Donnerstag, 30. Januar 2020

A whole new world

Ich bin wohl nicht die Einzige, die erst mal aufatmet, wenn erwachsene Kinder ausziehen.

Aus Sivans fast leergeräumtem und vor wenigen Tagen verlassenem Zimmer fällt ein Lichtstrahl. Jemand singt. Ich öffne leise die nur angelehnte Türe und überrasche Lianne im Zimmer ihrer älteren Schwester. Bis vor wenigen Tagen riskierte sie ihr Leben, wenn sie dieses ohne Erlaubnis betrat. Nun kann sie sich endlich nach Lust und Laune darin bewegen, hat schrankenlosen Zugang zu einer bis anhin verschlossenen Welt aus Bett, Kommode, Schrank und hinterlassenem Firlefanz. Sie breitet die Kleider ihrer älteren Schwester auf deren verwaistem Bett aus und probiert alles durch. Auch wenn es sich dabei nur um ausgetragene und unmodische Fetzen handeln kann (alles andere hat Sivan mitgenommen), strahlt Lianne, als befände sie sich mit unbeschränktem Kreditguthaben in einer Luxusboutique. Dann tanzt sie in den Kleidern ihrer Schwester um deren Bett und singt frohlockend den Abschluss-Song aus dem Disney Film Aladdin:

A whole new world
A new fantastic point of view
No one to tell us, "No"
Or where to go
Or say we're only dreaming
A whole new world
A dazzling place I never knew
But when I'm way up here
It's crystal clear
That now I'm in a whole new world with you

Unbelievable sights
Indescribable feeling
Soaring, tumbling, freewheeling
Through an endless diamond sky

A whole new world
A new fantastic point of view…

Dienstag, 28. Januar 2020

Vorbei

Der Winter lässt dieses Jahr nicht mit sich spassen, er meint es ernst mit uns. Wir wappnen uns gegen Flutregen, Hagel und Stürme und – für israelische Verhältnisse – frostige Kälte. Endlich hole ich meine wärmsten Pullover aus dem Schrank. All die Decken, Mäntel, Stiefel und Schirme, die monate- oder vielleicht jahrelang in einer vergessenen Ecke Staub angesammelt haben, sind plötzlich nicht nur knapp daseinsberechtigt, sondern heissbegehrt.
Unser Haus, wie die meisten in Israel, verfügt über keine ordentliche Heizung und ist schlecht isoliert. Eine erbarmungslose Kälte nimmt das Gebäude ab Ende Dezember in den eisigen Griff, sie kriecht in alle Mauern und Ritzen, steigt aus dem Boden und fällt von der Decke und lässt unsere Bettlaken erstarren, bis es im März wieder etwas wärmer wird. Mit Müh und Not versuchen wir, uns mit der Klimaanlage vor dem Erfrieren zu schützen, aber diese Wärme ist trügerisch.
Die niedrigste Temperatur, die unser einziges Innenthermometer (auf der Fernbedienung der Klimaanlage), erfassen kann, ist 17 Grad und genau diese Zahl zeigt es nun seit Wochen unverändert an.
Die Formel, mit der man die Temperatur in unserem Haus aber mehr oder weniger genau berechnen kann, so schätze ich, ist der Mittelwert zwischen der Minimal- und der Höchst-Aussentemperatur dieser Saison. Das ergibt so etwa um die 12 Grad. Im oberen Stockwerk, unter dem Dach, sind es eher noch einige Grad weniger.
Natürlich haben diese eisigen Temperaturen auch ihr Gutes. Man braucht zum Beispiel keinen Kühlschrank. Während ich im Sommer aufgrund des heissfeuchten tropischen Klimas sogar Mehl, Reis und Griess im Tiefkühlfach aufbewahre, kann ich jetzt auch leicht Verderbliches wie Milch, Joghurt und Butter einfach in der Küche stehen lassen.

Trotz Kälte und starkem Regen herrscht bei uns einige Tage hitzige Aufregung: Am vergangenen Donnerstag hat auch das letzte unserer drei Kinder die Schwelle zur Volljährigkeit offiziell überschritten. Sie feiert diesen bedeutenden Tag gebührlich mit einer Party, die sie zusammen mit Freundinnen organisiert. Mehr als hundert Gäste werden erwartet und die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Die Mädchen organisieren einen DJ, einen Fotografen, alkoholische Getränke (die sie jetzt legal konsumieren dürfen), Gästelisten und – im letzten Moment noch – ein Lokal, in welchem der Anlass stattfinden soll. Die ältere Schwester und eine Freundin werden als Türsteher eingespannt. Ich hingegen bin an diesem Tag gerade sehr beschäftigt und so ergibt es sich, dass ich Lianne an ihrem 18. Geburtstag gar nicht zu Gesicht bekomme. Ich trete aber auch ganz bewusst einen Schritt zurück und mische mich bei den Vorbereitungen nicht ein. Ich helfe nur, wo ich ausdrücklich um Hilfe gebeten werde (Auto, Kreditkarte...). Das ist wohl besser so, denn obwohl man von den offiziell Volljährigen etwas Verantwortungsgefühl erwarten würde, organisieren sie für meinen Geschmack alles sehr improvisiert. Zum Glück haben die 15 Flaschen Wodka und 60 Flaschen Bier, die nach dem Einkaufen im Flur vergessen worden sind, bei Partyanfang die perfekte Temperatur, obwohl sie keine Sekunde im Kühlschrank verbracht haben.
Als ich mich schlussendlich doch noch erkenntlich zeige und nach Partyende, morgens um eins Lianne anbiete, sie abzuholen, artet diese Aktion prompt in ein Fiasko aus, wir streiten – sie mit den Nerven am Ende und ich zu ungewohnter Stunde übermüdet – und fahren nach Hause, während im Auto eisiges Schweigen herrscht.

Ein trauriger Freitag bricht an. Der Regen prasselt unaufhörlich auf unser Vordach. Es soll der kälteste Tag dieses Jahres werden, im Hermongebirge im Norden türmt sich der Schnee.
Unsere älteste Tochter Sivan zügelt heute ins Nachbardorf, wo sie für einige Monate das Studio von Freunden untermietet. Diese Zeit will sie auch nutzen, um eine Wohnung für sich selbst zu suchen und möglichst nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Sie hat die Nase voll davon, jeden Morgen im Bad auf ihre älter werdenden Eltern zu treffen. Ich finde das berechtigt und absolut in Ordnung. Sie packt einige Taschen und Koffer, räumt ihr Zimmer auf und ist weg.

Nach diesem stürmischen Wochenende geniesse ich am Samstagabend bei einem heissen Tee die Ruhe im Haus. Doch, gestehe ich mir ein, auch ich habe diese Ruhe in letzter Zeit immer sehnsüchtiger erwartet. Endlich keine verwüstet zurückgelassene Dusche mehr. Keine von vorne ausgedruckte Zahnpastatuben. Weniger Wäsche. Wieder etwas mehr Zeit für mich selbst. Ich freue mich, dass meine Kinder selbständige, lebensfreudige junge Menschen geworden sind, die neugierig ihre Wege gehen und ich freue mich auf etwas ruhigere und vielleicht einfachere Tage für mich. Und doch bedeuten diese schwerwiegenden Schritte auch, dass ich wieder etwas älter geworden bin. Dass ein weiterer Teil meines Lebens unwiederbringlich hinter mir liegt. Wieder ist ein Abschnitt – einer der Bedeutendsten vielleicht – abgeschlossen.

Zum Geburtstag bastle ich für Lianne einen Traumfänger

Donnerstag, 19. Dezember 2019

Achtzehn

Als ich mich heute nach dem Morgensport und der Dusche in der Firma anziehe, fische ich mit Schrecken eine Jeans meiner Tochter aus der am Vorabend gepackten Sporttasche. Keine Ahnung, wie das Stück in meinen Schrank gelangt ist, aber nun bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als es anzuziehen. Die Jeans passt mir zwar in der Grösse, aber – auf dem rechten Knie prangt ein grosses ausgefranstes Loch! Nun ist eine helle Jeans an sich schon nicht mit dem Büro-Knigge vereinbar, aber eine Löcherjeans ist ein absolutes No Go! Ich ziehe die Jeans ungläubig an. Zum Glück habe ich in meiner Handtasche einen Notfallfaden und Nadel. Damit werde ich später das Loch aufs Ärgste zusammenschnürpfen. 

Dann wird im Radio, als ich vom Gebäude, in welcher sich die Dusche befindet, zum Hauptparkplatz fahre, das Lied „Just the two of us“ von Grover Washington Jr. abgespielt. Das passt zur Jeans! Heute will mich mein Schicksal jung halten. Ich drehe sofort die Lautstärke auf und fange im Sitzen an zu tanzen. Ich liebe diesen Song und er wird für immer Erinnerungen an geschwänzte Französisch-Stunden während meiner Gymi-Zeit hervorrufen. Unser Fussweg vom Bahnhof zum Gymnasium führte in Basel am Atlantis vorbei und die Versuchung, dort am Morgen bei einem Kaffee noch etwas zu verweilen und mit dem Kellner zu schäkern, anstatt beim Franz-Unterricht mit dem Schlaf zu kämpfen, war oft zu gross. Das Lokal stank am Morgen zwar nach abgestandenem Rauch, aber das war uns egal: Kaffee, ein Gipfeli, eine Münze in die Jukebox und immer dasselbe Lied: Just the two of us, we can make it if we try.... Der Französischlehrer konnte uns erst mal für eine Weile gestohlen bleiben.

Ich habe den Parkplatz schon lange erreicht, bleibe aber sitzen und geniesse die Musik. Ich lasse mein blankes Knie frech aus der Löcherjeans blitzen, schliesse die Augen und bin für einige Minuten wieder achtzehn Jahre alt.

Dann stehe ich auf, ziehe die Jeans über dem Knie notdürftigst zusammen, schüttle die jugendliche Aura ab und schreite mit ernster Miene auf das Bürogebäude zu, um dort den heutigen Tag in Angriff zu nehmen.


Donnerstag, 5. Dezember 2019

Karambolage und Karambola

Wer sich mit jungen Menschen umgibt, rostet nicht. Man bleibt gezwungenerweise spontan. Meine drei Lieblinge sind schon fast flügge, aber ich schätze es, meine geistige Mobilität weiterhin auf Trab zu halten – obwohl die oft ins Absurde gipfelnden Spontansituationen manchmal recht viel von mir abverlangen.

Seinen misslungenen Anfang nimmt dieser Tag eigentlich schon mitten in der Nacht. Es regnet!, ruft Eyal und ich schrecke aus dem Tiefschlaf. Tatsächlich, starker Regen prasselt auf das Vordach, und da es dieses Jahr noch kaum geregnet hat, ist das wohl ein plausibler Grund, mich zu wecken.
Die Wäsche! Die Sorge um die Wäsche lässt mich in einer knappen Sekunde zum Balkon rasen. Nun stehe ich nachts um zwei im Pyjama im Regen und versuche, die Hosen und T-Shirts zu retten. Aber jeder Rettungsversuch kommt zu spät. Alles ist nass. Ich resigniere und krieche schnell wieder unter die warme Decke, bin nun aber hellwach und kann nicht mehr einschlafen. Meine Gedanken fahren Achterbahn und sind nicht zu bremsen. Erst als ich nach mehr als einer Stunde einige Seiten lese, nicke ich endlich wieder ein.

Nach dieser verpfuschten Nacht belohne ich mich am Morgen mit einem gemütlichen Frühstück. Zum Glück habe ich schon gestern geplant, diesen Morgen zuhause zu verbringen, mich um den vernachlässigten Haushalt zu kümmern und erst am Mittag ins Büro zu fahren.

Eyal hilft mir noch schnell, den voll behängten Wäscheständer ins trockene Haus zu tragen, dann muss er auf den Bus, um den Zug zu erreichen. Gerade jetzt klingelt im unteren Stock mein Handy. Seltsam... So früh am morgen ruft mich kaum jemand an, vor allem, wenn (fast) alle Familienmitglieder zu Hause sind. Nur Lianne, die erst vor wenigen Monaten die Fahrprüfung bestanden hat, ist mit dem Auto unterwegs zur Schule. Natürlich schiessen mir sofort Schreckgedanken durch den Kopf, aber das Handy liegt nun einmal unten und ich balanciere im oberen Stock gerade einen triefenden Wäscheständer von Zimmer zu Zimmer und somit bleibt der Anruf unbeantwortet. Kurz darauf klingelt Eyals Handy. Er steht schon in der Türe. Ich horche auf. Wer ist am Apparat? Wie befürchtet – es ist Lianne. Jemand hat sie auf der Strasse angefahren. Sie klingt aufgeregt, ist aber unversehrt, ebenso die Kolleginnen. Das Auto? Ja, es hat eine ordentliche Beule, aber es fährt. Sie muss jetzt schnellstens weiter, meint sie, sonst kommt sie zu spät zur Schule. Nein! ruft Eyal unmissverständlich ins Telefon, du kannst nicht mit einem eben angefahrenen Auto einfach weiterfahren!

Ich befürchte, dass mein gemütliches Frühstück nun abrupt zu Ende sein könnte und trinke eiligst noch einen kräftigen Schluck Kaffee. Dann fahren Eyal und ich los, um Lianne zu treffen und den Schaden zu begutachten. Die Beule ist beträchtlich, die Stossstange verbeult, der Scheinwerfer zerbrochen, die Motorhaube eingestaucht, irgendetwas scheppert. Aber es fährt!, insistiert Lianne und versteht absolut nicht, warum sie nicht zur Schule fahren kann. Erst als eines der drei Mädchen die Erlaubnis der Eltern erhält, mit ihrem Auto zu fahren, lässt sie von uns ab. Eyal, der unterdessen den Bus verpasst hat, disponiert seine Besprechungen für diesen Morgen um und fährt den Wagen in die Garage.

Zu Hause lese ich meine Mails durch, dann mache ich mich ans Kochen. Im Moment ist zwar nur noch Sivan da, aber bestimmt werden am Nachmittag, wenn ich im Büro bin, alle wieder hungrig zu Hause eintreffen. Ausserdem sollte ich die Dusche putzen, das ist für mich immer ein guter Grund zum viel kreativeren Kochen. Als zwei Stunden später drei Töpfe mit heissen Gerichten auf dem Herd stehen, taucht Sivan auf, die heute ihren studienfreien Tag hat. Sie schnuppert etwas in der Küche herum, meldet sich dann aber ab – sie geht mit Freundinnen ausgiebig frühstücken. Ein Esskandidat weniger!

Zum Putzen ist es nun schon etwas spät, also wische ich im Badezimmer nur den ärgsten Dreck weg. Das kombiniere ich gleich mit einer Dusche, denn es geht auf Mittag zu und ich sollte bald im Büro sein. Als ich gedankenverloren das Haar shamponiere, klingelt im Schlafzimmer erneut mein Handy. Nicht schon wieder! Bitte keine weiteren Katastrophen mehr! Doch ich habe mein Haar noch nicht fertig gewaschen, als es abermals klingelt. Besorgt begebe ich mich – ohne mich abzutrocknen – ins Schlafzimmer und hinterlasse dabei ein kleines Rinnsal. Lianne ist am Telefon. Unerwarteterweise ist sie unten an der Türe und hat keinen Schlüssel, weil sie diesen mit dem Wagen Eyal überlassen hat. Ich schreie ins Telefon, dass ich unmöglich nackt und mit Shampoo auf dem Kopf die Türe öffnen kann. Dann hänge ich auf und dusche weiter. Beim Einseifen singe ich, um das wiederholte und sehr energische Pochen im unteren Stock nicht zu hören. Nun, ich werde diese Dusche wohl kurz halten müssen. Während das Pochen an der Türe lauter wird, spüle ich im Eilverfahren Seife und Shampoo ab, wickle mich schnell in ein Frottiertuch ein und produziere ein weiteres Bächlein über die Treppe und durch das ganze Haus nach unten. Kurz bevor sie zu bersten droht, öffne ich die Türe und Lianne stürmt verärgert herein. Sie schreit mich an, dass ihre Freundinnen warten und dass es eine Frechheit sei, sie so lange draussen stehen zu lassen. Ja, sie sind von der Schule getürmt, denn dort gab es heute nur langweilige Vorträge. Na wunderbar – dieser Tag wäre uns einiges billiger gekommen, hätte sie das am Morgen um acht schon gewusst! Sie eilt in ihr Zimmer, kramt ihre Geldbörse hervor und stürmt an mir vorbei. Tschüss, ruft sie, wir gehen Pizza essen! In der Küche steckt sie noch schnell ihre Nase in einen der Töpfe und scheint eine Sekunde lang zu zögern. Dann rauscht sie davon.

Da stehe ich begossener Pudel nun, verärgert über die Wasserpfützen und frustriert, weil ich vergebens gekocht habe. Ja, so ist das bei uns: entweder ist der Kühlschrank leer und alle pilgern hungrig um den kalten Herd, kaum dass ich aus dem Büro komme oder ich koche mit Hingabe und alle sind aus irgendeinem Grund schon satt. Es geht einfach nie auf.

Ich reibe mich und die Dusche trocken. Während ich mich anziehe, ertönt aus der Küche Mädchengelächter und das Scheppern von Geschirr...


Jemand offeriert in der Büroküche frische Karambola aus eigenem Anbau


Donnerstag, 15. August 2019

Ferien für Ältere

Eines der Privilegien, die man wieder zu schätzen weiss, wenn die Kinder älter werden, ist die Freiheit, Urlaub zu machen, wann immer man will und vor allem, ohne die Schulferien zu berücksichtigen. Die Sommerferien sind in Israel viel zu lang: acht Wochen für die Unterstufe und zehn Wochen für Mittel- und Oberstufe. Das ist insbesondere äusserst unpraktisch, da in fast allen israelischen Familien beide Elternteile meist Vollzeit arbeiten.

Im Juli, sofort mit Ferienanfang, werden die Kinderlein in alle nur erdenkbaren Ferienprogramme gesteckt. Danach werden die Grosseltern eingespannt. Oder die Eltern wechseln sich ab und machen den Spagat zwischen Arbeit und Kinderbetreuung. Und dann, wenn alle Stricke reissen, wenn alle Betreuungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind bis zum geht nicht mehr, wenn die Grosseltern vor Erschöpfung nicht mehr ans Telefon und die Kinder vor lauter TV-, PC- und Handy-Konsum die Wände hochgehen, dann verreisen in den letzten zwei bis drei Augustwochen fast alle israelischen Familien irgendwohin ins Ausland. 

Meine Arbeitskollegin verreist erst nächste Woche.
Bis dann turnen die Kinder im Flur und zwischen den Büros herum...
Jetzt werden die sonst immer überall verstopften Strassen von Tag zu Tag leerer. An der Arbeit bleibt es in den Fluren und den Büros gespenstisch ruhig. Die Läden sind leer. Die Innenstädte flimmern vor Hitze und wirken ausgestorben wie amerikanische Western-Kaffs nach dem Goldrausch.

Am Ben-Gurion Flughafen aber herrscht das Chaos. Tausende Menschen reisen stündlich ein und aus. Als an einem Tag dieser Woche das Gepäcksortiersystem ausfällt, wird der Flughafen zum Super-GAU. Ein Durcheinander von Kindern und Koffern, soweit das Auge reicht! Im Internet kursieren Videos von Kinderscharen, die auf dem Spannteppich im Terminal zwischen Gepäckstapeln Fussball spielen, während die Eltern und das Personal stundenlang verzweifelt Koffer und Taschen zusammensuchen.  

In Israel ist umweltbewusstes Weniger-Fliegen noch nicht aktuell. Kein Wunder, denn Urlaub im Inland käme für eine mehrköpfige Familie meist teurer zu stehen als im Ausland. Und dann natürlich die Bruthitze, die von Tag zu Tag unerträglicher wird! Hier gibt es keine kühlenden Berge und Seen – deshalb muss es eine Auslandreise sein.



Und ich? Ich bleibe da! Und ich fahre hin, wo mein Herz begehrt, zu jeder Tageszeit, ohne über mögliche (oder eher ziemlich wahrscheinliche) Staus nachzudenken, wie an den übrigen 50 Wochen im Jahr. Ich kann mich endlich sogar zwischen 7 und 8 Uhr morgens auf die Strasse wagen und bin trotzdem sensationelle zwölf Minuten später schon im (ruhigen) Büro. Die Strassen gehören mir! DAS sind Ferien!

Montag, 1. Juli 2019

Einmal Reis für Hundert Personen bitte

Unsere Jüngste verbringt zehn Tage im Pfadfinder-Sommerlager und wir melden uns, wie viele andere Eltern, freiwillig zum Helfen. Wir ergattern die beliebte Wochenendschicht (8 Stunden) und finden uns am Samstag kurz nach Mittag im Lager ein. Dieses findet unter freiem Himmel statt, denn regnen wird es zu dieser Jahreszeit mit absoluter Sicherheit nicht. Schatten ist hingegen in der Julihitze unbedingt notwendig und deshalb wird die Pfadfinderlagerstadt für die etwa 4000 Pfadfinder in einem lichten Wäldchen aufgebaut. In dem Wäldchen gibt es keine permanenten Gebäude, alles wird aus Pfählen, Seilen und Planen auf- und nach einer Woche wieder abgebaut. Nachdem wir das Haupteingangstor und die entsprechende Sicherheitskontrolle passiert haben, konsultieren wir den mehrfarbigen Plan mit der Aufteilung des Lagers in Sektoren. Der verhältnismässig kleine Stamm unseres Dorfes mit nur knapp 200 Mitgliedern liegt im Wald zuhinterst rechts – zum Glück gibt es ein Shuttletaxi!

An diesem ersten Wochenende befinden sich nur die älteren Zöglinge im Wald, welche das Lager aufbauen. Erst ab Montag treffen die jüngeren Kinder in das fertige Lager ein. Heute gleicht der Wald einem Ameisenhaufen: Überall krabbeln hunderte von Jugendlichen umher. Sie arbeiten mehr oder weniger fleissig inmitten von Bergen von Pfählen und halbfertigen Gebäuden. Als Aussenstehender ist es schwer erkenntlich, ob das Durcheinander hier irgendeinem System folgt, aber erstaunlicherweise steht und funktioniert das Lager mit all seinen Ökonomiegebäuden (Schlafsektor, Duschen, Esssektor, Küche, Spital, etc) nach mehreren Tagen intensiver Aufbauarbeit.


So wie die hier fotografierte Krankenstation sehen auch die Schlafzelte aus. Um das Ganze noch etwas kniffliger zu machen, liegt das Wäldchen an einem Abhang, so dass sehr gut geplant werden muss, wenn man beim Schlafen nicht im Schlafsack den Berg hinunter rollen will. Die Toitoi Toilette zum Beispiel, die ich bald einmal betreten muss, ist nicht sehr gut geplant: das Ding schaukelt bei jeder Bewegung und die bestialisch stinkende Masse im Loch schwappt bedrohlich von Seite zu Seite. Ich ergreife die Flucht und finde ein anderes WC, das auf ebenerem Gelände steht. Auch hier machen die Hitze und die Fliegen den Aufenthalt unerträglich und als ich die Toilette verlasse, empfinde ich die „frische“ Luft draussen trotz brütender Mittagshitze von über 30 Grad als angenehm kühlend.

Als wir eintreffen, steht immerhin die Feldküche – ebenfalls unter freiem Himmel – schon komplett und ist in Betrieb, denn essen müssen die fleissigen Arbeiter. Wir, sechs Erwachsene, werden zum Küchendienst eingeteilt. Für mich ist dies der erste Aufenthalt in einem Pfadilager und ich bin am Ende des Tages sehr überrascht, wie improvisiert hier alles ist. Trotzdem funktioniert alles irgendwie, anfallende Probleme und Zwischenfälle werden spontan und kreativ gelöst. So bin ich nun zum Beispiel umgehend für das Kochen der Madschadara (Reis mit Linsen) zum Abendessen zuständig, weil ich bei der Frage, wer kochen kann, nicht schnell genug weggeschaut habe. Ich weiss zwar wie man Reis kocht – aber für 100 Personen? Die anderen anwesenden Helfer behaupten aber, überhaupt nicht kochen zu können, deshalb hacken sie Zwiebeln und schnippeln Salat, spülen Geschirr und Pfannen, geben Essen aus und räumen Abfall weg. Ausserdem flicken sie den stotternden Kühlschrank, die immer wieder aussetzenden Ventilatoren und begleiten Kinder mit leichten Verletzungen, Mückenstichen oder Hitzschlägen in die Krankenaufnahme.


Nun denn – an die Arbeit! Reis mit Linsen für 100 Personen... Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich diese Mengen berechnen soll, aber der Gatte, der zwar nicht Kochen, aber ein bisschen Rechnen kann, hat schon ohne zu Zögern mehrere Kilopakete Reis und Linsen geöffnet, während ich noch immer irgendwie die Mengen einzuschätzen versuche. Auf offenem Gasfeuer und in einem Topf, der etwa so gross ist wie ich selbst brate ich Unmengen von Zwiebeln an und gebe dann die vorher eingeweichten Linsen und den Reis dazu. Weil der Topf jetzt zu zwei Dritteln voll ist wird das Rühren fast unmöglich und bald riecht es nach Angebranntem. Ich überspringe also spontan die Phase des Dünstens und gebe Wasser hinzu. Aber wieviel Wasser? Nachdem ich einige Krüge abgezählt habe, wird mir klar, dass hier zählen sinnlos ist und ich spritze das Wasser direkt mit dem Schlauch in die Pfanne. Dann noch Salz. Wieviel Salz? Keine Ahnung! Weil die Reis/Linsenmasse zu schwer ist und die untere Hälfte des Topfes ja sowieso nicht mehr umgerührt werden kann, kommt es jetzt auf ein bisschen mehr oder weniger auch nicht mehr an. Nun noch etwas mehr Wasser. Und noch ein bisschen Salz. Und dann bleibt nur noch beten! Bald köchelt es und eine knappe Stunde später ist der Reis gar und schmeckt gar nicht so schlecht. Jedenfalls die obere Schicht im Topf, was weiter unten los ist, werden wir hoffentlich gar nie in Erfahrung bringen...

Die "Küche"
Timing ist ein Fremdwort in einem israelischen Pfadilager. Weil unterdessen der Kuchen im Ofen viel länger braucht, als eingeschätzt, bleibt der Reis jetzt erst einmal stehen, bis die vorgekochten aber noch tiefgefrorenen Hühnerbrüste aufgewärmt werden können. Aber schlussendlich stehen die Töpfe mit angebranntem Reis, teilweise aufgewärmtem Fleisch, Salat mit Ameisen und versalzener Tehini auf der Ausgabe. Zum Dessert gibt es Schokoladekuchen aus einem Riesenblech, der auf der einen Seite nur wenige Millimeter hoch und verbrannt und auf der anderen Seite sechs Zentimeter hoch und noch nicht durchgebacken ist, entsprechend der abfallenden Lage des Ofens im Gelände. Aber den hungrigen Jugendlichen, die jetzt aus allen Ecken des Waldes eintreffen, schmeckt es!

Am Ende des Tages verstehe ich, dass das ganze Lager genau so abläuft wie diese Mahlzeit: Pi mal Handgelenk. Eine Welt, die von Kindern regiert und von wenigen Erwachsenen einigermassen in Schach gehalten wird. Kaum etwas ist geplant, aber alles funktioniert. Zwei Wochen später ist der Wald wieder sauber und leer. Alle fahren um einige Erfahrungen reicher nach Hause und wenn das Lager ohne grössere Zwischenfälle verlaufen ist, ist das Ziel erreicht und alle sind glücklich.

Zum Tagesabschluss: Sonnenuntergang am Waldrand

Sonntag, 12. Mai 2019

Die Fast-Gipfelbesteigung



Nickerchen im windgeschützten Winkel
Unsere letzte grosse Wanderung liegt schon mehr als eine Woche zurück, weil sie aber sehr abenteurlich und eindrücklich war, möchte ich doch noch darüber berichten und einige Fotos hochladen. 

Die Besteigung der Kreuzfahrerburg Nimrod in den Bergen von Galiläa, im Norden Israels am ersten Wandertag verläuft angenehm. Vielleicht etwas zu angenehm, so dass es plötzlich zu spät wird und wir den zweiten Teil der Wanderung auf den nächsten Tag verschieben.
Wir – eine Gruppe von etwa 30 Wanderern, inklusive einem dreiköpfigen Leiterteam – sind heute 14 km gegangen.












Jetzt gibt es eine heisse Suppe und dann sitzen wir um das Feuer, auf welchem ein grosser Eintopf vor sich hinköchelt. Jemand hat eine Gitarre mitgebracht, wir singen und trinken Wein.



Diese Aussicht vom "Bett" ist eine schlaflose Nacht wert
Die Übernachtung im Zelt ist, wie nicht anders erwartet, eine Katastrophe. Trotz Heuschnupfenmedikament ist meine Nase total verstopft sobald ich mich hinlege. Wenigstens ist mir nicht kalt, ich schliesse aber trotzdem die ganze Nacht kein Auge und zähle die Minuten bis zum Morgengrauen.

Am Morgen ist die Qual aber schnell vergessen – Schlaf ist für Schwächlinge! Stehend kann ich jetzt auch wieder atmen und ich ziehe vor dem Morgenkaffee los, um die Umgebung im Licht der aufgehenden Sonne zu fotografieren.






Bewölkter Sonnenaufgang

Am zweiten Tag machen wir uns an den Streckenabschnitt, der eigentlich für gestern geplant war und wandern in der Schlucht des Hazur-Flusses. Der Fluss mit seinem klaren kalten Wasser und den felsigen Becken erinnert an die Verzasca in der Schweiz, nur ist die Schlucht hier viel enger. Weil es im Winter ausgiebig geregnet hat und der Schnee auf dem Hermonberg immer noch schmilzt, führt der Fluss verhältnismässig viel Wasser und das Tal grünt und blüht in allen Farben.

Eine Wanderkollegin bricht sich beim Klettern auf den felsigen Pfaden den Knöchel, sie wird von einem Rettungsteam abtransportiert und so verzögert sich das Tagesprogramm um eine weitere lange Stunde. Gute Besserung!

Erst um die Mittagszeit, viel später als geplant, beginnen wir den Aufstieg auf den Hermonberg, den höchsten Berg Israels, dessen Gipfel auf 2,200 m wir eigentlich bis um 15 Uhr hätten erklimmen müssen, um mit dem letzten Sessellift gemütlich wieder die Talstation zu erreichen. Unser Wanderleiter lässt sich aber nicht so leicht aus der Ruhe bringen, er improvisiert spontan einfach weiter, ganz nach dem abenteurlichen Motto, dass sich immer irgendeine Lösung findet. In diesem Sinne kraxeln wir nun im Affentempo den Berg hoch. 

Das Mittagessen lassen wir aus. Als es schon 15 Uhr ist, sehe ich die nebelumhangene schneebedeckte Bergspitze immer noch in weiter Ferne. Nur nicht nachdenken! Weiterklettern! Nach zwei Stunden Aufstieg scheidet etwa ein Drittel der Gruppe aus und schlägt eine Abkürzung zur Talstation des Sesselliftes ein, wo der Bus auf uns wartet. Eyal und ich klettern mit dem Rest der Gruppe weiter. Nach einer weiteren Stunde mag aber einer von uns beiden – ich nenne keine Namen – nicht mehr. Er schwitzt und keucht und bleibt nach jedem Schritt immer länger stehen. Wie weit der Gipfel noch entfernt ist, können wir nicht mehr sehen, er liegt im Nebel. Ich bin auch ziemlich kaputt, aber mehr noch als der weitere Aufstieg gibt mir der Abstieg zu denken. Denn das gibt wabbelige Knie. Und je höher hinauf, desto weiter würden wir hinunter klettern müssen. Der letzte Sessellift ist schon lange ohne uns abgefahren.

Das Gebiet, in welchem wir uns nun befinden, ist wegen der Nähe zur Grenze unter strengster Kontrolle der israelischen Armee und darf ab 16 Uhr nicht mehr betreten werden. 
16 Uhr ist aber schon längst vorbei und der Gedanke, dass wir uns nun im Radar des Militärs befinden, ist auch nicht gerade beruhigend.
Als wir auf ein Strässchen treffen, geben Eyal und ich auf und machen uns mit zwei weiteren Wanderern etwa eine Stunde vor dem Gipfel an den Abstieg.




Wir treffen ein seltenes Exemplar einer einköpfigen Doppelkuh

Die furchtlosen Wanderkollegen, die trotz allem weiterklettern, werden dann auch wenige hundert Meter vor Erreichen des Gipfels vom Militär abgefangen. Der erboste Kommandant ist nicht gewilligt, den unerlaubten Aufenthalt der Wanderer weiter zu dulden. Als Eyal und ich gerade mit wackelnden Knien an der Talstation eintreffen, bekommt unser Bus eine Sondergenehmigung, mit Militärbegleitung ins Sperrgebiet und auf den Gipfel zu fahren, um die verspäteten Wanderer dort oben abzuholen.


Nur die Hälfte der Gruppe hatte es geschafft, den Gipfel zu erreichen, darunter der Leiter und sein Team, eine Triathlonistin, ein Marathonläufer und einige weitere Wanderer mit übermenschlichen Kräften.

Aber, der Leiter hatte recht gehabt – irgendeine Lösung gibt es immer.