Bei Angriffen aus dem Libanon werden am Sonntag in der Grenzortschaft Kfar Juval im Norden Israels zwei Menschen von Panzerabwehrraketen der Hisbollah direkt getroffen und getötet. Ganz offensichtlich hat die Evakuierung der Menschen im Norden Israels gute Gründe. Die Raketenangriffe sind nicht zu verniedlichen.
Am Montag informiert die IDF über einen umfangreichen Truppenabzug aus dem Gazastreifen, aufgrund des "Übergangs zu einer fokussierteren Phase". Kaum sind die Truppen abgezogen, erfolgt ein intensiver Raketenangriff auf die israelische Stadt Sderot. Der Raketenhagel erfolgt genau aus dem Gebiet in Gaza, aus welchem die IDF soeben abgezogen ist. Etwa 50 Raketen feuert die Hamas ab – vermutlich feiern sie nach dem Abzug ihren Sieg über die Israelis.
In Ra'anana, einer nahegelegenen Stadt die ich öfters besuche, verüben zwei Palästinenser eine kombinierte Ramm- und Messerattacke im Stadtzentrum. Mit gestohlenen Autos rammen sie erbarmungslos Kinder, die nach Schulschluss an einer Bushaltestation warten. 17 Menschen werden verletzt, die meisten davon Kinder, ein 16-Jähriger wird schwer verletzt. Eine Frau wird bei dem Angriff getötet. Wir sind uns an die Terrorattacken gewöhnt – aber so unverfroren im Kernland Israels? Und gegen Kinder? Es ist wirklich furchtbar, wenn man um Kinder auf dem Schulweg Angst haben muss.
Es ist weiterhin nicht sympathisch hier. Ich bin nicht sehr zuversichtlich, was den Ausgang dieses Krieges anbetrifft. Laut einer offiziellen Quelle aus den USA sind bisher nur etwa ein Drittel der Hamas-Terroristen vernichtet worden und die Terrorguppe verfügt auch jetzt noch über ein Waffenarsenal, das mindestens für zwei weitere Monate ausreichen kann. In den Nachrichten höre ich aber gerade, dass über ein weiteres Geiselabkommen und ein Ende des Krieges verhandelt wird. Die Vorstellungen über das Ziel des Krieges sind widersprüchlich, und noch viel mehr Verwirrung scheint darüber zu herrschen, wie es erreicht werden soll.
Zusätzlich zu den Bedrohungen von aussen schwebt die Uneinigkeit des israelischen Volkes wie eine grosse schwarze Wolke über uns. Meines Erachtens sind viele Israelis politisch völlig verblendet und nicht in der Lage, den wirklichen Feind zu erkennen. So kann man die Probleme, die ja wirklich fast unlösbar sind, nicht angehen.
Auch betreffend der Zukunftsvision für Gaza sind das israelische Volk und auch die Regierung tief gespalten. Präsident Biden lässt verlauten, dass eine zukünftige Lösung einen palästinensischen Staat wird miteinbeziehen müssen. Aber mir schwant Übles – mit oder ohne palästinensischen Staat. Ich mag nicht an die Zukunft hier im Nahen Osten denken. Ich befürchte, dass die Chance für ein islamisches Kalifat anstelle des Staates Israel immer konkreter wird.
Ein Blick in die Zukunft:
Es ist an der Zeit, wieder einmal im Kreise der Familie die Idee, auszuwandern auf den Tisch zu bringen. Schliesslich haben wir alle rote Pässe...
Die Kinder fantasieren sofort begeistert mit. Doch bei näherem Hinsehen hält das Projekt dem Test der Realität nicht stand. Nur mir, als gebürtige Schweizerin, würde es wahrscheinlich nicht allzu schwer fallen, wieder in der Schweiz zu leben – wenn auch schweren Herzens. Bei meinem global organisierten Arbeitgeber arbeiten die meisten Mitarbeiter von zu Hause und es könnte eine beträchtliche Weile dauern, bis die zuständigen Personen überhaupt bemerken, dass mein Computer einige Tausend Kilometer weiter westlich steht als angenommen – und bis dann wäre ich vielleicht flugs auch schon in Rente. Aber abgesehen von mir könnte ein Neuanfang für die weiteren Familienmitglieder sehr schwierig werden. Die Partner, die Freunde, die Sprache, die Arbeit – die Kinder und der Ehemann sind hier in Israel verwurzelt. Und uns aufzuteilen? Einige von uns dort in Sicherheit, die anderen da in Lebensgefahr?
Was meinst du – frage ich Eyal angesichts der immer brenzliger werdenden Lage mit dem Iran – werden wir den richtigen Zeitpunkt erkennen, um diesen Schritt zu tun? Wahrscheinlich erst zu spät, meint er nüchtern. Damit ist das Projekt wieder bis auf Weiteres begraben und wir gehen dazu über, den möglichen Ankauf eines Generators zur Stromerzeugung für den Ernstfall zu besprechen.
Ein Blick in die Vergangenheit:
Als die Familie meiner Schwiegermutter 1951 aus dem Irak nach Israel kam, war der Neuanfang bestimmt auch kein Vergnügen. Um so mehr, da ihnen von den Vorfahren seit Generationen ein Land beschrieben wurde, in dem Milch und Honig fliessen. Abgesehen von einigen in die Kleidersäume eingenähten Schmuckstücken musste die Familie allen Besitz in Bagdad zurücklassen. Die Schlüssel zum grossen Haus deponierten sie bei den Nachbarn – auf Nimmerwiedersehen. Die älteren der elf Kinder waren schon einige Monate zuvor im Rahmen von Jugendbewegungen nach Israel gereist und von verschiedenen Kibbutzim als billige Arbeitskräfte sofort eingespannt worden. Mit den jüngeren Kindern lebte die Familie zwei Jahre aus Koffern, schlief auf Feldbetten, wohnte in Zelten. Meine Schwiegermutter kann bis heute kaum lesen. Im Irak war die jüdische Schule schon Jahre vor ihrer Ausreise geschlossen und im jungen Israel besuchte sie als Elf- und Zwölfjährige improvisierten Unterricht mit den Erst- und Zweitklässlern der Auffangslager. Der Vater, der in Bagdad ein angesehener Mann war, versuchte mit Gelegenheitsarbeiten die Familie durchzubringen. Irgendeine Altersvorsorge gab es natürlich nicht und die älteren Söhne, die die Familie hätten unterstützen können, entfielen aus obengenannten Gründen.
Trotz allem ist meine Schwiegermutter heute überzeugt, dass die Jahre in den Zelten der Übergangslager die glücklichsten ihres Lebens waren.
Solche Superlative erwarte ich natürlich nicht, auch nicht ein Land in dem Milch und Honig fließen. Aber etwas weniger verwöhnt sollte man vielleicht schon sein, wenn man irgendwo eine neue Zukunft aufbauen will. Ich werde die Möglichkeit jedenfalls weiterhin erwägen und hoffe, dass wir den Zeitpunkt, uns rechtzeitig abzusetzen, doch nicht verpassen.
Ein Blick aus dem Fenster:
Ich bin zutiefst traurig, dass ich diese Zeilen überhaupt schreibe. Leider entsprechen sie meinem Eindruck von unserer Situation. Die Lage wird von Tag zu Tag brenzliger. Das jüdische "sich-nicht-unterkriegen-lassen“, der sprichwörtliche Optimismus, auch wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird, das ist nicht mehr da. Es ist Uneinigkeiten, Hass und Zwietracht unter den Israelis gewichen. Das Gefühl vom Ende einer Ära lässt sich nicht mehr abschütteln. Die Gründung des Staates Israels war bestimmt ein berechtigter, vielleicht aber ein gescheiterter Versuch. Das Scheitern könnte schlussendlich, zusammen mit den Bedrohungen von aussen, auch auf Uneinigkeiten unter den Juden selbst zurückzuführen sein, wie schon bei der Zerstörung des ersten und des zweiten Tempels.
5 Kommentare:
Danke für diese Berichte und Einschätzungen. Ich wünsche Euch, dass Ihr den rechten Zeitpunkt erkennt. Über die Situation der irakischen Juden habe ich ein sehr beeindruckendes Buch von Mona Yahia gelesen: Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom.
Danke für den Buchtipp! Das Buch werde ich gerne lesen. Ich kann auch "Der Taubenzüchter von Bagdad" von Eli Amir empfehlen, oder den daraus entstandenen Film "Farewell Baghdad".
Was soll ich sagen ...dein Bericht macht mich ebenfalls zutiefst traurig. Ich glaube leider, dass du mit deiner Einschätzung der Situation Recht haben könntest. Um der grossen Gefahr von aussen standzuhalten, müsste zumindest Einigkeit im Innern bestehen. Viel Kraft für alles, was kommt - auch um schwierige Entscheidungen zu treffen.
"In jener Nacht wehte ein heißer Wüstenwind. Obwohl wir eigentlich längst auf dem Dach hätten schlafen sollen, wie wir es in Bagdad im Sommer immer zu pflegen, mußte meine Mutter die Betten erst noch herauftragen ... fürchtete die späten, den Himmel über der Stadt rot färbenden Frühlingsstürme . ... Mein Vater fürchtete andere Stürme."
So beginnt dieses von Dir empfohlene wunderbare Buch, ich las es vor mehr als 20 Jahren und habe es nun aus dem Regal gezogen...
Ja, es standen andere Stürme bevor.
Und es weht auch jetzt ein Sturm, dessen volle Kraft noch nicht ganz entwickelt zu sein scheint - und gebe der Ewige, dass er sehr bald zu einem nur noch lauen Lüftchen wird und Ihr in Sicherheit, wenn schon nicht in Frieden mit Euren Nachbarn leben könnt.
Stürme kenne ich von der Nordsee, ihre Kraft ist verheerend, beängstigend... aber das Gefühl, dass mir ein noch schlimmerer Sturm bevorsteht, davon blieb ich verschont ... nur ein leises Unbehagen an politischen Entscheidungen ... Nichts im Vergleich mit Euren Befürchtungen, die einen so realen Hintergrund haben.
Bleibt behütet!
Danke, liebe Schreibschaukel und Rika. Ja wir werden Kraft brauchen.
Liebe Rika, meine Schwiegermutter spricht oft davon, dass sie im Sommer unter freiem Himmel auf dem Dach geschlafen haben. Um den Nachfahren das Haus zu veranschaulichen, und bestimmt auch aus Sehnsucht, haben sie und ihre Geschwister ein Modell davon gebaut.
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