Ein Rauschzustand
Wir fahren ohne jegliches Zeitgefühl durch die Nacht. Der kalte Fahrtwind schlägt mir ins Gesicht, ich lege meine Wange an die Jacke vor mir, die würzig-herb nach Leder, After-Shave und Motorenöl riecht. Die Nacht riecht kühl. Schon viele Stunden sind wir unterwegs, ohne anzuhalten. Während ich mich schläfrig an den Rücken vor mir schmiege, lenkt der Fahrer immer noch mit grosser Konzentration und Geschicklichkeit seine Maschine. Wir fahren schnell, der Motor unter mir vibriert und ich vibriere mit. Meine Beine, mein Rumpf, meine Arme, mein Kopf: Eine Masse in vibrierender Schwingung, der ich nicht entkommen kann. Ich sitze schon so lange auf diesem Motorrad, dass ich eins mit ihm geworden bin. Ich weiss nicht mehr, wo meine Beine aufhören und wo die Maschine anfängt. Das stetige Surren verbindet die Maschine, meinen Körper und den des Fahrers und vereint uns zu einem einzigen, zusammenhängenden Gegenstand, der durch die nächtliche Landschaft fliegt.
Der Motorenlärm, der schon seit Stunden in meinen Ohren dröhnt und die Dunkelheit, die mich umgibt, isolieren mich von der Welt. Ich nehme nichts mehr wahr, höre nur dieses Knattern– sonst nichts. Sehe nur dieses dunkle Schwarz und den Lichtkegel unseres Scheinwerfers – sonst nichts.
Ab und zu streift uns der Lichtstrahl eines entgegenkommenden Fahrzeugs und holt uns für Sekundenbruchteile in die Wirklichkeit zurück. Dann herrscht wieder Dunkelheit.
Wenn ich meinen Rücken etwas strecke, meinen Kopf etwas hebe und über die Schultern vor mir hinweg blicke, sehe ich ein surrealistisches Bild, als wäre ich im Drogenrausch: Die Bäume und Hügel in der Ferne bewegen sich und tanzen im Rythmus unserer Fahrt einen geheimnisvollen Reigen. Immer wieder nähert sich die gespenstige Form eines Baumes mit erschreckender Geschwindigkeit unserer Maschine, nur um kurz vor uns eine andere Richtung einzuschlagen. Im Scheinwerferlicht glitzert der Tau auf den Wiesen. Der Nebel taucht die Landschaft in eine diffuse Verschwommenheit, die nach jeder Kurve jäh von unserem grellen Licht durchbrochen und bis zur nächsten Biegung beleuchtet wird.
Ein heller Streifen am Horizont kündet den baldigen Sonnenaufgang an.
Ich schliesse meine Augen und habe Angst vor dem Anhalten, dem Ankommen, dem Aufwachen.
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Was macht eine Blogschreiberin, wenn sie keine Ideen hat? Sie gräbt an einem verregneten Wochenende alte Schulaufsätze aus. Zum Beispiel diesen, zum Thema „Rauschzustand“ (was sich der Deutschlehrer dabei nur gedacht haben mag?). Geschrieben vor etwa 35 Jahren, als ich 17 oder 18 Jahre alt war. Bestnote erhalten, ohne jeglichen Kommentar.
An die Fahrt, die mich zu diesem Aufsatz inspiriert hatte, kann ich mich noch gut erinnern. Auch an den Motorradfahrer U., obwohl sich unsere Lebensgeraden nur an einem minimalen Schnittpunkt kreuzten.
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