiten geben wird, nach Israel zurückzukehren. Doch die Hotels sind ausgebucht, die Übernachtungsmöglichkeiten müssen Nacht für Nacht neu erkämpft werden. Unterdessen warten Kinder oder andere Familienmitglieder in Israel. Auf Facebook bilden sich Gruppen Verzweifelter, die sich in Reisegruppen organisieren: In Zypern werden Plätze nach Israel auf zwielichtigen Yachten offeriert, andere suchen Skipper für gemeinsam gemietete Segelboote, wieder andere wollen Israel auf dem Landweg über Jordanien oder den Sinai verlassen.

Man wird angehalten, nicht zur Arbeit zu fahren und in der Nähe von Schutzräumen zu bleiben. Wir sind fünf erwachsene Personen im Haus, die versuchen, irgendeine Routine aufrechtzuerhalten. Jeder sucht sich für die Arbeit im Heimbüro ein ruhiges Eckchen. Nur Lianne ist frustriert und verängstigt, als temporär angestellte Schulassistentin ist sie wieder einmal fristlos arbeitslos. Dazu kommen die Ängste vor den Raketen, dem Vernichtungswut des Mullah-Regimes und die ungewissen Zukunftsaussichten.

Alle wollen essen. Ich bin ständig am Putzen, organisieren, aufräumen. Dabei fühle ich mich völlig gelähmt. Die Situation ist apokalyptisch.

Am Nachmittag wagt das junge Paar eine Reise in ihre Wohnung in Tel-Aviv, um Kleider und einen weiteren Computer-Bildschirm zu holen. Sie staunen über die leergefegten Strassen und die freien Parkplätze im Überfluss. Aber kaum kommen sie an, schrillen die Sirenen. Sie lassen das Auto stehen und laufen in den nächstliegenden öffentlichen Schutzraum, zusammen mit Dutzenden Nachbarn, Kleinkindern und deren zahlreichen Haustieren im Schlepptau. Die unangenehme Erfahrung bewegt sie, früher zu uns zurückzufahren als geplant. Sie treten gerade ein, als es auch bei uns losgeht. Wir suchen erneut gemeinsam den Schutzraum auf. Trotz geschlossener Eisentüre hören wir die lauten Booms der verschiedenen Abwehrsysteme, Fenster und Wände rütteln.

Aber das ist alles Kleinkram. Wir sind froh, unversehrt zu sein. Die Situation ist ernst. Mit diesen Raketen ist nicht zu spassen. Jede Nacht gibt es Einschläge mit zahlreichen Verletzten. Wohnhäuser werden getroffen und brechen zusammen. Viele Menschen können nur noch tot geborgen werden.



Ein LKW-Fahrer macht Gebrauch von einem transportablen Schtutzraum






Samstag, 14. Juni 2025

Lagebericht

Gerade als ich denke, dass es nichts mehr zu schreiben gibt, weil uns der monotone Alltag wieder hat, geht der Wahnsinn von Neuem und erst richtig los. Das Spektakel hat seinen Auftakt in der Nacht vom Donnerstag auf Freitag mit einer Reihe verwirrender Alarme: Zuerst zerreissen die Alarmsirenen in der Nachbarschaft die Ruhe der Nacht, dann gehen verschiedene, markdurchdringende Alarmtöne auf dem Handy los. Es sind nicht die bekannten Alarme der Heimatfront-App, die vor Raketen aus dem Jemen, dem Libanon oder aus Gaza warnen, sondern besonders beunruhigende Push-Alarme. Sie erreichen alle Handys, auch bei Leuten, die die App der Heimatfront gar nicht heruntergeladen haben (das ist an sich schon beunruhigend). Wir können die seltsamen, grellen Handy-Notwarnungen nicht einordnen und so finden wir uns Mitten in der Nacht im Schutzraum wieder, nur um kurz danach herauszufinden, dass das gar nicht nötig wäre. Eyals Bruder ruft an, um uns mitzuteilen, dass Israel einen lange geplanten Präventivschlag gegen iranische Atom- und Militäranlagen begonnen hat. Die Lage scheint ernst zu sein, der Bruder telefoniert Mitten in der Nacht aus dem Auto. Auf dem Beifahrersitz befindet sich meine Schwiegermutter. Sie ist aus dem Bett gerissen worden, um die kommenden Tage bei der Familie zu verbringen. In ihrer Wohnung in Netanya müsste die verwitwete 85-jährige sechs Stockwerke hinuntersteigen, um bei Alarm den einzigen Schutzraum des Mehrfamilienhauses aufzusuchen. 

Zu uns kommen im Verlaufe des Freitags die Frischvermählten aus Tel-Aviv. Wer kann, verlässt die Stadt im Zentrum, die das bevorzugte Ziel für die Raketenangriffe der barbarischen Despoten aus dem Iran ist. Ausserdem verfügen viele Wohnungen in den älteren Gebäuden in Tel-Aviv über keine eigenen Schutzräume und die Bewohner müssen bei Alarm in die öffentlichen Bunker rennen.


Unser eigener Schutzraum wurde in friedlicheren Zeiten zu einem Arbeitszimmer umfunktioniert, er ist klein und eng. Aber notfalls finden einige Personen der Wand entlang Platz. Wir haben Stühle hineingestellt, Wasserflaschen, Handybatterien und Notlampen.

In der Nacht auf Samstag feuert der Iran mehrere Salven ballistischer Raketen auf die israelische Zivilbevölkerung ab. Immer wieder reissen uns die Sirenen aus dem Schlaf.
Am Morgen erfahren wir, dass einige der Raketen nicht abgewehrt werden konnten. E
s gibt Tote, viele Verletzte und beträchtlichen Sachschaden.


Der Samstag verläuft ruhig, vielleicht aufgrund des schiitischen Feiertags im Iran. Wir betreiben die perfekte Realitätsflucht: Den ganzen Tag gehen Freunde der Kinder ein und aus. Sie sitzen im Garten zusammen, unterhalten sich, essen und trinken und spielen mit ihren Kindern. Die unerwartete familiäre Quality-time ist erfreulich, doch die Anspannung bleibt. Ist es die Ruhe vor dem Sturm? 

Am Shabbatende richten wir für die offizielle Durchsage des Armeesprechers den TV-Projektor in der Stube ein. Diese Woche findet kein Unterricht statt und nur als unentbehrlich eingestufte Organisationen dürfen arbeiten. Der Luftraum bleibt bis auf Weiteres geschlossen, der Flugbetrieb ist eingestellt. Genaue Anweisungen für das Verhalten bei Alarm werden durchgegeben. Was erwartet uns diese Nacht?

Ich bete, dass wir alle geschützt bleiben und dass niemand zu Schaden kommt. Doch vor allem hoffe ich von ganzem Herzen auf den Erfolg der militärischen Massnahmen und dass sie nicht nur der Sicherheit Israels dienen, sondern auch dem Wunsch des iranischen Volkes nach Freiheit entgegenkommen werden.


Wir haben Angst schlafen zu gehen. Gerade ist wieder eine Vorwarnung eingetroffen, dass weitere Raketensalven unterwegs sind. Vor dem nächsten Alarm drücke ich noch schnell auf "Beitrag veröffentlichen".